Auf zum Jackenzerrpogo!

Berlin Beatet Bestes. Folge 100. Belgrado: Belgrado (2011).

Disco Vietnam, Belgrado und Social Circkle spielen im Koma F. Leider ist es Disco Vietnams letzte Show. Es ist das Finale einer erfrischenden Berliner Hardcore-Band, die sich trotz ihres wütenden, ultra­schnellen Sounds selbst nie so ernst nahm. Ich bin mit einem Bekannten aus der Swingtanzszene verabredet. Der einzige junge Punk unter den Lindy Hoppern ist zum ersten Mal im Koma F. Nach Disco Vietnams Set betreten Belgrado aus Barcelona die kleine Kellerbühne. Das Konzert ist ausverkauft und offensichtlich sind viele Punks, auch viele weibliche, wegen dieser Band gekommen. Ich kenne die Gruppe nicht, aber was ich höre, trägt mich sofort zurück ins Jahr 1984. Eine meiner zwei Lieblingsplatten in dem Jahr war Xmal Deutschlands »Tocsin«. Post-Punk nennt man diese Musik heute oder manchmal auch Gothic. Xmal Deutschland kamen aus Hamburg und sangen auf Deutsch, schafften es aber dennoch, auf dem renommierten englischen Label 4AD zu veröffentlichen. »Tocsin« ist eine wirklich großartige Platte, die ich immer noch gern höre. Die Punks von Belgrado haben diesen eingängigen und tanzbaren Sound offensichtlich genau studiert, vor allem die Stimme der Sängerin lässt in mir unwillkürlich zarte nostalgische Regungen aufkommen. Was ungewöhnlich genug ist, denn obwohl ich mich viel mit alten Dingen beschäftige, lehne ich Nostalgie eigentlich ab. Ich hatte nie die geringste Sehnsucht, in einer anderen Zeit zu leben, und die Vergangenheit zu verklären, finde ich doof. Heute ist immer alles besser als früher, weil ich eben heute lebe.
Mitten in der Show von Belgrado entdecke ich in der dichtgedrängten Menge plötzlich meinen jungen Swingpunk. Oh nein, er schickt sich an, Pogo zu tanzen. Er findet sogar einen Mitstreiter. Hä, was ist denn jetzt? Streit. Mit einer Frau hinter ihm. Die Frau ist sehr wütend. Diskussion. Nicht während des Konzerts! Schnell gehe ich rüber und ziehe ihn weg. Später sagt er: »Mann, ich dachte, das wäre ein Punkkonzert! Da kann man doch wohl Pogo tanzen!« – »Ja, aber Belgrado spielen Popmusik.Warte mal, bis Social Circkle spielen.«
Genau denselben Anfängerfehler hatte ich gemacht, als Xmal Deutschland 1984 in der Hamburger Markthalle spielten. Bis zum Ende des Konzerts hatte sich unter einem Häufchen Punks die Stimmung so weit aufgeheizt, dass sie bei der Zugabe explodierte. Ich und ein anderer Punk machten Jackenzerrpogo, eine Art Pogopaartanz. Und knacks: Da hatte ich mir die Nase gebrochen. Jackenzerr­pogo habe ich seitdem nie wieder getanzt. Bei Social Circkle aus Baltimore bin ich trotzdem wieder mitten im Mob. Sie erinnern mich bei den melodischen Breaks an 7 Seconds. Deren LP »The Crew« war 1984 meine zweite Lieblingsplatte. Das Konzert im Koma F ist auch eine heimliche Release-Show für die selbstbetitelte Debüt-LP von Belgrado. Diese von Joy Division, Killing Joke und frühem englischen Peace-Punk inspirierte, düstere und poppige Post-Punk-Platte, empfehle ich hiermit wärmstens.