Nico Voigtländer im Gespräch über die Geschichte des Judenhasses in deutschen Städten

»Pogrome als Indikator«

»Persecution perpetuated – the medieval origins of anti-semitic violence in Nazi Germany« – so heißt eine Studie, die die Wirtschaftswissenschaftler Hans-Joachim Voth und Nico Voigtländer kürzlich veröffentlicht haben. Das Ergebnis der Untersuchung: Der Judenhass in Deutschland hat auf lokaler Ebene 600 Jahre überdauert. In Städten, in denen sich im Mittelalter Pogrome gegen Juden ereigneten, wurden zur Zeit der Weimarer Republik häufiger antisemitische Gewalttaten verübt und mehr Wählerstimmen für die NSDAP abgegeben als in Städten, die im Mittelalter ihre jüdische Bevölkerung in Frieden ließen. Nico Voigtländer ist Assistenzprofessor an der University of California in Los Angeles und hat mit der Jungle World über die Studie gesprochen.

Warum beschäftigen sich zwei Wirtschaftswissenschaftler mit antijudaistischen und antisemitischen Gewalttaten, zwischen denen 600 Jahre liegen?
Es gibt ökonomische Studien, die sich mit dem Einfluss der Pest auf die europäische Wirtschaft im Mittelalter beschäftigen. An der Pest starb beinahe die Hälfte der Bevölkerung in Europa, die wirtschaftlichen Auswirkungen waren verheerend und langfristig. Schnell wurden die Juden zu den Verursachern der Seuche erklärt, die entsprechenden Gerüchte beispielsweise über Brunnenvergiftungen verbreiteten sich in ganz Europa. In manchen Städten gab es Pogrome, in anderen hingegen nicht. Das ist uns aufgefallen.
Daraus haben wir unsere Ausgangsannahme entwickelt: Wahrscheinlich ist in Städten, in denen es Pogrome gab, der Antisemitismus stärker gewesen als dort, wo es keine Judenverfolgungen gab – das war unsere Grundannahme für die Statistik. Wir haben also überlieferte Pogrome als einen Indikator für mittelalterlichen Antisemitismus herangezogen.
Sie haben dann festgestellt: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass in Städten, in denen im Mittelalter Pogrome verübt wurden, auch in der Weimarer Zeit Gewalttaten geschahen und die Zustimmung zur antisemitischen NS-Politik groß war. Lässt sich allein anhand dieser Tatsachenfeststellung etwas über die antisemitische Tradition in deutschen Städten sagen?
Was man mit unserer Studie sicher nicht machen kann, ist, sich eine einzelne Stadt herauszupicken und zu sagen: Diese Stadt hatte ein Pogrom im Jahr 1349, deshalb war sie auf jeden Fall auch später antisemitisch. Aber statistisch gesehen ist die Schlussfolgerung zulässig, dass antisemitische Überzeugungen in jenen Städten wahrscheinlicher waren, die bereits 600 Jahre vorher durch Pogrome aufgefallen sind.
Wir haben in unserem Datensatz 1 200 Städte, davon hatten 300 im Mittelalter jüdische Siedlungen. In einem Drittel dieser Städte wurden die Juden nicht wegen der Pest verfolgt, in den verbleibenden zwei Dritteln gab es Pogrome. 600 Jahre später kann man in diesen etwa 220 Orten im Durchschnitt größere antisemitische Tendenzen feststellen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass es dort in den zwanziger Jahren im Durchschnitt mehr Pogrome sowie größere Stimmanteile für die NSDAP gab. Außerdem gab es mehr Deportationen und antisemitische Leserbriefe an das Propagandablatt Der Stürmer.
An welchen Faktoren lässt sich die Kontinuität des Judenhasses festmachen? Gibt es beispielsweise konfessionelle Unterschiede, die die Beständigkeit beeinflussen?
Ob eine Stadt irgendwann protestantisch wurde oder nicht, wurde in unserer Untersuchung als eine Variable berücksichtigt. Protestantische Städte waren im Durchschnitt antisemitischer als katholische.
Es gibt aber auch andere Faktoren. Betrachtet man beispielsweise die Hansestädte, dann fällt auf: Die antisemitische Beständigkeit über 600 Jahre hinweg gab es dort nicht. Unsere spekulative Erklärung ist: Hansestädte pflegten ausgiebige Handelsbeziehungen. Anderen Geschäftsleuten gegenüber offen zu sein, war profitabel. Hätte ein Händler seinem Sohn beigebracht, keine Geschäfte mit Juden zu machen, wäre das unter Umständen von ökonomischem Nachteil gewesen. Offenheit hat sich bezahlt gemacht.
