Über palästinensische Flüchtlinge, die gegen das syrische Regime protestieren

Widerstand gegen den Widerstand

Das syrische Regime kann sich nur noch mit Gewalt an der Macht halten. Selbst palästinensische Flüchtlinge verweigern ihm nun die Unterstützung und rebellieren gegen ihre mit Präsident Bashar al-Assad kollaborierende Führung.

Einige Flüchtlinge bestätigten, dass es zu Befehlsverweigerungen gekommen sei. Den Angaben der in die Türkei Entkommenen zufolge waren die meisten der 120 in Jisr al-Shugour getöteten Polizisten Überläufer. Das syrische Regime bestreitet diese Version und nimmt den Tod der Polizisten zum Anlass für einen Angriff auf die Kleinstadt, bei dem auch Panzer und Hubschrauber eingesetzt werden.
Bislang scheinen Präsident Bashar al-Assad noch genügend loyale Truppen zur Verfügung zu stehen. Doch die seit März andauernden Unruhen haben sich mittlerweile auf das ganze Land ausgedehnt. Was mit dem Ruf nach Reformen begann, wurde zu einer Bewegung, die den Sturz des Regimes fordert. Hunderte Städte und Dörfer werden belagert, abgeschnitten von Telefon, Strom und Wasser.
Das Regime kann nur noch auf Gewalt zurückgreifen. Mittlerweile sind zwischen 1 100 und 1 500 Zivilisten getötet worden, und die Mär vom Kampf gegen bewaffnete islamistische Terrorgruppen nimmt in Syrien niemand ernst. Zudem hat sich in der Türkei eine Koalition der syrischen Opposition gebildet, in der Vertreter oppositioneller Gruppen und autonomer lokaler Komitees aktiv sind.

Doch das syrische Regime verfügt seit jeher über eine propagandistische Waffe, die es auch jetzt wieder einzusetzen versucht. Nachdem vorige Woche an der syrisch-israelischen Waffenstillstandslinie auf den Golanhöhen mehr als zehn jugendliche Demonstranten beim Versuch, die Sperranlagen zu durchbrechen, getötet und Hunderte verletzt worden waren, überschlugen sich die syrischen Zeitungen prompt in Verurteilungen der »Massaker« und »Verbrechen« Israels. Wie bereits Mitte Mai, als es am »Nakba-Tag« schon einmal Tote und Verletzte auf den Golanhöhen gegeben hatte, wurden die arabische Einheit und die geschlossene Front gegen den israelischen Feind beschworen. Zudem behauptete die Zeitung Tishreen, mehr als 500 000 Palästinenser würden in naher Zukunft gen Israel marschieren und die Grenzanlagen durchbrechen.
Noch am gleichen Tag wurde jedoch deutlich, dass die Propaganda des Regimes immer mehr an Wirkung verliert. Tatsächlich demons­trierten Zehntausende Palästinenser in den als Flüchtlingscamps deklarierten Vierteln, vor allem in Yarmuk, einem Stadtteil von Damaskus. Doch ihre Wut richtete sich vor allem gegen Assad und die bewaffneten palästinensischen Gruppen.
Als sich Repräsentanten der von Syrien und dem Iran finanzierten palästinensischen Organisationen in die Begräbniszüge für die im Golan getöteten Jugendlichen einreihen wollten und dabei Bilder des syrischen Präsidenten und Fahnen ihrer Organisationen mitführten, wurden sie von mehreren Hundert Demonstranten und Angehörigen der Opfer beschimpft und angegriffen. Die Bilder von Assad wurden zerrissen, die Politkader abgedrängt und attackiert. Tausende Demons­tranten riefen Parolen in Solidarität mit der syrischen Opposition und gegen die Führer anderer palästinensischer Gruppen.

»Das Volk will den Sturz der Fraktionen«, war eine der Parolen. Sie richtet sich gegen die syrische Koalition der »Zehn Fraktionen«, einen gegen die PLO und den Oslo-Prozess gerichteten Zusammenschluss von Hamas, Islamischem Jihad, der nur im Libanon und in Syrien relativ starken PFLP-GC und verschiedenen palästinensischen Splittergruppen. Repräsentanten der Hamas, darunter angeblich auch Khaled Meshal, waren gezwungen, Yarmuk zu verlassen.
Der Protest, so berichteten arabische Medien übereinstimmend, richtete sich vor allem gegen die Führung der Terrorgruppe PFLP-GC unter Ahmed Jibril, die für die Organisation und Koordination der Auseinandersetzung auf den Golanhöhen verantwortlich war. Mehrere Funktionäre wurden verletzt. Während sie zu fliehen versuchten, schossen ihre Leibwächter und Milizionäre der PFLP-GC in die Luft und auf die Jugendlichen. Demonstranten zündeten daraufhin die Zentrale der PFLP-GC und zahlreiche Fahrzeuge an. Milizionäre der Gruppe schossen auch während dieser Auseinandersetzung in die Menge unbewaffneter Demonstranten. Insgesamt kamen an diesem Tag 23 Menschen ums Leben, mehrere Dutzend wurden verletzt. Schließlich intervenierten syrische Repressionskräfte, die Funktionäre der PFLP-GC und anderer Fraktionen evakuierten.

Der Protest gegen die prosyrischen Milizen markiert einen seit längerem zu beobachtenden Wandel im politischen Bewusstsein vieler palästinensischer Flüchtlinge. Die Jugendlichen seien dazu gedrängt worden, in den Golan zu fahren und sich in die israelische Schusslinie zu begeben, so der Vorwurf. Ihr Tod sei von den Fraktionen und insbesondere der »Jibril-Gruppe« bewusst in Kauf genommen oder geplant worden, um der syrischen Führung, die die bewaffneten Organisationen seit Jahrzehnten strategisch ausnutzt, eine Entlastung zu verschaffen. Nur das Regime konnte es ermöglichen, dass Tausende Demonstranten trotz zahlreicher Straßensperren von Damaskus bis an die Grenze kamen.
Nicht einmal die Angehörigen der Opfer wollten in Yarmuk gegen Israel protestieren, sie beklagten vielmehr den »sinnlosen Tod« der Jugendlichen und den »Verkauf ihres Blutes« an Assad. Ein Kolumnist der panarabischen Zeitung al-Hayat meinte angesichts des Ereignisses gar, die »formale Logik« des Regimes sei zerbrochen, die Palästinenser hätten endgültig erkannt, dass die Gegnerschaft zum antiisraelischen Regime keineswegs einer Parteinahme für Israel gleichkomme.
Es steckt ein wahrer Kern in der Erklärung der PFLP-GC, die Attacke »unbekannter Auswärtiger« auf ihre Führer sei »ein Angriff auf den palästinensischen Widerstand«. Dass die Mehrheit der Palästinenser mit den Ideologien und Strategien der Polit- und Terrorgruppen gebrochen hat, wird nun offenbar auch in den »Flüchtlingscamps« deutlich. Bereits die sich bewusst unpolitisch und unideologisch gerierende selbstorganisierte Jugendbewegung insbesondere im Gaza-Streifen war ein Zeichen dieses Wandels, der sich auch in der Unbeliebtheit aller Parteien und Organisationen bei der palästinensischen Bevölkerung bemerkbar macht (Jungle World 10/11). Viele wollen nicht einer hehren Sache dienen, sondern schlicht und einfach ein besseres Leben. Zumindest das haben sie wohl mit den Jugendlichen in Syrien, Tunesien und Ägypten gemeinsam.