Über die neue Weltmusik »Global Ghetto Tech«

Vom Ghetto in die Charts

Die neue Weltmusik heißt »Global Ghetto Tech«. Hoffnungen werden mit ihr verbunden. Und alte Probleme.

Erfolgsproduzent Timbaland kam einmal zum Shoppen nach London. Das Portemonnaie saß locker, er brauchte nur einen Tag, um mehr als 3 000 britische Pfund für indische Desi-Bhangra-CDs auszugeben. Weil er so gerne Musik hört. Und weil er als cleverer Geschäftsmann in neues Material für zukünftige Produktionen investieren wollte. Das Soundrepertoire westlicher Musikmärkte vergrößerte sich zu Beginn der nuller Jahre immens. Internationalen Stars wie Sean Paul (»Gimme The Light«), 50 Cent (»Candy Shop«), Chemical Brothers (»Push The Botton«), Shakira (»Hips Don’t Lie«) oder Justin Timberlake (»What Goes Around«) wurden auffallend orientalisch klingende Songs auf den Leib geschneidert. Die Spekulationen über den Erfolg dieser Künstler wiesen über rein musikalische Erklärungen weit hinaus. Verflechtungen zwischen politischen Motivationen und kulturellen Bedürfnissen wurden angenommen. Sollte der Trend den Konkurrenten aus dem Orient vielleicht bändigen, absorbieren, ihn unter Kontrolle bringen? Diente die Einverleibung »fremder« Sounds in den westlichen Mainstream nicht einzig der Beruhigung aufgescheuchter Hörer?
In der Diskussion um Global Ghetto Tech jedenfalls dürfte Timbalands Vorgehen wohl als ausbeuterische Rohstofferschließung gelesen werden. Der dicke US-Produzent war auf der Suche nach exotischen Farbtupfern, Ornamenten für seine kommerziell standardisierte Produktionsästhetik. Und schrieb damit Sichtweisen fort, die unter westlichen »Kosmopoliten« lange Common Sense waren: »Weltmusik« ist »ethnische Musik«, man kann sich an ihr laben, sie ist als Ausdruck ursprünglicher, unverwaschener Musikkultur zu bewahren. Peter Gabriel, um hier das prominenteste Beispiel zu nennen, sah es ähnlich, er ließ sich seit Mitte der achtziger Jahre von »anderen« Kulturen inspirieren und veröffentlichte seine weltoffenen Werke auf dem eigenen Label Real World Records. Ethnologen allerorten konnten beseelt ihre Fußglöckchen dazu erklingen lassen.
Die neue Weltmusik macht alles anders. »Global Ghetto Tech«, »Ghettopop«, »Tropical Bass«, »transatlantische Bassmusik«, »Worldmusic 2.0« – allein die Vielzahl der Namen deutet auf zweierlei hin: Die neue Weltmusik ist erstens vielgestaltig. Zum Zweiten sind musikhistorische Bescheidwisser involviert, der Titel bezeichnet zugleich einen Diskurs, in dem bestimmte Dance-Phänomene verhandelt werden. Was sind die Gemeinsamkeiten? Dancehall spielt eine Rolle, genauso wie »Detroit Ghetto Tech«, eine basslastige Fusion aus Drum and Bass, House, Techno, HipHop und Rio Funk, der Anfang der neunziger Jahre in der »Motorcity« entstand. Global-Ghetto-Tech-Produktionen entstehen zumeist an den Rändern der Globalisierung, sie folgen Migrationsströmen, die Produktionsmittel sind preiswert. Unterschiedlichste Musikrichtungen wie beispielsweise Baile Funk und Tecnobrega aus Brasilien, Coupé Décalé, von Musikern aus der Elfenbeinküste in der Pariser Diaspora entwickelt, oder Kwaito, der mit dem Ende der Apartheid in Südafrika aufstieg, dröhnen der alten Weltmusik selbstbewusst und laut aus den Favelas, Banlieues und Townships entgegen.
