Über die Parlamentswahlen in der Türkei

Wahl gewonnen, Ziel verfehlt

Nach einem populistischen, aggressiv geführten Wahlkampf gewann die türkische Regierungspartei AKP die Parlamentswahlen. Für eine Verfassungsänderung, die in der Türkei ein Präsidialsystem einführen soll, ist der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan jedoch auf Bündnisse angewiesen. Entscheidend für die ­Zukunft seiner Regierung wird aber die Kurden­politik sein.

Es ist der dritte Wahlsieg in Folge für den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Mit rund 50 Prozent der abgegebenen Stimmen gewann seine islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) die türkischen Parlamentswahlen. Alleine regieren kann die AKP damit nicht, und auch die angestrebte Verfassungsänderung, für die eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforderlich ist, wird nun ohne Bündnisse nicht möglich sein. Die AKP gewann immerhin drei Prozentpunkte mehr als bei den Wahlen vor vier Jahren.
In den Wochen vor den Wahlen war die politische Stimmung immer aggressiver geworden. Erdogan führte einen Wahlkampf, dessen Ziel es offenbar war, den rechten Rand der türkischen Gesellschaft zu erreichen. Das versuchte er etwa mit der Forderung nach der Todesstrafe für Abdullah Öcalan, den Führer der kurdischen PKK. Durch die Verbreitung von Sexvideos wurde zudem versucht, Kandidaten der ultranationalistischen MHP zu diskreditierten, und der größten Oppositionspartei des Landes, der kemalistischen CHP, wurde vorgeworfen, zusammen mit der kurdischen BDP separatistische Ziele zu verfolgen. In den Monaten vor den Wahlen wurden Hunderte Mitglieder der BDP verhaftet, unter anderem einige gewählte Bürgermeister.
Auch Najed Hatalay wurde inhaftiert, der amtierende Bürgermeister von Batman, der Provinzhauptstadt des gleichnamigen Distrikts im Südosten des Landes. Ihm werden Verbindungen zur PKK vorgeworfen. »Vor wenigen Tagen hat die Zentralregierung 6 000 Spezialkräfte der Polizei aus Anatolien in den Raum Batman verlegt. Diese erhalten ein sogenanntes Gastwahlrecht und können damit die Entscheidung vor Ort gravierend beeinflussen«, sagte der stellvertretende Bürgermeister, Sehrat Temel, einige Tage vor der Parlamentswahl am Sonntag. Auch sei die alte Gesetzgebung geändert worden, die vorschrieb, dass die Polizei 100 Meter von den Wahlurnen entfernt bleiben muss. Nun dürfen sich Polizisten bis auf 15 Meter nähern. »Das bedeutet in vielen Fällen, dass mit Maschinengewehren bewaffnete Polizisten direkt vor den Eingängen zum Wahlbereich stehen werden«, sagte Sehrat Temel. Knapp eine Woche vor der Wahl seien riesige Propagandaplakate in der Stadt aufgetaucht. Auf den Postern, die von einer obskuren »Bewegung für Glauben und Frieden« erstellt wurden, seien Parolen gegen die BDP zu lesen gewesen, etwa: »Wählt nicht jene, die am Morgen beten und am Abend Imame massakrieren.« Als Sehrat Temel mit Hilfe von Stadtangestellten die Plakate entfernen wollte, sei er von der Polizei daran gehindert worden.

