Saskia Sassen im Gespräch über die Logik der Vertreibung in den Metropolen

»Die Stadt ist der Ort, an dem das globale Kapital sichtbar wird.«

Die Stadtsoziologin Saskia Sassen über die Logik der »Vertreibung« in den Metropolen des Weltmarktes

Sie haben den Begriff der »Global City« geprägt und über die Mobilität von Kapital und Arbeit, also über Globalisierung und Migration geschrieben. Wenn wir nach Nordafrika oder auch nach Spanien schauen, scheint es so, als seien die großen Städte nicht nur die »Kommandozentralen« der Weltwirtschaft, sondern auch die des Protests?
Die Global City hat ihre Wirtschaft internationalisiert, und nun internationalisieren sich ihre Einwohner und Kulturen. Die gleichzeitige Präsenz von massiver Konzentration von unternehmerischem Wohlstand und Macht auf der einen und massiver Konzentration von benachteiligten Bevölkerungsgruppen auf der anderen Seite macht die Stadt zu einem umkämpften Gebiet. In der Global City konzentriert sich Diversität. Ihre Räume sind nicht nur von der dominanten Unternehmenskultur durchdrungen, sondern auch mit verschiedenen anderen Kulturen und Identitäten, vor allem durch die Immigration. Es ist offensichtlich: Die dominante Kultur kann nur einen Teil der Stadt durchdringen. Und auch wenn die unternehmerische Macht nichtunternehmerischen Kulturen eine »Andersartigkeit« zuschreibt und sie damit abwertet, sind sie doch überall präsent. Die migrantischen Communities und informellen Ökonomien von Los Angeles und New York sind nur zwei Beispiele. Die Stadt bietet den Machtlosen und Marginalisierten auch Möglichkeiten.
Die Mächtigen und die Machtlosen bewohnen mehrheitlich je eigene abgegrenzte Räume, aber es gibt auch wichtige Berührungspunkte, zum Beispiel zwischen Geschäftsmann und Pförtner im Bürogebäude, aber auch mit dem Babysitter oder der Reinigungskraft im Privathaus. Weil die städtische Präsenz dieser Menschen eine spezielle »Lokalisation« des Globalen in Städten wie New York und Los Angeles bedeutet, können wir beobachten, wie der urbane Raum selbsttätig neue politische Identitäten und Praktiken schafft. Dieselben Individuen würden in einem anderen Kontext, sagen wir auf einer großen agroindustriellen Farm, eine andere Identität annehmen. Besonders Immigranten sind in vielerlei Hinsicht informelle Bürger in der Global City.
Die Bedeutung des Raums im Zusammenhang mit den Globalisierungsprozessen hat Konsequenzen. Als Resultat der Transnationalisierung von Arbeitsmärkten entwickeln sich Identitäten und Loyalitäten in den verschiedenen Segmenten der Bevölkerung der Global City, die explizit die imaginierte Gemeinschaft der Nation zurückweisen. Damit einhergehend entwickeln sich neue Solidaritäten und Zugehörigkeitsvorstellungen. Ergebnis der zuvor geschilderten Prozesse ist die Denationalisierung des städtischen Raums und die Entwicklung von neuen Ansprüchen der transnationalen Communities. Dadurch wird die Global City zum Kampffeld für neue Formen des Engagements. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, ob ein Raum für eine neue Politik entstehen kann, die über eine Politik der Kultur und Identität hinausgeht, auch wenn sie vermutlich zumindest teilweise in diese eingebettet bleiben muss.
Welche Rollen spielen im Prozess der Globalisierung und Transnationalisierung die Bourgeoisie und das Proletariat?
Bourgeoisie und Proletariat sind heute nicht mehr die historischen Subjekte. Ich denke, heute gibt es keine Bourgeoisie mehr, es gibt »bourgeois people«, und auch das Proletariat gibt es nicht mehr, außer vielleicht in Ländern wie China und Südkorea.
Ich sehe heute zwei andere historische Subjekte. Das eine ist das, was wir der Einfachheit halber »das globale Kapital« nennen können. Damit meine ich einen Mix aus Technologien, Netzwerken, Wohlstand und Menschen, nämlich Managern, Eliten, Professionals etc.
Das andere historische Subjekt ist ein Amalgam aus benachteiligten Menschen. Die Armen, unterbezahlte Arbeiter und Arbeitslose, Studenten, die alles für ihre Bildung opfern und dann keinen Job bekommen, die Söhne und Töchter der verarmenden Mittelklasse, Immigranten, durch Rassismus, Homophobie und anti-queeres Ressentiment minorisierte Menschen, Menschen die enteignet wurden, das Lumpenproletariat.
