Über den Film »The Tree of Life«

Wie viele Söhne hat Brad Pitt?

Nichts als Fragen: Terrence Malicks »The Tree of Life« entwickelt eine eigene visuelle Sprache. Auch wenn man die nicht wirklich versteht, ist das Ergebnis ein faszinierender Film.

Die Filmkritik ist am Ende, wie soll’s bloß weitergehen. So und so ähnlich lauten seit einiger Zeit die Titel der Symposien, auf denen es darum geht, dass die kritische Filmbetrachtung keinen angemessenen Platz mehr in der Welt findet. Denn für gute Texte gibt es immer weniger Geld, im Internet sind Dumpinglohn-Besprechungen zu finden und die Filmindustrie mochte die Kinokritik sowieso noch nie.
In welchem Zustand aber ist denn eigentlich das Kino? Da haben in den vergangenen 100 Jahren auch nur einige filmische Stereotypen überlebt: der Monsterfilm, der Thriller, der Frauenfilm, die flotte Komödie. Und natürlich: der große unverstandene Film.
Einen jährlichen Kriegsbericht zur Lage des Kinos bringt nicht zuletzt das Filmfestival in Cannes. Die Goldene Palme ist die ganz dicke Hausnummer – man bedenke: In diesem Jahr hieß der Jury-Präsident Robert de Niro. Und dieses Jahr hat der große unverstandene Film ­gewonnen: »The Tree of Life«.
Kennzeichen des großen unverstandenen Films ist zunächst einmal dies: Während die einen hineingehen und aus dem Schwärmen nicht mehr herauskommen, fluchen die anderen, was das denn gewesen sein soll. Keine Story, kein Plot, kein Drehbuch! Dafür Musik, und zwar ganz viel, aber eher so alte. Lady Gaga spielt jedenfalls nicht mit, sondern eher Brahms mit vollem Orchester. Und lichtdurchflutete Bilder en masse.
Es gibt hier zwar durchaus auch eine Rahmenhandlung, in der die Schauspieler das tun, was sie können: Es ist die Geschichte der Familie O’Brien, die in den sechziger Jahren einsetzt. Mr. O’Brien (Brad Pitt) ist irgendetwas zwischen Handelsvertreter und erfolgreichem Erfinder oder auch Leiter eines Kraftwerkes. Seine Frau (Jessica Chastain) hat zu Hause nicht allzu viel zu sagen, dafür zieht sie für jede Szene ein neues H&M-Kleid an. Und dann gibt’s Jack (Hunter McCracken), den ältesten Sohn. Der wird vom Vater gegängelt, bis er endgültig den Kontakt zu sich selbst verloren hat.
Der Alte ist sich aber sicher, im Sinne der von Gott aufgestellten amerikanischen Direktiven zu handeln: Nur der Starke kann sich durchsetzen. Seltsamerweise gilt das nur für das ältere Kind. Die Jüngeren werden weniger hart rangenommen.
So erleben wir also die Streitereien einer klassischen Kleinfamilie. Auch der Tod macht mit, in verschiedenen Rollen. Das Fundament für die Gegenwart ist gelegt: Jack begegnet uns Jahrzehnte später wieder, in Gestalt von Sean Penn, der unzufrieden mit seiner Ehefrau ist und den Kapitalismus schlimm findet, weil er darin einen Spitzenjob bekleidet.
Wie die Vergangenheit in die Zukunft ragt, dafür möchte der Film Bilder finden. Da gibt es nicht nur Ansichten von Bäumen – von ganz oben und von unten –, die Terrence Malicks Werk nun mal den Titel geben. Da wird man auch schon mal mit ins All genommen, und den Geschehnissen auf der Erde werden die des Universums gegenübergestellt. Im Vergleich ist die Küche der O’Briens klein.
Nebenbei erfährt man, dass es schon andere übellaunige Kreaturen auf der Erde gab. Die Dinosaurier waren solche. Und schon sind sie komplett ausgerottet.
Warum macht er oder sie – also Gott, die Natur oder der Regisseur – das nicht auch mit den O’Briens?
Sorry, der große unverstandene Film kennt eines nicht: Humor. »The Tree of Life«, der Baum des Lebens, das ist natürlich ein ganz starkes Bild, und – na, so ganz neu ist es na­türlich nicht. Aber gefährlich ist es: Denn in Kombination mit dem großen unverstandenen Film lädt dieser Topos doch zum Fabulieren ein. Drei Jahre hat Malick an diesem Film gedreht, 138 Minuten ist er lang. Da kann schon ­einiges passieren. Muss auch.
