Über die Platzbesetzung in Barcelona

Klassenkampf auf Spanisch

Wie geht es weiter für die »Bewegung der Empörten« in Spanien nach den Platzbesetzungen und Aktionen wie der Blockade des Regionalparlaments in Barcelona? Die Bewegung ist sehr heterogen und sucht nach Bündnissen, um die sozialen Proteste in die Gesellschaft zu tragen.

In Katalonien gibt es traditionell eine sehr aktive Zivilgesellschaft, das Mobilisierungspotential für außerparlamentarischen Protest ist groß. Die spanischen indignados, die »Empörten«, haben sich in den vergangenen Wochen vor allem auf den Protest am 15. Juni konzentriert. Im Parlament steht an diesem Tag nicht nur die erste Lesung des Haushaltsgesetzes an, gegen das etwa die Beschäftigten des Bildungs- und Gesundheitssektors bereits seit Monaten protestieren. Auch ein »Vereinfachungsgesetz«, das unter anderem Privatisierungen und die Kürzung von Sozialleistungen vorsieht, soll dort vorgestellt werden. Ziel der Aktion des »zivilen Ungehorsams« ist es, die Abgeordneten abzufangen und die Sitzung zu verhindern.
Das Parlamentsgebäude liegt im einzigen größeren Park des Stadtzentrums, der deshalb komplett abgeriegelt wurde. An dem einzigen Zugang, den die Polizei offen hält, haben sich bereits um acht Uhr morgens über 2 000 Menschen versammelt. Am Vorabend sind ähnlich viele Demons­trantinnen und Demonstranten hier gewesen, die eigentlich im Park campen wollten, doch der war bereits verriegelt. Rund 900 Menschen legten sich kurzerhand in den umliegenden Straßen schlafen.

Die Stimmung am Morgen ist gespannt. Von den Versammelten dürfte kaum jemand älter als Mitte dreißig sein. Drei ältere Männer stehen hinter der Masse, die sich an die Absperrgitter drängt. Sie halten DIN-A4-Blätter vor sich, auf denen gedruckt steht: »Demokratie, eigentlich mag ich dich ja, aber du wirkst so abwesend.«
Dass hier viele meinen, durch ihre Aktionen auf der Straße die »wahre Demokratie« zu verkörpern, drückt sich auch in den Parolen aus, die auf die Parkmauer gesprüht wurden. »Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankern«, ist dort zum Beispiel zu lesen.
An zwei weiteren Parkeingängen stehen jeweils rund 200 Menschen, immer mehr drängen sich jedoch zum Haupteingang. Dort, wo die Aktivistinnen und Aktivisten in der vorigen Nacht campiert haben, ist viel rosa Farbe auf der Straße zu sehen. Auch die Statuen wurden bemalt. Der Gitterzaun des Parks ist mit Transparenten behängt. Die Parkeingänge sind nun auch von außen mit allerlei Material blockiert. Um es eine Belagerung zu nennen, sind zu wenige Menschen hier, aber der Polizeihubschrauber sorgt wenigstens für ein bisschen Dramatik.
Am späten Vormittag ist ein erster Erfolg zu verzeichnen. Die Abgeordneten müssen einen anderen Eingang benutzen, denn die Protestierenden werden immer zudringlicher. Auch Gummigeschosse sind zu diesem Zeitpunkt bereits abgefeuert worden, von Polizisten, die offenbar Abgeordnete außerhalb der Absperrungen in Empfang nehmen wollten und dabei angeblich von allen Seiten bedrängt wurden.
Als die Sitzung beginnt, verzieht sich der Protest weitestgehend. An einem Parkeingang haben einige hundert Leute eine Sitzblockade organisiert. Als eine Fernsehkamera die Aktion filmen will, schlägt eine Teilnehmerin vor, einfach still sitzen zu bleiben, um ein friedliches Bild zu vermitteln. Die Mehrheit der Anwesenden stimmt zu, ein bis zwei Minuten lang herrscht Stille, viele strecken die Hände in die Luft. Andere wollen lieber ein kämpferisches Bild abgeben und beginnen, Parolen zu rufen. Es kommt zu heftigen Diskussionen. Der Konflikt zwischen den Befürwortern eines rein passiven Widerstands und jenen, die für ein kämpferisches Auftreten gegenüber der Polizei eintreten, ist immer wieder zu spüren.
Obwohl die Aktion vor dem katalanischen Parlament alles in allem vergleichsweise unspektakulär verläuft, ist am folgenden Tag in einigen großen Zeitungen zu lesen, die Blockade sei eine »terroristische« beziehungsweise »faschistische« Aktion gewesen. Ein Kern von 300 bis 400 Leuten sei gewillt, Demonstrationen für Randale zu nutzen und die Stadt ins Chaos zu stürzen. Dabei seien die Randalierer fast so gut ausgerüstet wie die Polizei. Der katalanische Innenminister spricht von »exzessiver Gewalt« und einer neuen Form der Stadtguerilla, sein Regierungschef zieht eine Parallele zu den Anschlägen im Baskenland, die aus Solidarität mit der Separatistentruppe Eta verübt werden.
Festgenommen wurden sieben Personen. Einer wird Sachbeschädigung vorgeworfen, den anderen Störung der öffentlichen Ordnung oder Widerstand gegen die Polizei. Die Parlamentspräsidentin kündigt an, die Behinderung von Abgeordneten beim Parlamentszugang unnachgiebig zu verfolgen. Darauf stehen mehrjährige Haftstrafen.