Diese beiden Gruppen ähneln aber eher Sammlungen, Assemblagen von Elementen, man kann sie nicht als Klassen bezeichnen. Beide Akteure sind Minderheiten – so wie die Bourgeoisie und die Arbeiterklasse gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
Und welche Rolle spielt die Stadt für diese beiden Gruppen?
Das globale Kapital ist meistens und mehrheitlich sehr flüchtig, schwer zu fassen, aber von Zeit zu Zeit ist es fassbar und zeigt sich in den Global Cities. Es sind Männer und Frauen, die alles wollen und alles kriegen und einen riesigen urbanen Fußabdruck hinterlassen. Und an diesem Punkt kommt die Gentrifizierung ins Spiel, könnte man sagen. Die Stadt ist der Ort, an dem das globale Kapital sichtbar wird. Und in dieser Sichtbarkeit liegt die Möglichkeit einer politischen Antwort.
Natürlich warten die benachteiligten und minorisierten Gruppen nicht darauf, diese Möglichkeit zu nutzen, weil sie damit beschäftigt sind zu überleben. Die Stadt ist für diese Menschen nicht deswegen wichtig, weil sie darin gegenüber der Macht sichtbar werden und sie politisch herausfordern können. Es ist nicht das hegelianische Herr-Knecht-Verhältnis, sondern es geht darum, dass sie füreinander sichtbar werden, dass sie sehen, dass sie viele sind und dass sie verschieden sind. Und auch sie finden in der Stadt einen Raum, um ihr Projekt zu verwirklichen. Sie müssen nicht die gleiche Politik verfolgen, sie müssen sich nicht mögen oder miteinander kommunizieren. Sie brauchen nicht Facebook oder die Kirche. Sie sind einander gegenwärtig. Daraus kann potentiell immer das Politische entstehen. Und das war es, was am Tahrir-Platz geschah.
Die Stadt wird zum Kampffeld für neue Formen der Politik, des Politischen, haben Sie gesagt. Was halten Sie von dem aktuell in Deutschland sehr populären Slogan und dem Konzept vom »Recht auf Stadt«? Ist es nützlich?
Ja, das ist es. Diese Forderung ist gerechtfertigt durch die massive Verdrängung in so unterschiedlichen Städten wie Mumbai und New York. Im Grunde haben wir das schon in den achtziger Jahren kommen sehen. Ich erinnere mich, dass ich damals einen Artikel geschrieben habe, den ich mit der Frage betitelt habe: »Wem gehört die Stadt?«
Global Cities, von denen es heute über 100 gibt, repräsentieren diese Entwicklung am ex­tremsten. Die meisten Städte entwickeln sich in diese Richtung, wenn auch oft weniger brutal. Auch heute, nach all den Kämpfen, müssen wir die Frage stellen: »Wem gehört die Stadt?« Stellen Sie sich vor, die Daten des amerikanischen Zensus von 2010 zeigen, dass sich in New York sowohl der reichste Bezirk – Manhattan – als auch der ärmste – die Bronx – der gesamten USA befinden.
Welchen Beitrag zum Empowerment der Unterdrückten kann kritische Wissenschaft heute leisten, und wo sind ihre Grenzen?
Kritische Wissenschaft kann den Missbrauch von existierenden Prinzipien offenlegen. Auf der ganzen Welt gibt es Bataillone von Wissenschaftlern, die das tun, aber sie stellen nicht die Mehrheit in der akademischen Welt.
Viele Akademiker halten ihren kleinen Laden am Laufen, ihre kleine Idee, die ihre Arbeit ausmacht, und sie beschützen sie für den Rest ihres Lebens. Ich will kein kleiner Ladenbesitzer sein. Es gibt eine Menge kritischer Akademiker, zu denen auch ich mich zählen würde. Aber wir sind eine Minderheit. Die professionelle akademische Welt kann nicht verstehen oder wertschätzen, dass die Menschen wirklich mit der komplexen Realität kämpfen und versuchen, diese zu verstehen. Was die Möglichkeiten kritischer Wissenschaftler angeht, kann man immer sagen: Es gibt Grenzen. Aber wenn sie nur auf die Grenzen gucken, werden sie entscheiden: »Was sollte mich das angehen?« Deswegen sollte man nicht auf die Grenzen gucken. Es gibt immer die Möglichkeit, etwas zu tun.