Die Familie O’Brien kennt man bald aus verschiedenen Blickwinkeln. Aus allen Blickwinkeln. Malick traut keinem seiner Bilder. Manchmal wird’s auch Kitsch. Läuft die elfengleiche Mutter wirklich barfuß über den nassen Rasen? Das Leben ist grad so leicht. Ist doch ein Klischee jetzt, oder? Tollen die Kinder wirklich so herum? Muss man den Frosch unbedingt an die Rakete binden? Oh, ausgelassene Kindheit! Und Scheiß-Amerika!
Einer gesellschaftskritischen Symphonie gleich breitet sich das Erlebte aus. Das ist die Kunst Malicks: Er filmt Fragen. Und wie ein Kind stellt der Film dieselbe Fragen mehrmals hintereinander. Es raunt die Bibel, es brummt der Urknall, es geht vom Anfang der Welt in die Gegenwart, ein Regie-Kniff, für den Spike Jonze in seinem Film »Adaptation« ein paar Sekunden braucht, hier sind’s 20 Minuten.
In einem Punkt unterscheidet sich »The Tree of Life« von anderen großen unverstandenen Filmen: In der Regel kann man wenigstens im Gespräch mit anderen nach dem Film rekons­truieren, was man gesehen hat. »Lost Highway« von David Lynch – der größte Regisseur großer unverstandener Filme – spielt irgendwie auf dem Mittelstreifen einer Autobahn, sein »Inland Empire« in der Nacht. Und selbst Malicks mul­tipler Film »The Thin Red Line« hat Figuren, die man einer Handlung zuordnen kann: Soldaten, die andere Soldaten erschießen.
Das Besondere an »The Tree of Life« aber ist, dass die Zuschauer diskutieren, ob sie bestimmte Dinge überhaupt gesehen haben oder nicht. Und zwar, ohne einen Konsens herstellen zu können.
So herrscht ganz große Uneinigkeit darüber, ob die O’Briens zwei oder drei Kinder haben. Der Verleih spricht von dreien, im Film sitzen aber immer nur zwei beim Abendbrot, um sich von Brad Pitt rundmachen zu lassen. Wo ist das dritte geblieben, und wie sieht es aus?
Auch soll es eine spielbestimmende Großmutter geben. Ihre Darstellerin heißt Fiona Shaw, und sie steht ganz oben auf der Aktivenliste. 50 Prozent der Zuschauer können sich hernach an diese Rolle nicht erinnern. Die anderen 50 Prozent sprechen von den Handlungen dieser Figur, als hätten sie einen komplett anderen Film gesehen.
Zu guter Letzt auch: Ist »The Tree of Life« ein rein »weißer« Film? Nicht eine afroamerikanische Figur tritt auf, scheint’s. Aber wie bei der Großmutter und Kind Nummer drei sind die Betrachter in dieser Frage völlig unterschiedlicher Meinung: Die einen können Szenen mit schwarzen Darstellern beschreiben, während die anderen dergleichen nicht wahrgenommen haben. Und das sind nur einige Beispiele.
Anti-lineare Erzählweise ist das, in Bestform: Alles, was aus einem Film heraus ein Eigenleben entwickelt, schießt über das reine Ziel der Vermarktung des Filmstoffes hinaus. »Für moderne Kinogänger ist ›The Tree of Life‹ eine Reise ohne Ende in ein unbekanntes Territorium, die zweifellos bei jedem Zuschauer einen einzigartigen Eindruck hinterlassen wird«, teilt der Verleih mit.
Stimmt absolut. Jeder sieht hier seinen ganz eigenen Film. Womit wir bei der Eingangsfrage wären: Wie ist der Zustand der Filmkritik? Ohne solche Filme jedenfalls nicht denkbar.
Wie ist der Zustand der Filmkunst? Preisverdächtig, wenn’s L’art-pour-l’art-Kino ist: Es hat keine Richtung und befindet sich am Anfang eines Jahrtausends schon im Fin-de-siècle-Zustand. Dann kommt Vater nach Hause, es gibt was hinter die Ohren. »The Tree of Life« ist ganz großes unverstandenes Kino.

»The Tree of Life« (USA 2011). Regie: Terrence Malick, Darsteller: Brad Pitt, Sean Penn, Jessica Chastain u.a. Kinostart: 16. Juni