Die Wut, die am Mittwoch vor dem Parlament zu spüren war, ist das Ergebnis eines Prozesses, den viele Spanierinnen und Spanier als historisch bezeichnen. Was sich in den Wochen vor dieser Aktion rund um den zentralen Katalonien-Platz in Barcelona abgespielt hat, war für viele Menschen hier eine große Überraschung.
Lluis und Javi erzählen in ihrem besetzten Haus im Zentrum der Stadt, wie alles begann. Am 16. Mai, als sich die Nachricht von der spontanen Besetzung des zentralen Platzes in Madrid verbreitete, wurde im Internet zur Besetzung des Katalonien-Platzes in Barcelona aufgerufen. »Ich bin gerne dort, wo die Volksklassen kämpfen«, sagt Lluis. Er ging also zum Katalonien-Platz, traf jedoch nur auf rund 150 Personen, von denen dann 30 mit ihm zusammen dort nächtigten. »Zuerst waren nur die üblichen Verdächtigen anwesend. Doch nach zwei Tagen hatte sich die Zahl der an den abendlichen Versammlungen Teilnehmenden vervielfacht.«
Wer nicht campen konnte, brachte Lebensmittel oder Geld vorbei. Die Solidarität war groß. »Jemand hat sogar seine Wohnung zum Duschen angeboten«, erzählt Javi. Professionelles Küchenpersonal habe die Küche organisiert, die ersten Toilettenhäuschen habe eine Firma kostenlos angeboten. »Bald gab es sogar zu viele Essens- und Geldspenden. Auch die Freiwilligen wurden von Tag zu Tag mehr.«
Edurne Bagué bestätigt das. Sie übernachtete zwar nicht wie die anderen beiden auf dem Platz. Die Katalanin, die gerade ihre Master-Arbeit in Ethnologie abgegeben hat, war jedoch ebenfalls von Anfang an dabei. »Beeindruckt hat mich nicht nur der ständige, ungeheure Zuwachs an Protestwilligen, der noch in der ersten Woche zu einer Abendversammlung mit 10 000 Menschen geführt hat, sondern auch, dass das Camp sich selbst mit Strom versorgte und dass seit dem ersten Abend eine gewisse In­frastruktur samt Internet vorhanden war.«
Über das Internet sei jeglicher Bedarf mitgeteilt worden, die Resonanz sei unglaublich gewesen, erzählt Edurne, die sich mit ihren 35 Jahren »sehr alt« fühlte, als sie sah, »wie die jungen Leute mit ihren Smartphones ständig auf dem Laufenden darüber waren, was in Madrid passierte«. Innerhalb von drei Wochen seien 10 000 Euro an Spenden abgegeben worden. »Bis zum 27. Mai gab es den ganzen Tag über für alle gratis Essen, noch dazu sehr gutes Essen.«
Den 27. Mai bezeichnet Bagué als unvergesslich für alle Beteiligten: »Fremde fielen sich vor Freude in die Arme. Es war sehr rührend.«