Als der deutsche Stadtsoziologe Andrej Holm im Jahr 2007 wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhaftet wurde, haben Sie und Ihr Mann Richard Sennett sich wie auch viele andere Soziologen mit dem Beschuldigten solidarisiert. Die Behörden waren nach einer Internetrecherche auf Holm aufmerksam geworden, weil er zu Begriffen wie »Gentrification« und »Prekarisierung« gearbeitet hatte, die auch die »Militante Gruppe« in ihren Bekennerschreiben verwendet hatte. Deshalb wurde er über ein Jahr observiert.
Ich habe damals einen Beitrag für den Guardian geschrieben. Wenig später nahm der Fall eine Wendung und war dann nicht mehr ganz so lächerlich wie zuvor. Die Kritik der Gentrifizierung beschreibt einen Prozess, einen Ablauf, der viele Menschen verdrängt hat. Darüber haben wir eigentlich viele Daten. Die Erkenntnis, dass Gentrifizierung Menschen vertreibt, ist nicht revolutionär, sondern das Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse.
Vor Kurzem habe ich mich an einem großen Protest auf dem Uni-Campus in Puerto Rico beteiligt, den die Studenten für mehrere Monate besetzt haben. Sie haben dort eine alternative Ökonomie geschaffen, ihr eigenes Gemüse angebaut, sie haben sich künstlerisch betätigt und sich gegenseitig Dinge beigebracht, und ich habe darüber einen Artikel für die Huffington Post geschrieben. Auch der hat eine weite Verbreitung gefunden und geholfen, das bekannt zu machen. Es ist ein Patchwork kleiner Interventionen. Wir müssen in Kontakt mit dieser Unordnung kommen – und dazu wird man in der akademischen Welt nicht befähigt –, mit der Unordnung einer scheinbar willkürlichen, beliebigen, eigenmächtigen Welt des politischen Protests und der kleinen politischen Initiativen. Etwas publik zu machen und es zu verbreiten, ist machtvoller, als man manchmal denkt, wenn man alleine im Büro sitzt.
Sie arbeiten gerade an Ihrem nächsten Buch mit dem Titel »When territory exits existing framings«. Können Sie uns einen kleinen Einblick geben, worum es in dem Buch geht?
Mein neues Buch baut auf meinem letzten Buch »Das Paradox des Nationalen – Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter« auf. Eine zentrale These des neuen Buches ist die, dass wir in den letzten Jahrzehnten den Wechsel von einer Logik der Inkorporation zu einer der Vertreibung erlebt haben.
In der keynesianistischen Periode herrschte die Logik vor, die Menschen als Konsumenten zu integrieren. Integration heißt nicht, nett zu den Menschen zu sein, aber die Menschen wurden zumindest gebraucht für eine Ökonomie der Massenproduktion, des Massenkonsums, des massenhaften Baus von suburbanen Häusern. In der gegenwärtigen Periode, die in den achtziger Jahren begonnen hat, ist die Logik des Systems die der Vertreibung. In den letzten zwei Dekaden war die Zahl der Vertriebenen höher als die derjenigen in den neu integrierten Mittelklassen in Ländern wie Indien und China.
Ich benutze den Begriff »Vertreibung« in Abgrenzung zu »Exklusion« und auch darüber hinaus. Exklusion ist eine bekannte und gut entwickelte Kategorie. Soziale Ausschließung findet innerhalb des Systems statt. Ich will mich dagegen mit denen beschäftigen, die aus dem System vertrieben werden. Ich nutze »Vertreibung« um ganz verschiedene Bedingungen zu beschreiben: die einer steigenden Zahl in bitterer Armut Lebender, die der Vertriebenen, die in armen Ländern in informellen oder formellen Flüchtlingslagern »gelagert« werden, die der Minorisierten und Verurteilten, die in reichen Ländern in Gefängnissen »aufbewahrt« werden, die der Arbeiter, deren Gesundheit durch den Job, den sie machen, zerstört worden ist und die deshalb viel zu jung nutzlos geworden sind, und die der körperlich fitten, aber überschüssige Bevölkerung, die in Ghettos und Slums gehalten wird. Und ich berücksichtige auch die Tatsache, dass die Söhne und Töchter der Mittelschicht, die seit dem Ende der globalen Moderne im Schrumpfen begriffen ist, in Zukunft eine schlechtere Bildung, ein geringeres Einkommen und eine sehr viel geringere Chance auf ein eigenes Haus haben werden als ihre Eltern. Das zeigen zumindest die Daten in den USA ganz deutlich. In gewisser Weise ist dies auch eine Vertreibung aus der Mittelschicht als dem gesellschaftlichen Projekt, das ein Versprechen an alle war und in der keynesianistischen Periode geboren wurde.