Musik als globales Kommunikationsmedium und Sprachrohr der Subalternen? Tatsächlich unterstellt Christine Lang, Kuratorin des Global-Ghetto-Tech-Festivals »Radical Riddims« in Berlin, den Akteuren ein neues Selbstverständnis: »Bei Global Ghetto Tech handelt es sich durchaus um eine Form der Emanzipation.« Musiker der Südhalbkugel vernetzen sich, lassen musikalische und performative Stil-Hybride entstehen und werden dank neuer Technologien seit einigen Jahren endlich sichtbar für ein internationales Publikum. Erscheinungen wie Spoek Mothambo aus Johannesburg zelebrieren postmoderne Ästhetik und basteln sich ihre musikalischen Identitäten nach Belieben aus allen verfügbaren Sounds zusammen. Global Ghetto Tech ist der Sound einer Globalisierung, die alte Vorstellungen von abgeschlossenen Kulturkreisen endlich hinter sich gelassen hat.
Doch das neue Zeitalter weltumspannenden Austauschs hat Schönheitsfehler. Produzenten wie Toy Selectah aus Mexiko mögen neue aufregende Genres im Wochentakt entwickeln,
DJ Edgar aus Rio mag noch so perfekt sein, Ungleichheit bleibt trotzdem ein Thema. »Finanziell profitieren zumeist immer noch Leute aus den USA und Nord-Europa von Global Ghetto Tech«, sagt Lang und nimmt sich selbst nicht aus: »Als Kuratoren holen wir eine neue Musik nach Europa, stellen ein Festival zusammen und erhalten finanzielle Unterstützung. Das kann man natürlich kritisch sehen.« Tatsächlich, oh Wunder, sei das Verhältnis zwischen globalem Süden und den Zentren der Nordhalbkugel auch musikalisch nicht ausbalanciert. Die kulturelle Selbstermächtigung schlägt sich ökonomisch kaum nieder, selbst erfolgreiche Baile-Funk-Musiker aus den Favelas müssen Dayjobs nachgehen, um sich über Wasser zu halten.
Stattdessen profitierten Musiker wie Diplo, sagt Lang. Diplo veröffentlichte Alben wie »Favela strikes back«, produzierte Songs für M.I.A. und die südafrikanischen Satire-HipHopper Die Antwoord und remixte Gwen Stefani mit Baile-Funk-Elementen. Diplo verdient, als US-Amerikaner gut angeschlossen an westliche Kulturmärkte, sein Geld mit Musik, die in Rio verwurzelt ist; auch das allgegenwärtige Wunderkind James Blake reitet nach Langs Meinung auf einer Welle: »Diese Sounds höre ich seit zehn Jahren. Man sollte die Geburt und Historie von Sounds benennen, ansonsten werden Leute aus der Geschichte herausgeschrieben.« Dance kommt aus dem Black Atlantic, und Eminem ist nur der neue Elvis. Nur was ist mit diesem Wissen gewonnen? Der Ansatz ist nachvollziehbar, weil er mit dem Versuch verbunden ist, Anerkennung neu zu verteilen. Dass es sich dabei um einen langwierigen Prozess handeln wird, weiß auch Lang. »Das ist eine Hoffnung«, sagt sie, »man kuratiert hierzulande ein Programm, das die Aufmerksamkeit auf andere Szenen lenkt, die letztlich davon profitieren.« Den Markt aber dürfte es wenig kümmern, wer welches Rhythmus-Pattern zuerst gespielt hat. Erst recht, in welcher Tradition sich Musiker bewegen mögen.
Die neue Weltmusik wirft alte Fragen auf. Wie viel Aufmerksamkeit sollte die Diskussion um eine musikalische Lingua Franca der Herkunft eines Sounds, Musikers oder einer künstlerisch verarbeiteten Tradition schenken? Befeuert die Spurensuche nach musikalischen Traditionen (oder ihrer Überwindung) nicht von Neuem einen romantischen Rekurs wie bei Peter Gabriel? Wäre es nicht folgerichtig, nur als Weltmusik zu bezeichnen, was als transkulturelle Verschmelzung jegliches Lokalkolorit unbeachtet lässt? Demzufolge allerdings wäre Lady Gaga die Weltmusikerin von heute – von Marginalisierten wieder keine Spur. Der Verdacht liegt nahe, dass Weltmusik als emanzipatives Konzept ohne grundlegende Umgestaltung der Verhältnisse nicht möglich ist. »Wir können nur eine Bestandsaufnahme liefern. Mal sehen, was kommt«, sagt Lang. Vielleicht bringt uns Global Ghetto Tech einen winzigen Schritt voran.