Ein weiterer Faktor ist das Bevölkerungswachstum: Städte, die zwischen 1349 und 1930 erheblich gewachsen sind, weisen statistisch ebenfalls keine Beständigkeit des Antisemitismus auf. Unsere Interpretation ist: Ein Wachstum von 10 000 auf 600 000 Einwohner geschieht nicht allein durch Neugeburten. Da müssen Menschen zugezogen sein. Durch diese Leute von außerhalb wurden lokale Überzeugungen verändert.
In Ihrer Studie ist stets von Antisemitismus die Rede, nicht etwa von religiösem Antijudaismus, wenn es um die mittelalterlichen Pogrome geht. Wäre eine solche Unterscheidung nicht notwendig, um das Wesen des Antisemitismus und seine Veränderungen genauer zu bestimmen?
Wir können in unserer Studie nicht hundertprozentig feststellen, ob das, was sich im Mittelalter ereignete, nun spezifisch antisemitisch war oder eher einer allgemeinen Form von Fremdenhass entsprang. Die Juden waren einfach die größte Gruppe, die als fremd, anders und nicht zugehörig wahrgenommen wurde. Wir können mit unserer Studie auch nicht erklären, was die tiefliegende Ursache für Antisemitismus ist. Wir können nicht beantworten, weshalb die Bewohner der Städte, in denen 1349 Juden ermordet wurden, antisemitisch waren. Außerdem wurden Pogrome im Mittelalter nicht unbedingt durch Antisemitismus allein hervorgerufen. Mancherorts spielten auch politische und soziale Faktoren eine Rolle.
Sie ziehen auch die Zahl der Wählerstimmen, die die NSDAP in den verschiedenen Städten erhielt, als Beleg für die Kontinuität des Judenhasses heran.
Ja. Was jedoch interessant ist: Unsere Studie lässt den Schluss zu, dass man nicht mit dem Antisemitismus erklären kann, warum die NSDAP 1933 etwa 45 Prozent der Stimmen gewonnen hat. Man kann es nicht mit der Zustimmung zum Antisemitismus erklären, dass Hitler Reichskanzler wurde. 1928, als die NSDAP noch nicht so bedeutsam war und noch überwiegend mit äußerst antisemitischer Propaganda in Erscheinung trat, erhielt die Partei einen Großteil der Stimmen eben wegen ihres Antisemitismus. In den Jahren nach 1928 trat der Antisemitismus in der Propaganda in den Hintergrund, die NSDAP wollte nicht nur die Stimmen der Antisemiten, sondern der breiten Masse. Daraus leiten wir ab: Der Antisemitismus hat nicht direkt dazu geführt, dass Hitler an die Macht kam.
Daniel Goldhagen wäre in diesem Punkt sicher anderer Meinung. Sie erwähnen Goldhagen und seine Forschungsarbeit auch in Ihrer Studie. Widersprechen Ihre Ergebnisse seinen Thesen?
Zum speziellen Begriff des eliminatorischen Antisemitismus sagen wir nichts. Man kann unsere Untersuchung sicher nicht als Bestätigung von Goldhagens Thesen sehen. In einem Aspekt gibt es aber Übereinstimmungen. Goldhagen behauptet, es habe in Deutschland einen historisch und kulturell tief verwurzelten Antisemitismus gegeben, was wir bestätigen können: Auf lokaler Ebene gibt es diese antisemitischen Wurzeln.
Das heißt aber nicht, dass es eine solche Beständigkeit des Antisemitismus nicht auch in spanischen oder englischen Städten gegeben hat. Das wurde noch nicht untersucht. So gibt es in manchen spanischen Dörfern ein Kinderspiel mit dem Namen »Töte den Juden!«, das noch heute zu Ostern gespielt wird.
Wenn sich der Judenhass in deutschen Städten über 600 Jahre hinweg erhalten hat, stellt sich die Frage: Was ist aus ihm nach dem Ende des Nationalsozialismus geworden? Wäre das nicht ein Anstoß für eine weitere Studie?
Wir würden tatsächlich gern herausfinden, ob in den von uns betrachteten Städten immer noch eine Kontinuität antisemitischer Einstellungen festzustellen ist. Ein wichtiger Faktor hat sich natürlich erheblich verändert: die Mobilität. Der Austausch der Bevölkerung geht heutzutage schneller vonstatten. Wer heute in Berlin wohnt, muss nicht dort geboren worden sein oder gar Großeltern haben, die auch schon in der Stadt gelebt haben. Deshalb würden wir nicht erwarten, dass sich statistisch eine Kontinuität von 1349 über 1930 bis heute erkennen lässt.
Eine Herausforderung ist es auch, entsprechende aktuelle Daten über deutsche Städte zu bekommen. Es gibt durchaus Umfragen zu antisemitischen Einstellungen, die aber in der Regel nicht auf lokaler Ebene erhoben und zur Verfügung gestellt werden. Es werden meist nur Daten veröffentlicht, in denen mehrere Landkreise zusammengefasst sind. Das macht eine Studie schwierig, aber wir arbeiten daran.