Über die Kundgebungen für ein »Recht auf Stadt«

Ein Picknick im Grünen

In den vergangenen Wochen gab es in mehreren deutschen Städten Kundgebungen für ein »Recht auf Stadt«. Um das Glücksversprechen der Urbanität ging es deren Initiatoren aber nicht.

Seit die Proteste gegen »Stuttgart 21« eindrucksvoll wie selten demonstriert haben, dass sich mit mutwilligem Blödsinn wie kollektiven Baumumarmungen, öffentlichen »Bürgergelöbnissen« und Juchtenkäferschutzgemeinschaften hierzulande erfolgreicher Politik machen lässt als mit den Routinen der repräsentativen Demokratie, kennen die Deutschen in Sachen »Bürgerbeteiligung« kein Halten mehr. Ob es gegen Einflugschneisen oder Schienennetze, gegen Altstadtsanierungen oder den Bau von Einkaufszentren geht, permanent wollen couragierte Bürger irgendwo »mitentscheiden« – und das nicht etwa, weil sie auf dem jeweiligen Gebiet besonders kompetent wären, sondern weil sie sich von den in Frage stehenden politischen Entscheidungen direkt »betroffen« wähnen. Neben der schleichenden Implementierung von Elementen wie Volksentscheiden in den legislativen Entscheidungsprozess birgt diese neudeutsche Mitbestimmungswut vor allem die Gefahr einer Wiedergeburt von Regionalismus und Schollenmentalität. Politik, so lautet die implizite Maxime all dieser Kämpfe für »Bürgerbeteiligung«, ist das, was unmittelbar vor meiner Haustür geschieht. Was sich meinem Horizont entzieht, liegt auch jenseits meines Interesses.

Borniertem Regionalismus frönten auch die Teilnehmer der »Aktionstage« gegen »Verdrängung und Gentrifizierung«, zu denen in den vergangenen Wochen in vielen deutschen Städten aufgerufen wurde. In Frankfurt am Main hatte das Netzwerk »Wem gehört die Stadt« die Bürger am 11. Juni zur Beteiligung an »vielfältigen Aktionen« wie »Guerilla Gardening«, »öffentlichen Frühstücken«, »Stadtteilspaziergängen« sowie einem »abschließenden Rave durch die Stadt« eingeladen. Die Veranstalter bezeichneten diese Open-Air-Party im Nachhinein allen Ernstes als »Häuserkampf« und erkannten in den knapp 2 000 Menschen, die sich an den Aktionen beteiligt hatten, »ein breites Spektrum, das die gegenwärtige Stadtplanung und Stadtentwicklung ablehnt«. Das Ziel dieses »Kampfes« umriss Anette Mönich von der Frankfurter »Initiative Zukunft Bockenheim« mit den Worten: »Wir wollen neue Rituale schaffen. Die Leute sollen die Schönheit der Plätze gemeinsam genießen.« Und Luca Becker von der Gruppe »Faites votre jeu!«, die sich ebenfalls an den Aktionen beteiligte, stellte klar: »Wir haben deutlich gemacht, dass Politiker hier nicht erwünscht sind.«
Polizisten hingegen waren in Frankfurt, anders als bei einschlägigen autonomen »Häuserkämpfen«, wenn schon nicht erwünscht, so doch geduldet. Sie hatten, wie die regionale Presse einhellig lobte, auch nicht besonders viel zu tun. »Die Polizei«, berichtete etwa die Rhein-Main-Zeitung, »war zwar stets präsent, musste aber nicht einschreiten.« Und auch den engagierten Bürgern, die an den diversen »Recht auf Stadt«-Kampagnen teilnahmen, ging es erklärtermaßen weniger um die Kritik an konkreten Herrschaftsverhältnissen als darum, sich gegen den korrumpierenden Einfluss von Luxus, Dekadenz und Finanzkapital autochthone »Freiräume« zu sichern. »Wir wollen keine Kultur, die Verkaufsargument für Luxuswohnungen ist«, hieß es in Frankfurt, und auf der Website von »Wem gehört die Stadt« wird ähnlich begriffslos gegen »Standortdenken« und »Nützlichkeitsdenken« mobilisiert. Denn: »Wohnraum darf keine Ware sein, Stadt darf keine Ware sein!« Beim ersten »Vernetzungstreffen« der Initiative »Recht auf Stadt München« wurde unter dem Motto »Wir holen uns die Stadt zurück« sowohl gegen die Entstehung von »Luxusquartieren« wie gegen den »Abriss historischer Häuser« protestiert, aber auch dagegen, dass »die Polizei entscheidet, wer im öffentlichen Raum feiern darf und wer nicht«.

Wie alle Halbwahrheiten verkehren sich solche Parolen in eklatante Unwahrheit, wenn sie Erkenntnis und Kritik ersetzen sollen. Zwar finden sich in der Grundsatzerklärung von »Wem gehört die Stadt« deutliche Parteinahmen gegen die Vertreibung von »Pennern«, »Schmarotzern« und »Asozialen« aus dem städtischen Raum. Wie die Initiatoren des Netzwerks sich aber gegen »Bürgerwehr-Begeisterte« abgrenzen können, ohne an ihrem erklärten Selbstverständnis als basisdemokratische Bürgerbewegung irre zu werden, und wie man gegen die Verwandlung von »Stadt« in »Ware« polemisieren und im selben Atemzug ein »Recht auf Stadt« einfordern kann, bleibt das Geheimnis der Veranstalter. Ihre gesamte Rhetorik ist durchtränkt von der Logik der Landnahme: Der städtische Raum wird von ihnen ausschließlich als etwas verstanden, aus dem man von ominösen Mächten »verdrängt« zu werden droht und das man sich »zurückholen« müsse. Also ganz nach dem Denkmuster alteingesessener Grundbesitzer, die ihre Scholle vor der Kolonisierung durch Handel und Industrialisierung zu retten versuchen – mit dem Unterschied, dass der städtische Raum all seine unbedingt rettenswerten Vorteile allererst der Zerstörung von Grund, Boden und Scholle verdankt.
Doch die neuen »Recht auf Stadt«-Kampagnen sind nicht nur in ihrer politischen Praxis biederer und ordnungsliebender als frühere »Häuserkämpfe«, es geht ihnen auch gar nicht mehr um die Einlösung des Glücksversprechens der Urbanität, sondern um den Rückbau der Stadt zur multikulturell renovierten Dorfgemeinschaft. Deshalb macht man sich die Staatsmacht, als deren verkannte Musterrepräsentanten man sich selbst begreift, zum Freund, verantaltet statt Demonstrationen Frühstücke im Grünen und begreift sich selbst als friedensbewegte Gartenstadt-Guerilla, die nur dann renitent wird, wenn die staatlichen Repräsentanten partout nicht begreifen wollen, dass man ihnen gar nicht ins Handwerk pfuschen, sondern es nur besser machen will als sie selbst. Das Einzige, was dabei vom »linken« Selbstverständnis noch übrig bleibt, ist die Kritik am »Nützlichkeitsdenken«. Aber das ist schließlich auch den reaktionärsten Liebhabern der schönen Natur verhasst.