Dabei hatte dieser Tag denkbar schlecht angefangen. Die Polizei hatte in den frühen Morgenstunden das Camp gestürmt, angeblich um die Reinigung des Platzes zu ermöglichen. Am folgenden Tag sollte nämlich das Finale der Champions Lea­gue zwischen dem FC Barcelona und Manchester United stattfinden, und die Polizei wollte alles von dem Platz entfernen, was die erwarteten feiernden Fußballfans behindern oder zu Ausschreitungen veranlassen könnte. Zu den störenden Gegenständen wurden auch Transparente, Computer und Webkameras gezählt, die allesamt in den Lastwagen der Müllabfuhr landeten.
Während die Polizei das Camp zerstörte und die rund 500 anwesenden Personen in der Mitte des Platzes zusammendrängte, versammelten sich immer mehr Menschen auf allen Seiten des Platzes und machten den Beamten mit Sitzblockaden zu schaffen. Rund 80 Menschen wurden dabei verletzt oder von Gummigeschossen getroffen. Über den Abzug der Polizei berichten die Beteiligten heute noch sehr emotional. »Viele Leute ließen sich trotz Prügel nicht vertreiben, sie setzten sich immer wieder vor die Polizei. Es war ein seltener Moment kollektiver Selbstermächtigung«, erzählt Lluis.
Der Rückzug der Polizei war vermutlich geplant, verlief aber chaotisch. »Zum Schluss sind Polizisten mit mehreren Wagen um den Platz gefahren und haben aus den offenen Türen Gummigeschosse abgefeuert«, erzählt Edurne Bagué.
Das Camp wurde nach der Räumung wieder aufgebaut. Die Küche und die Bibliothek mit ihren angeblich 800 Büchern standen wieder mit vielen anderen Ständen in einem großen Kreis.
Am 5. Juni beschloss eine Mehrheit der Teilnehmenden, den Platz zu verlassen. Doch auch nach einem weiteren Auflösungsbeschluss gibt es noch immer Protestierende auf dem Katalonien-Platz. Abends wird dort Musik gemacht, zu den Versammlungen kommen jedoch nur noch wenige hundert Menschen. Das Zentrum der Bewegung existiert nicht mehr. Die Debatten finden nun in den Plena und Plenumskommissionen der Stadtteile statt.
Bereits in den allerersten Tagen des Camps ging die Kommission »Ausdehnung« an die Basis. Stadtteilversammlungen haben eine lange Tradition in Barcelona. Im vergangenen Jahr waren es diese Versammlungen, die den erfolgreichen Generalstreik vom 29. September vorbereiteten. Diese Versammlungen haben sich nun reaktiviert und zusammengeschlossen. Aus rund einem Dutzend Stadtteilversammlungen sind zwei große geworden, mit jeweils 100 bis 300 Teilnehmenden. In den vergangenen Wochen gab es dann Koordinationstreffen, auf denen auch die Versammlungen aus kleinen Städten ganz Kataloniens vertreten waren.

Auf dieser Basis wurde auch der »globale Aktionstag« am Sonntag vorbereitet. Obwohl es eine Demonstration gegen die europäische Krisenpolitik und den Euro-Pakt war, waren kaum Plakate zu diesem Thema zu sehen. Auch Parteien und Gewerkschaften waren nicht sichtbar vertreten, selbst die ansonsten allgegenwärtigen katalanischen Nationalisten zeigten sich lediglich mit knapp einem Dutzend Flaggen. Die überwiegend handgemalten Transparente und Plakate transportierten die derzeit in Spanien gängigen Protestinhalte. Selbst das Motto der Demonstration und das Fronttransparent kamen ohne Europa-Bezug aus: »Die Straße ist unser. Wir zahlen nicht für eure Krise!«
In Barcelona und in Madrid beteiligten sich jeweils etwa 100 000 Menschen an dem Aktionstag, weitere Demonstrationen gab es in rund 50 Städten. Der Tag gilt als Erfolg für die Bewegung, sie habe sich ausgeweitet und gezeigt, dass in ihr »alle sozialen Profile« vertreten seien, hieß es in El Periódico am Montag.
Tatsächlich ist die Bewegung der Empörten in Spanien und auch innerhalb der Großstädte sehr heterogen. Es gibt etwa Forderungen nach einem Referendum, das eine Änderung des Wahlsystems durchsetzen soll, oder nach einem radikaleren Umbau der Bewegung nach dem Modell der Stadtteilversammlungen. Zumindest in Barcelona scheint nicht klar zu sein, wie der Protest weitergehen wird. Doch der Zusammenschluss mit partikularen Bewegungen, wie der gegen die Zwangsräumungen von Menschen, die ihre Hypothekenschulden nicht mehr zahlen können, zeitigt erste Erfolge: In den vergangenen Wochen wurden in etlichen Orten Räumungen verhindert.