Tief in den Bergen an den Grenzen zu Irak und Iran liegt auf über 1 700 Metern Höhe die Stadt Hakkari. Die Stadt, der man sich nur nach zahlreichen Militärkontrollen nähern kann, ist eine Hochburg der BDP. Da der türkische Staat der Stadtverwaltung finanzielle Mittel verweigert und das Bewirtschaften der Weiden vom Militär unterbunden wird, ist die Arbeitslosigkeit in der Stadt sehr hoch, und für die junge Generation gibt es oft keine andere Perspektive, als in die Berge zu gehen und sich der PKK anzuschließen.
Hier kursierten am 12. Juni bereits ab dem frühen Morgen Meldungen über Unregelmäßigkeiten bei der Wahl. Polizisten filmten Wählerinnen und Wähler, saßen bewaffnet direkt neben den Wahlkabinen und versuchten in manchen Fällen, älteren Leuten abgestempelte Wahlunterlagen aus dem Jahre 2009 unterzujubeln. Dieses Vorgehen konnte aber zumeist schnell von den örtlichen Wahlbeobachtern und von Politikern der BDP unterbunden werden. In den ländlichen Gebieten der gesamten kurdischen Region gab es Berichte über Angriffe von Polizisten auf Wahlbeobachter der BDP.
Die größten Probleme gab es in den abgelegenen Dörfern, die östlich von Hakkari liegen. Denn hier waren nur wenige offizielle Wahlbeobachter erschienen, und in den Dörfern herrschen oft noch Feudalstrukturen.
Im Dorf Büyük Ciftlik waren vor dem Wahlbüro Panzer aufgefahren, im Innenhof tummelten sich Paramilitärs, die »Dorfschützer«. Seit 25 Jahren regiert die AKP diese Region, ihre Vertreter gehören den herrschenden Clans an und rekrutieren auch die »Dorfschützer«. Staatliches Geld, das zum Beispiel für den Ausbau der Infrastruktur benutzt werden soll, verschwindet in den Taschen der Clanführer.

Somit herrscht insbesondere in den kurdischen Gebieten der Türkei weiterhin ein militärischer Ausnahmezustand, der darauf zielt, der AKP die Wahlstimmen der konservativen kurdischen Schichten zu sichern und progressive Entwicklungen zu unterbinden.
Nach der Wahl ist Erdogans Partei offenbar zur Zusammenarbeit mit der Opposition gezwungen, um ihr wichtigstes Ziel zu erreichen. Erdogan will nämlich die von den Putschgenerälen im Jahr 1982 eingesetzte Verfassung abschaffen und sie durch ein Präsidialsystem nach französischem oder US-amerikanischem Vorbild ersetzen. Gleichzeitig wird in Städten wie Hakkari, wo die BDP über 80 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen hat, ausgelassen gefeiert. In einigen anderen Provinzen mit kurdischer Mehrheit blieb die AKP weiterhin die stärkste Partei. In Van kam es nach dem Sieg der AKP zu Straßenschlachten. Aber auch in der kurdischen Stadt Sirnak, wo die BDP die Wahl gewonnen hat, schien in der Wahlnacht der Krieg zurückgekehrt zu sein: Unbekannte warfen eine selbstgebastelte Bombe in die feiernde Menge, mehrere Menschen wurden dabei teilweise schwer verletzt.

Am 15. Juni wird das Ultimatum der kurdischen Bewegung an die Regierung auslaufen. Gefordert wird die längst überfällige Verwirklichung von Reformen in den kurdischen Gebieten. Wenn die AKP bis zu diesem Tag keinen Plan hinsichtlich einer friedlichen Lösung anbieten kann und Erdogan in seiner gespannt erwarteten Grundsatzrede erneut die »Kurdenfrage« für nicht existent erklärt, dürfte die kurdische Bevölkerung dies als Kriegserklärung auffassen. Ein Mitglied der BDP aus Diyarbakir sagt: »Die AKP und die neue Verfassung entscheiden über Krieg und Frieden. Und wir sind bereit, für unsere Rechte unser Blut zu vergießen.«
Wird in der Türkei erneut ein gewaltsamer Konflikt ausbrechen? Daran kann weder die Bevölkerung der Türkei noch die EU ein Interesse haben. Und dass die BDP mit ihren teils autoritären Kaderstrukturen und einzelnen verherrlichten »Führern« einer solchen Auseinandersetzung einen progressiven Charakter verleihen kann, ist sehr fraglich.