Über das Buch »Die kulturelle Unterscheidung« von W. F. Haug

Aber fein müssen sie sein!

W. F. Haug versucht sich an der Rehabilitierung der kulturellen Unterscheidungen.

Selbstbewusst blickt er drein, der Kaufmann in seinem Kontor, umgeben von Gegenständen wie Briefen, Waage, Siegel, die ihn als Angehörigen seiner Zunft ausweisen. Seine Garderobe ist aufwendig, vor ihm auf dem Tisch liegt eine Decke aus schwerem Tuch, darauf eine Vase mit Blumen. Der porträtierte Kaufmann heißt Georg Gisze und wurde von dem deutschen Renaissance-Maler Hans Holbein dem Jüngeren im Jahr 1532 gemalt. Vier Jahre später stand Holbein als Hofmaler in Diensten des englischen Königs Heinrich VIII.
Zu protzen hat der Kaufmann nicht nötig, auf dem Bild sind weder Ware noch Geld zu sehen. Er repräsentiert wohl die Tugenden seiner Zunft: eine distinguierte Haltung, Genauigkeit, Seriosität, könnte man meinen. Denn an der allzu offensichtlichen Zurschaustellung von Reichtum und Prestige erkennt man den Aufsteiger und gerade nicht den reich Geborenen.
Der Marxist Wolfgang Fritz Haug erkennt im Understatement des Georg Gisze den gekonnten Umgang mit der »Distinktionskultur«. Es handle sich hierbei zugleich um das Abbild eines Menschen, der sich »in seiner kulturellen Unterscheidung« zuletzt »selbst verwirklicht«.
Für Haug ist das berühmte Bildnis dermaßen beredt, dass er den Kaufmann auf das Cover seines neuen Buches hievte. Der Band mit dem Titel »Die kulturelle Unterscheidung« ist eine Sammlung kulturtheoretischer Aufsätze, die Haug in den vergangenen 30 Jahren verfasst hat. Das Buch versteht sich als Fortschreibung einer marxistischen Zeitdiagnose, die der emeritierte Philosophieprofessor der Freien Universität Berlin mit seinen Studien zur Warenästhetik und zum Hightech-Kapitalismus vorgelegt hat. Und noch ein weiteres Anliegen ist dem Werk deutlich anzumerken: Es will eingreifen in die kulturtheoretischen Auseinandersetzungen der Gegenwart. In diesen Debatten nämlich vermisst der Mitbegründer und -herausgeber der sozialphilosophischen Zeitschrift Das Argument einen Begriff des Kulturellen. So sind die ersten beiden Kapitel, die eigens für das Buch verfasst wurden, eine vehemente Abrechnung mit der »theoretischen Aushöhlung« der Begrifflichkeiten, die kennzeichnend sei für die Debatten der jüngsten Zeit.
Aber was ist das Kulturelle? Es hat mit der »Selbstverwirklichung« zu tun, die Haug dem Kaufmann exemplarisch zuschreibt. Kulturelle Unterscheidungen sind zunächst einfach solche Unterscheidungen, die einer Sache den Vorzug vor einer anderen geben: Briefe statt Goldkiste, holzvertäfeltes Zimmer statt ausladendem Gemach. Diese Unterscheidungen stehen Haug zufolge aber nicht in geheimen Diensten einer Distinktion, wie Pierre Bourdieu es beschrieben hat. Von dessen Kultursoziologie grenzt Haug sich explizit ab. Die kulturelle Unterscheidung tue sich nicht vor anderen hervor, sondern sei reiner Selbstzweck. Damit ist sie allerdings nicht mehr nur eine Bevorzugung des einen Gegenstands vor allen anderen, sondern sie ist für Haug auch etwas Gutes, zu Bewahrendes und nicht zuletzt etwas, das es theoretisch zu fassen gilt.
Haug lädt die »kulturelle Unterscheidung« also mächtig auf. Denn zum einen äußere sich in ihr das, was er »Selbstzweck« nennt. Und dieser sei an den »Anspruch auf erfülltes Leben« gekoppelt. Zum anderen stellt er sie ins Zentrum seiner Philosophie des Kulturellen. Ohne sich an der kulturellen Unterscheidung zu orientieren, könne es keine kritische Kulturtheorie geben. Während die Kultur sich vor allem auf der Grundlage der Produktionsverhältnisse verändere, sei das Kulturelle als tendenziell Autonomes zu begreifen. Es hebe auf die »konstituierende Macht im Verhältnis zur konstituierten Kultur« ab. Von der Kultur müsse »das Kulturelle als ihr Vorgängiges« abgegrenzt werden.
