Über die griechische Protestbewegung und die europäische Politik

Der Protest aus der Zukunft

Die griechische »Bewegung der Empörten« ist ein Faktor in der europäischen Politik, der sich nicht mehr ignorieren lässt. Sie treibt derzeit die Entscheidungsapparate vor sich her.

Am Abend des 15. Juni warteten die Menschen auf dem Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlamentsgebäude auf den Hubschrauber. In den Wunschvorstellungen kreiste er schon über dem Platz – in den sarkastischen Gesängen der unermüdlichen Besetzer kam er vor oder als knuffiger Comic-Hubschrauber auf einem Transparent. Im Jahr 2001 war der damalige argentinische Präsident Fernando de la Rúa mit dem Hubschrauber aus dem Präsidentenpalast geflüchtet – eine Flucht sehnen auch die protestierenden Griechen herbei, die des Premierministers Giorgos Papan­dreou.
Der Hubschrauber hob zwar nicht ab, aber die seit drei Wochen andauernden öffentlichen Versammlungen der Aganaktismeni, der »Empörten«, führten dennoch zu etwas Entscheidendem: Die Generalprobe einer Parlamentsblockade war genug, um die Regierung in eine existentielle Krise zu stürzen. Während des Jahres, in dem die griechische Bevölkerung von privaten Gläubigerbanken, der Europäischen Zentralbank und den Hütern des Euro in Geiselhaft genommen wurde, hat sich eine Bewegung entwickelt, die die Kräfteverhältnisse in Frage stellt und die Institutionen das Fürchten lehrt. Hunderttausende Griechinnen und Griechen, die die öffentlichen Plätze besetzen, haben wiederholt gezeigt, dass sie es ernst meinen: Sie haben nicht vor, die Auflagen für die neuen Kredite zu akzeptieren, und sie zucken nicht mit der Wimper, wenn sie dabei die vielbeschworene Stabilität des Euro zerstören. Die Bewegung der Empörten ist kein Hippie-Kaffeekränzchen, sondern mittlerweile ein nicht zu ignorierender und zugleich unberechenbarer Faktor in der europäischen Politik geworden.

An diesem schönen, für Griechenland möglicherweise historischen Tag in der vergangenen Woche geriet Papandreou angesichts der Wut der Menge und des gleichzeitig stattfindenden Generalstreiks in Panik und fügte sich noch dazu selbst erheblichen Schaden zu: Er bot in einem misslungenen Versuch, die Opposition für eine Einheitsregierung zu gewinnen, seinen Rücktritt an und leistete sich mit einer Zögerlichkeit, die auch Mubarak an den Tag legte, die Peinlichkeit, diesen Schritt danach wieder zurückzunehmen und nur sein Kabinett umzubilden. Am selben Nachmittag, während die Menschen noch wütend vor dem Parlament protestierten, garantierte die EU-Kommission unerwartet die Auszahlung der fünften Kredit­rate – während sie die Rate vorher als Druckmittel für die Verhandlungen über das neuen »Schuldenpaket« zurückgehalten hatte. Nur einen Tag später, unter dem Eindruck des fallenden Eurokurses, beendeten auch Angela Merkel und Nicolas Sarkozy ihr Zögern und sicherten Griechenland in einem Eilverfahren die Zustimmung für die nächsten Kredite zu – ob mit privater Gläubigerbeteiligung oder ohne diese. So treibt die Bewegung der Empörten derzeit die Entscheidungsapparate vor sich her. Nur wenige Monate nach den ersten arabischen Revolutionen können die Machthabenden nun dabei zusehen, wie die nächste Multitude ihre Handlungsfähigkeit entfaltet, während sie sich beeilen zu stabilisieren, was kaum zu stabilisieren ist.
Selbst die griechische Öffentlichkeit ist vom Charakter der Bürgerproteste überrascht. Wer aber denkt, dass es sich derzeit – wie etliche deutsche Zeitungen es gern darstellen – wieder einmal um den gewöhnlichen, alle drei Monate stattfindenden Gewerkschaftsprotest handelt, wird kaum erklären können, was den noch vor einem Monat entschieden auftretenden Papandreou gerade jetzt dazu bewegt, sich politisch zu demontieren. Weder der Generalstreik noch die linksautonomen Negationsgesten sind hier entscheidend. Die eintägigen Generalstreiks haben es ohnehin nie vermocht, tatsächlich ökonomischen Druck aufzubauen. Sie lösen seit längerem immer wieder falschen Alarm aus. Die ritualisierten Riots der in den Protesten mittlerweile minoritären antiautoritären Genossen sind längst nicht nur inhaltlich sinnentleert, sondern auch unproduktiv für die neue Art der Aneignung des öffentlichen Raums. Die relevanten Bilder der vergangenen Woche sind nicht die von den Nachrichtenagenturen verbreiteten Fotos von der Randale am Vormittag des 15. Juni, sondern die vom Mittag: Da kam die Menge der Empörten wieder auf den Platz, um penibel organisiert kollektiv aufzuräumen und den Syntagma-Platz mit Wasser vom Tränengas zu reinigen, so dass sich die Protestierenden später in der täglichen Generalversammlung wieder auf den Boden setzen konnten.

