Über die Proteste in Syrien

Dialog mit Bajonetten

Auch der Einsatz von Panzern führt nicht zu einem Ende der Proteste in Syrien, doch solange das Militär loyal bleibt, kann das Regime sich an der Macht halten.

Kaum zu verifizierende Meldungen von Oppositionellen über Demonstrationen, Videoaufnahmen von Menschen, die vor Kalaschnikow-Salven Schutz hinter Hausecken suchen, gepanzerte Armeeeinheiten, die Dörfer und Kleinstädte einnehmen und »säubern«, unsagbare Folterberichte und daneben immer wieder der Hinweis, in Aleppo und Damaskus, den beiden Metropolen des Landes, säßen nur etwas weniger Müßiggänger als sonst in den Cafés und Restaurants. Die Nachrichten aus Syrien zeichnen seit Monaten ein Bild des Grauens, das fast zur Normalität geworden ist.
Die Rede des Präsidenten Bashar al-Assad am Montag war der dritte Versuch seit dem Beginn der Proteste, die Untertanen versöhnlich zu stimmen, eine fast schon elegische Bemühung, das Rasseln der Panzerketten mit vorgeblich selbstkritischen Bekundungen und Reformversprechen zu übertönen. Daran hat man sich gewöhnt. Allerdings war die Rede längst überfällig, und es irritiert etwas, dass Assad seit Wochen offensichtlich zu sehr mit der militärischen Sicherung seiner Herrschaft beschäftigt war, um Zeit für einen Fernsehauftritt zu erübrigen.
Denn die Proteste halten nicht nur unvermindert an, die Situation in Syrien verschärft sich. Da nutzt es auch nichts, dass Nahost-Kommentatoren, die Proteste in Syrien zunächst für gänzlich unwahrscheinlich erklärt hatten, seit deren Beginn immer wieder ein Abklingen beobacht haben wollen. Zur bitteren Realität gehört aber auch, dass ein unblutiger Sturz des Regimes kaum möglich zu sein scheint.
Die Proteste, die Assad umgehend mit wohlklingenden Reformversprechen zu kontern suchte, während seine Ordnungskräfte ganz phantasielos ihre Folterkeller überbelegten, haben sich in ihrem vierten Monat auf das ganze Land ausgebreitet. Sie sind eine akute Bedrohung für das Regime. Alles weitere aber ist Mutmaßung.
Wie groß ist der Rückhalt des Regimes bei diversen Bevölkerungsgruppen, der Mittelschicht von Damaskus etwa oder den sunnitischen – und auch christlichen – Fraktionen der Oligarchie, die bisher mit den Assads kooperiert haben? Besteht die Chance, dass sich auch Teile der Minderheit der Alawiten, der die Assads angehören, gegen das Regime stellen könnten?

Sind bei der von überwiegend von alawitischen Offizieren geführten Armee und den Ordnungskräften wirklich erste Auflösungserscheinungen sichtbar, wie dies Berichte und Bilder von einzelnen Überläufern nahelegen? Wie stark sind die Muslimbrüder und andere Islamisten tatsächlich? Haben sie oder andere Gruppen begonnen, bewaffneten Widerstand zu leisten? Wie glaubwürdig sind Ankündigungen der heillos zersplitterten Oppositionsparteien, sie würden sich auf eine Art gemeinsamer Plattform einigen? Was passiert, wenn die Kurden das immer noch de facto bestehende Stillhalteabkommen mit dem Regime aufkündigen?
Die zentrale Frage ist, wie loyal die »Sicherheitskräfte« und das Militär sind. Die Antwort ist vielleicht auch im Präsidentenpalast nicht bekannt. Solange die Befehle befolgt werden, ist kurz- und mittelfristig kaum vorstellbar, dass Assad ohne Eingriff von außen gestürzt werden könnte. Einen Ausweg aus dem grundsätzlichen Debakel des verrotteten und unreformierbaren Regimes bietet die Macht aus den Gewehrläufen allerdings nicht. Es ist ebenso kaum vorstellbar, dass die Assads es sich in einem sich unaufhaltsam wandelnden Nahen Osten noch in zwei, drei Jahren in Damaskus bequem machen könnten.
Der militärische Angriff zur kurzfristigen Überlebenssicherung, zu dem sich das Regime ohne Zögern vor Wochen mit dem Einmarsch in das südsyrische Deraa entschloss, hatte keine abschreckende Wirkung. Dem Einsatz nahe der jordanischen Grenze im Süden folgten Militärinvasionen in Orten an der libanesischen Grenze, an der Küste und nun schließlich an der nördlichen Grenze zur Türkei (siehe Seite 3).