Auf dieser Grundlage sichtet er diverse kulturtheoretische Ansätze sowie kulturelle Phänomene. Die Mischung ist erstaunlich und manchmal auch verwirrend. So begegnet man etwa einem Exkurs zum »Kulturbegriff des DDR-Lehrbuches über Historischen Materialismus von 1976«, der kaum anders zu lesen ist denn als historisches Dokument. Gleiches gilt wohl auch für das »Volksuni-Konzept« von 1980. Andere Texte aus den achtziger Jahren allerdings, von Haug allesamt leicht aktualisiert, lesen sich überraschend zeitgemäß.
Gäbe es keine Datumsangabe, würde man vermutlich nicht gleich darauf kommen, dass die Ausführungen mit dem Titel »Fitness-Kulte in der Gegenwart« bereits ein Vierteljahrhundert alt sind. Schon 1987 sieht Haug hier einen »Subjektmodus« wirksam werden, der die Leute dazu treibt, psychisch und physisch »unermüdlich an sich zu arbeiten«. Vom neoliberalen Kapitalismus gefordert und forciert, sei Fitness letztlich nichts anderes als das selbstauferlegte Training, um als entfremdeter Konkurrent zu funktionieren. Der »Hightech-Kapitalismus«, schreibt Haug dann in einer aktualisierten Passage, schaffe einen »widersprüchlichen Zusammenhang von Lebensweise und Arbeitsweise«. Eine solche Veränderung von Arbeit und Leben hatte der marxistische Theoretiker und Gründer der Kommunistischen Partei Italiens, Antonio Gramsci, bereits im Übergang zum sogenannten Fordismus ausgemacht. Auf Gramsci bezieht sich Haug, der auch maßgeblich an der deutschen Übersetzung von dessen Hauptwerken beteiligt war, im gesamten Buch.
Schon Gramscis kulturtheoretische Überlegungen waren von der Verknüpfung von Wissenschaft und Politik geprägt. So sollte das, was über Kultur und das Kulturelle in Erfahrung zu bringen war, gleich eingespannt werden in eine »Politik des Kulturellen«. Damit sind weder bei Gramsci noch bei Haug kunst- und kulturpolitische Maßnahmen im engeren Sinne gemeint. Vielmehr geht es um das Ganze. Eine emanzipatorische »Politik des Kulturellen« nämlich sei die erste Form, »sich der Hegemoniefrage zu stellen«. Die Hegemoniefrage sei, anders als häufig unterstellt, nicht die Frage nach der Macht über staatliche Apparate. Sie frage stattdessen nach den dominanten Formen, in denen die Menschen denken und fühlen. Denn ohne »Gefühl und Wissen ineinanderzuarbeiten«, so Haug treffend, sei »keine Kultur der sozialen Befreiung denkbar«.
Dieses Festhalten an der »Politik des Kulturellen« ist politisch höchst lobenswert. Haugs Band ist nicht zuletzt deshalb ein gelungener Kontrapunkt zur entpolitisierten Kulturwissenschaft deutschsprachiger Provenienz. Theoretisch aber ist die Vorstellung des Kulturellen, das »vorgängig« und außerhalb des Sozialen liegen soll, eher bedenklich. Die widersprüchliche Verknüpfung von Arbeit und Leben, von der Haug selbst spricht, ist mit einem solch puristischen Verständnis des Kulturellen kaum zu fassen. Wieso sollte der Markenturnschuh nicht auch Ausdruck einer »erfüllten Lebensweise« sein, für die Haug so emphatisch eintritt? Und wer entscheidet auf welcher Grundlage, ob der Sportartikel eher für ein »erfülltes Leben« steht oder für Konsum und Warenästhetik? Und völlig unplausibel ist schließlich, dass ausgerechnet der großbürgerliche Kaufmann mit den fein gewählten Gegenständen, die er um sich gruppiert, nicht auch seinen Klassenstandpunkt markieren soll. Verwunderlich obendrein, dass gerade einer der wichtigsten marxistischen Theoretiker des deutschsprachigen Raumes in der bürgerlichen Repräsentation nur distinktionsfreie Selbstverwirklichung erkennen will.

W. F. Haug: Die kulturelle Unterscheidung. Elemente einer Philosophie des Kulturellen, Hamburg 2011, Argument-Verlag, 336 Seiten, 19,50 Euro