Kerstin und Sandra Grether im Gespräch über die feministische Protestform »Slutwalk«

»Es ist der Beginn einer neuen Bewegung«

Slutwalks, die Märsche der »Schlampen« gegen das »Victim Blaming« bei sexualisierter Gewalt, sind in den vergangenen Monaten zu einem globalen Phänomen geworden. Ein Gespräch mit den Musikerinnen und Autorinnen Kerstin und Sandra Grether von der Gruppe Slutwalk Berlin über die Inhalte und die Form eines neuen feministischen Protests.

Nach dem ersten Marsch in Toronto gab es Slutwalks in vielen verschiedenen Ländern. Warum diese große Resonanz und warum gerade jetzt? Die Verharmlosung von sexualisierter Gewalt ist eigentlich kein neues Phänomen.
Kerstin: Die Tendenz, den Opfern von sexualisierter Gewalt eine Mitschuld zu geben, hat es schon immer gegeben. In den vergangenen Monaten konnte man das in den Massenmedien aber verstärkt beobachten. Anlässlich der Vergewaltigungsvorwürfe gegen prominente Männer konnte man verfolgen, wie präsent Vergewaltigungsmythen noch im öffentlichen Diskurs sind. Die Klägerinnen geraten häufig in die Situation, sich für die erlittene Gewalt rechtfertigen zu müssen. Das passiert auch in weniger spektakulären Fällen. In Großbritannien musste zum Beispiel ein Mädchen im Prozess einen Tanga vorzeigen, den sie angeblich bei der Vergewaltigung anhatte. Das Aussehen, die Kleidung und ein bestimmtes Verhalten spielen nach wie vor eine wichtige Rolle.
Sandra: Es herrscht ein Klima, das viele Betroffene in eine Rechtfertigungsposition drängt, so dass sich wenige Frauen trauen, eine Vergewaltigung anzuzeigen. Im Fall von Julian Assange wurden die Klägerinnen zwar nicht wegen ihrer Kleidung angegriffen, aber wegen ihrer angeblichen politischen Einstellungen. In vielen Berichten wurde betont, sie seien Feministinnen. Als ob man Feministin sein müsste, um eine Vergewaltigung anzuzeigen. Damit wurde nicht das Selber-Schuld-Klischee abgerufen, sondern das Bild der Männerhasserin. Aber es geht immer um Mythen und um Machtverhältnisse. Als Vergewaltigung wieder ein Thema für die Talkshows wurde, konnte man feststellen, wie verbreitet die Haltung noch ist, dem Opfer eine Mitschuld zu geben.
Über die Slutwalks wurde in den Medien aber auch viel berichtet. Haben die Medien die politischen Ziele der Kampagne verstanden?
Sandra: Ich würde Slutwalk nicht nur als Kampagne bezeichnen, sondern auch als Beginn einer neuen Bewegung. Wir waren auch überrascht über die Resonanz in den Medien. Auf der anderen Seite ist sie auch problematisch, weil die Gefahr besteht, dass sich die Aufmerksamkeit auf das äußere Bild beschränkt, nämlich das einer Spaßdemo von leicht bekleideten Frauen. Wir möchten dafür sorgen, dass die mit diesem Bild verbundene politische Message richtig ankommt.
Kerstin: In einem Artikel auf Spiegel Online war zum Beispiel zu lesen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Slutwalks kämpften »um ihr Recht, sich sexy zu kleiden«. Das ist so nicht richtig. Sich sexy zu kleiden auf der Demonstration ist nicht das Ziel, sondern das Mittel, das benutzt wird, um das Victim Blaming zu kritisieren.
Auf einer subtileren Ebene glaube ich, dass Slutwalks so gut ankommen, weil die »Nutte« in unserer pornographisierten Gesellschaft eine Männerphantasie darstellt. Was die Medien vielleicht nicht verstehen, ist, dass die Slutwalk-Bewegung die ironische Überaffirmation einer Männerphantasie als Mittel benutzt, um den alltäglichen Porno-Bildern einen anderen Text entgegenzusetzen.
Eine Debatte über die Inhalte und die Form des Protests findet derzeit eher in feministischen Kreisen statt. Kritisiert wird unter anderem, dass diese Protestform suggeriere, sexualisierte Gewalt finde nur bei Frauen statt, die sich »freizügig« kleiden. Mit anderen Worten: Die Slutwalks würden einen Mythos aufrechterhalten, der »Frauen« durch ihre Kleidung definiert.
Kerstin: Wenn man sich nur auf das äußere Bild bezieht, dann stimmt diese Kritik auch. Aber es geht ja darum, Mitgefühl zu zeigen mit den Personen, die als »Sluts« beschimpft werden. In diesem Fall sollte man nicht das Bild von den Texten auf den Plakaten trennen.