Das Regime will auf keinen Fall vollständig die Kontrolle über einen Ort verlieren, so etwas wie ein »befreites Gebiet« soll nicht entstehen, schon gar nicht in Grenznähe. In Großstädten wie Hama oder Homs, auch in den zahlreichen Kleinstädten und Vororten, aus denen immer wieder Proteste vermeldet werden, operieren die Repressionskräfte dagegen offensichtlich mit abgestuften taktischen Konzepten. Es wird geschossen und punktuell eingegriffen, doch wenn die Demonstrationen zu groß werden, wie Mitte Juni in Hama, wo angeblich 150 000 Menschen auf der Straße waren – das entspräche allerdings einem Viertel der Stadtbevölkerung –, lässt man die Protestierenden zeitweise gewähren.
Probleme dürfte mittlerweile die Logistik dieser Aufstandsbekämpfung bereiten, schließlich müssen die Eliteeinheiten im ganzen Land herumfahren, und befriedet bleiben die eroberten Gebiete derzeit nur unter militärischer Besatzung. In Deraa patrouillieren Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett durch die Straßen. Ob es hier ruhig bleibt, wenn sie abziehen sollten?
Von der Erschütterung des Regimes und dem internationalen, nicht zuletzt von der Türkei nun ausgeübten Druck kündet der jüngste Versuch, auch wieder politisch zu reagieren. Es begann mit der plötzlichen Entlassung Reem Haddads, der so telegenen englischsprachigen Chefpropagandistin des Staatsfernsehens, die das Auftauchen der syrischen Flüchtlinge in der Türkei mit der Behauptung zu erklären versucht hatte, es handele sich um Verwandtenbesuche. Das war selbst für Regimepropaganda zu dreist.
Es folgte die passend zu den Freitagsgebeten im Fernsehen gesendete Ankündigung Rahmi Makh­loufs, eines Cousins Assads und Wirtschaftsmagnaten, er werde seine Anteile an dem hochprofitablen Telekommunikationsgeschäft in Syrien für wohltätige Zwecke spenden und in Zukunft auf jede Geschäftstätigkeit verzichten. Makhlouf, als Hausbankier der Assads und größter Profiteur der sogenannten Privatisierung der Staatswirtschaft bei den Demonstranten besonders verhasst, hatte sich in einem Gespräch mit der New York Times noch vor einem Monat als Hardliner präsentiert.
Die öffentliche Abbitte Makhloufs war das Vorspiel zu Assads Fernsehrede am Montag, in der der Präsident verkündete, durch Nepotismus verursachte Korruption habe viel Leid verursacht – als habe er damit nichts zu tun. Die anderen Äußerungen entsprachen den Erwartungen: Es gebe eine Verschwörung, gegen die sich die Sicherheitskräfte wehren müssten, außerdem wolle man den »nationalen Dialog« eröffnen.

Die vagen Versprechungen sollen wohl auch helfen, den Druck des Auslands zu mindern. Denn eigentlich wollen alle doch nur Reformen vom Präsidenten, wie die EU, die am Montag schärfere Sanktionen ankündigte. Im UN-Sicherheitsrat haben Großbritannien und Frankreich eine Resolution gegen Syrien eingebrachte, aber China und Russland sind dagegen. Deutschland befürwortet angeblich eine Verurteilung Syriens im Sicherheitsrat, Verteidigungsminister Thomas de Maizière sagte dem Spiegel jedoch, man wolle ebenso wie in Libyen auch in Syrien nicht militärisch aktiv werden.
Das hat zwar bisher niemand von Deutschland gefordert, eine Intervention befürworten derzeit weder die syrische Opposition noch westliche Regierungschefs, aber Hauptsache, der gute Wille gegenüber Assad wird kundgetan. Um dessen »Glaubwürdigkeit« sorgt sich die EU. Dass den Versprechungen keine Reformen folgen, ist offenbar aufgefallen, doch will man das Regime beim Foltern und Töten wohl nicht allzu sehr zu stören. Auch die USA belassen es bei freundlichen Ermahnungen und haben ihren erst vor zwei Jahren ohne syrische Vorleistungen wieder nach Damaskus entsandten Botschafter nicht zurückgezogen. Das Schicksal der Protestierenden in Syrien scheint es jedenfalls zu sein, dass sie von allen Seiten irgendwie als störend empfunden werden.