Diese Bewegung hat neue Aktionsformen hervorgebracht und entfaltet neue Charakteristika, die es schwer machen, eine schnelle Analyse anzustellen. Um es mit den Worten des Aktivisten Giorgos Rakkas zu sagen: »Diese Bewegung kommt aus der Zukunft, wir sind davon selbst noch fasziniert und verblüfft.« Jedenfalls ist es erstaunlich, wie lange die deutsche Öffentlichkeit braucht, um zu erkennen, dass beispielsweise das Wackeln mit den ausgestreckten Handflächen an eine Geste angelehnt ist, die in der tunesischen Revolution bekannt wurde, oder dass die Ereignisse auf dem Syntagma-Platz und den Plätzen anderer griechischer Städte denen auf dem ägyptischen Tahrir-Platz ähneln: Dort finden Festivals und selbstorganisierte Camps statt, es gibt einen neuen Raum für Diskussionen, eine erstaunliche Aneignung des Öffentlichen ereignet sich. »Ein Experiment von Kritik, kollektiver Schöpfung, Artikulation und Selbstorganisation befindet sich in einem Entwicklungsprozess«, schreibt etwa die Bloggerin Maria Louka. Die Platzbesetzer beschränken sich längst nicht mehr auf an die Obrigkeit adressierte Forderungen. Sie agieren zudem ohne Repräsentanten. Wie ein Aktivist namens Vassilis sagt, strebten sie die politische, kulturelle und ethische Umstrukturierung der Gesellschaft an, die in der gemeinsamen Suche nach einer direkten Demokratie münde. Welche weiteren konkreten Formen dieser Prozess annehmen könnte, ist zurzeit erst in Umrissen zu erkennen. Doch es wird auf jeden Fall schwierig für die Machthaber werden, die Erfahrung auf den Plätzen aus den Köpfen der Hunderttausenden von Beteiligten verschwinden zu lassen.
Nicht nur deswegen lässt sich niemand von der billigen Regierungsumbildung Papandreous beeindrucken. Die politische Haltung der Menschen auf den Plätzen ist: »Wir verkaufen nichts, wir schulden nichts, wir zahlen nicht.« Die konkrete Forderung ist ganz und gar nicht bescheiden: Der Vertrag des im vergangenen Jahr beschlossenenen Rettungspakets samt seiner Auflagen muss zurückgenommen werden – sonst verlässt keiner den Platz. Das macht der Regierung Verhandlungen unmöglich – und nicht nur das. Wird das mittelfristige, neue Kreditpaket samt Auflagen nicht in der von der »Troika«, also der Europäischen Union, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds diktierten Form durchgesetzt, wird der griechische Staat am 12. Juli zahlungsunfähig.

Für die Millionen Arbeitslosen, Rentnerinnen und Rentner sowie die seit Monaten unbezahlten Arbeiterinnen und Arbeiter klingt das Wort »Staatspleite« nicht erschreckender als die Durchsetzung der neuen Kreditauflagen. Furchteinflößend ist das Szenario für diejenigen, die ein Interesse am Bestehen der Euro-Zone haben. So kursiert unter Platzbesetzern die triumphierende Feststellung, dass die EU ihr Einlenken dringender brauche, als sie die Gunst der EU benötigten. Zugeständnisse der europäischen Institutionen hinsichtlich einer Umschuldung oder eines »Haircut« gelten als vorstellbar, denn Europa kann den Zusammenbruch nicht riskieren. Das gibt sogar der neue griechische Wirtschaftsminister Pagalos zu: Die EU könne sich den Crash nicht leisten.
Am 28. Juni, dem Tag, an dem die mit der Kreditvergabe zusammenhängenden Sparmaßnahmen verabschiedet werden sollen, sind ein Generalstreik und eine Umzingelung des Parlaments in Athen geplant. Ziel ist es, die Abstimmung zu verhindern. Vielleicht hebt dann ein Hubschrauber ab. Das wäre ein vorläufiger Sieg in einem langen Prozess einer gesellschaftlichen Veränderung, sagt Giorgos Rakkas: »Damit meine ich nicht nur Monate, sondern vielleicht Jahre.«