Sandra: Slutwalk ist eine Protestform, die viele Frauen auch deshalb mobilisiert hat, weil sie ein anderes Bild abgibt als das Klischee von der körperfeindlichen Feministin. Slutwalk stellt in dieser Hinsicht ein befreiendes Moment dar. Frauen und Menschen aller Genders ziehen an, was sie wollen, sie zeigen die Körper, die sie haben, und verbinden ein ernsthaftes politisches Anliegen mit einem bisschen Spaß. Und die Mobilisierung funktioniert.
Kann das Wort »Schlampe« im feministischen Sinn wirklich zurückerobert werden? Funktioniert die affirmative Aneignung einer misogynen Sprache als Geste des Empowerment?
Sandra: Dazu muss man zunächst sagen, dass diese Geste nicht wirklich neu ist. Das gab es auch schon in der Riot-Grrrls-Bewegung in den neunziger Jahren. Diese Mädchen haben sich das Wort »Slut« auf die T-Shirts oder mit Lippenstift auf den Bauch oder auf die Brust geschrieben und gleichzeitig niedliche Haarspangen getragen, um auf die lächerliche Dichotomie »Hure oder Heilige« hinzuweisen. In ihren Songtexten und Fanzines thematisierten sie Vergewaltigung, Missbrauch, Magersucht und Homophobie.
Kerstin: Es geht auch darum, eine eigene kulturelle Ermächtigung zu schaffen. Heather Jarvis, eine der Organisatorinnen des Slutwalk in Toronto, hat es treffend formuliert, als sie gesagt hat: »Das Wort ›Slut‹ wird verwendet, ob wir es wollen oder nicht. Es ist ein übermächtiges Wort, das Menschen beleidigen und veletzen soll. Lass uns versuchen, ein wenig Unsicherheit in seine beleidigende Wirkung zu bringen.« Die selbsternannten Schlampen tragen Sprüchen auf ihren Transparenten, die man von einer »Schlampe« nicht erwarten würde. Bild und Text müssen zusammen betrachtet werden, nur so entsteht die Rekontextualisierung, und nur so kann die politische Aussage auch verstanden werden.
Handelt es sich also um einen Akt der sprachlichen Rebellion?
Kerstin: Wenn Vergewaltigungsopfer oder Personen, die sich mit ihnen solidarisieren, dieses Wort aufgreifen und in selbstausgedachten, originellen Slogans zurückschleudern, finde ich, dass es viel mehr ist als nur eine sprachliche Rebellion. Es ist eine starke kulturelle Aufführung.
Ist diese ironisch-hedonistische Form des Protests nicht sehr weiß, heterosexuell und middle-class-konnotiert?
Kerstin: Diese Kritik sehe ich ähnlich wie die Kritik am Begriff »Slut«. Es stimmt, dass sich diese Protestform zuerst aus der Perspektive einer weißen weiblichen Mittelschicht heraus entwickelt hat. Aber reicht das allein als Grund, diese Bewegung anzugreifen? Es muss auch nicht unbedingt schaden, wenn von dieser weißen, weiblichen Mittelschicht aus ein Protest ausgeht. Diesem Milieu wird ja ansonsten gerne Bequemlichkeit vorgeworfen und eine Affinität zum »Wellness-Feminismus« unterstellt.
Sandra: Außerdem müsste man untersuchen, inwiefern die Selbstdiffamierung durch den Begriff »Schlampe« überhaupt typisch für die Mittelschicht ist. Trotzdem wird dieser Punkt sehr ernst genommen. Im Mission Statement der Berliner Slutwalk-Gruppe wird auch der Wunsch betont, den Slutwalk aus einer queerfeministischen Perspektive heraus zu organisieren.
Es geht also nicht nur um männliche Gewalt gegen Frauen, sondern darum, wie die patriarchale Gesellschaft Sexualität nach heteronormativen Kriterien definiert?
Kerstin: Ja. Schon in Toronto haben die Organisatorinnen betont, dass Slutwalk sich gegen sexualisierte Gewalt richtet. Unter diesem Begriff versteht man auch Gewalt, die gegen Personen ausgeübt wird, deren sexuelle Ausrichtung nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht.
Sandra: Es geht darum, patriarchale Täterschaft zu skandalisieren. Da werden keine Unterschiede bezüglich der Geschlechter, der sexuellen Identität oder des sexuellen Begehrens der Betroffenen gemacht. Unser Motto ist: »Lass uns Märchenwesen sein!«
Besteht in Ihren Augen die Gefahr, dass der Slutwalk in einer Stadt wie Berlin bloß als unpolitisches Happening wahrgenommen wird?
Sandra: Diese Gefahr besteht. Vor allem, weil die Massenmedien die Slutwalks gerne auf die Bilder von übertrieben sexuell gestylten Menschen reduzieren. Genauso dabei sind aber auch Leute, die ihre normale Alltagskleidung tragen. Bei den Slutwalks gibt es keinen Dresscode, weil sie sich ja gegen Dresscodes richten.
Wie wir mit der Gefahr umgehen, dass der Spaßfaktor eine größere Rolle spielt als die politische Dimension, ist vor allem eine Frage der Kommunikation. Deshalb ist es uns sehr wichtig, wem wir Interviews geben und wie wir gegenüber der Öffentlichkeit auftreten.
Kerstin: Wir wollen nicht als eine Neuauflage der Girlies verstanden werden. Aber wir wollen schon, dass die Leute sich vom Happening angesprochen fühlen. Das Ziel ist, dass sich die Leute mit den Inhalten auseinandersetzen. Natürlich hat Berlin eine Tradition, was Happenings angeht. Umso wichtiger ist es, dass wir hier eine coole Party organisieren, und wenn Leute nur kommen, um sich zu amüsieren, werden unsere Inhalte dadurch nicht außer Kraft gesetzt.
Sandra: Im Zusammenhang mit dem Walk wird es Parties geben, und voraussischtlich eine EP mit den Bands Räuberhöhle, Doctorella und der Rapperin Sookee, die auch auf den Parties spielen werden.
Generell hat es in Deutschland Tradition, Feminismus auf Spaß herunterzubrechen. Als in den USA die Riot-Grrrl-Bewegung entstand, wurde hier das Girlietum gefeiert. Die Botschaft dazu lautete: Junge Mädchen haben es nicht mehr nötig, politisch zu sein, der Feminismus hat schon seine Ziele erreicht, denn jetzt darf jede einen kurzen Rock tragen und Karriere machen. Das war die Entsorgung von Feminismus.
Können Slutwalks wirklich etwas zur feministischen Debatte in Deutschland beitragen?
Kerstin: In den letzten Jahren ist viel passiert in Deutschland in Sachen Feminismus. Man hat das Gefühl, dass die Dritte Welle der Frauenbewegung auch hier angekommen ist. Insofern kann man Slutwalk als einen weiteren Ausdruck von Feminismus sehen, neben den anderen Formen, die natürlich weiter existieren. Es ist ein spielerischer Umgang mit diskursiven Versatzstücken. Alles ist schon da gewesen, es geht darum, die Klischees zu zerlegen und daraus neue Bilder zu schaffen.
Das ist heute wichtig, denn wie die britische Feministin Angela McRobbie in ihrem Buch »Top Girls« analysiert, hat in den nuller Jahren ein antifeministischer Backlash in Form einer Retraditionalisierung von Geschlechterregimes stattgefunden. Eine Art neoliberaler Feminismus hat sich durchgesetzt. Sendungen wie »Germany’s Next Top Model« sind nur eine extreme, trashige Form davon. Da kämpft jedes Mädchen gegen die anderen um die Selbstvermarktung des eigenen Körpers. Meine persönliche Utopie wäre, dass die Bewegung, die aus den Slutwalks entsteht, wieder den Schwerpunkt auf Solidarität und nicht auf Individualismus setzt.
Können Sie etwas zum geplanten Walk in Berlin sagen?
Sandra: Die Berliner Gruppe besteht aus rund 20 Leuten. Dabei sind Musikerinnen, Bloggerinnen, Studentinnen, Pädagoginnen, Rapperinnen, Sexarbeiterinnen, Genderaktivistinnen und Schriftstellerinnen. Der Slutwalk Berlin findet am 13. August statt. Auf der Website slutwalkberlin.de gibt es ein vorläufiges Manifest. Auch in vielen anderen deutschen Städten werden an diesem Tag Slutwalks stattfinden. Geplant ist auch ein Global Slutwalk weltweit.
Sie haben in den nuller Jahren mit Parole Trixi eine der wenigen deutschsprachigen Riot-Grrrl-Bands gegründet. Sehen Sie sich persönlich in der Tradition der Riot-Grrrl-Bewegung?
Sandra: Ja, mit Parole Trixi habe ich mein musikalisches Statement zum Thema Feminismus bereits gemacht. In den Elektropop- und Rock-Chansons unserer neuen Band, Doctorella, stehen daher andere Themen und eine andere Ästhetik im Vordergrund. Auf unserem neuen Album, »Drogen und Psychologen«, gibt es keinen einzigen explizit feministischen Song. Wir halten mittlerweile unser Engagement für den Feminismus aus unserer Kunst heraus. Auch das ist Riot-Grrrl-Spirit! Als Songschreiberinnen und Sängerinnen haben wir universelle Ausdrucksformen gefunden.