Meine These ist, dass die Massivität der Vertreibung eine tiefere, systemische Transformation anzeigt, die in Teilen bereits beschrieben worden ist, aber eben noch nicht in ihrer allumfassenden Dynamik, die uns in eine neue Phase des globalen Kapitalismus führt.
Welche Rolle spielt für Sie der Marxismus als Instrument der Analyse? Sie haben kürzlich gesagt, dass sie vor allem während des Studiums, aber auch später immer von Marxisten umgeben waren und beeinflusst wurden, dass Sie aber keine Marxistin im engeren Sinne seien.
Ich werde immer wieder gebeten, über Marx zu schreiben. Das erste Mal wurde ich anlässlich des 150. Jubiläums des »Kommunistischen Manifests« vor ungefähr 15 Jahren gefragt, und ich gebe heute dieselbe Antwort wie damals. Um die Frage »Wo ist Marx hilfreich?« zu beantworten, muss ich ihn auf meine eigene Art interpretieren. Ich versuche, Marx analytisch zu nutzen. Dabei unterscheide ich im Wesentlichen zwei analytische Elemente: Das eine ist die strukturelle Ungleichheit zwischen den Klassen. Vor 25 Jahren habe ich über wachsende Ungleichheit und das Ende des Wachstums der Mittelklasse geschrieben, was nicht heißt, dass die Mittelklasse verschwinden würde, und ich sagte: Marx gibt uns die Instrumente, wachsende Ungleichheit aus der Struktur der Systems zu erklären, statt sie nur zu einer Frage der Policy zu machen, wie die damals typische Erklärung im Westen lautete.
Und das andere analytische Element ist der Internationalismus, den wir beispielsweise im »Kommunistischen Manifest« finden.
Sie lesen das »Kommunistische Manifest« in diesem Zusammenhang etwas anders als die meisten Kommunisten.
Mein Argument ist, dass Marx neben dem politischen Internationalismus der Arbeiterklasse noch eine andere Art des Internationalismus in seine Analyse eingebunden hat. Es ist ein Internationalismus, der sich durch Wiederkehr entwickelt. Internationalismus ist eine Art des Politischen, die heute eine sehr große Rolle spielt, vielleicht nicht mehr so sehr der Internationalismus der Linken – der vielleicht auch –, aber es gibt einen anderen Internationalismus durch Wiederkehr. Er wird getragen von lokalen, immobilen Gruppen, Kollektivitäten, die für nicht-kosmopolitische Ziele kämpfen: für ein bisschen mehr Gerechtigkeit hier, für ein bisschen weniger Folter im lokalen Gefängnis, ein bisschen weniger Verschmutzung durch eine Fabrik. Auch das ist eine Art des Internationalismus in dem Sinne, dass er zwar in die spezifische Lokalität eingebunden ist, aber gleichzeitig auch in kapitalistische Muster, die überall gleich sind. Marx sagt, der Grund für die Notwendigkeit des Internationalismus sei Interdependenz. Aber diese Interdependenz erläutert er im »Kommunistischen Manifest« nicht weiter. Ich sehe in Marx, dass er diesen Schritt hätte machen können, aber letztendlich hat er ihn nicht getan.
Unter dem für meine Arbeit zentralen Gesichtspunkt, etablierte Wahrheiten herauszufordern, sage ich: Egal, wie isoliert und immobil Menschen und Gruppen auch sind, im Kapitalismus bildet sich ein Internationalismus durch das Wiederkehren bestimmter Bedingungen und weniger durch ein internationalistisches Bewusstsein. Man kann durchaus sagen, dass es sich bei diesen Leuten um das handelt, was Marx das Lumpenproletariat genannt hat. Für Marx war das Entscheidende am Lumpenproletariat, dass es kein politisches Bewusstsein hat. Aber wissen Sie was? Teile des Lumpenproletariats können das sehr wohl haben, weil sie alle mit den gleichen Bedingungen zu kämpfen haben. Der globale Kapitalismus schafft ironischerweise eine Ebene, auf der all die immobilen Menschen, die nicht kosmopolitisch, nicht internationalistisch sind, eine Art von Internationalismus produzieren.
Was ist Ihre Kritik an Marx?
Es gibt keinen Raum für das Politische in seiner Analyse. Was mich aber heute interessiert, ist das Politische. Nicht die Politik, sondern das Politische. Marx war politisch, das ist richtig, aber er hat ein sehr hegelianisches Verständnis der Politik, die, so Marx, nur ins System eingebettet war. Politik, das ist nicht der Tahrir-Platz, wo die Leute zusammenkommen; das finden wir bei Marx nicht. Er ist ein Strukturalist. Zwar bin ich natürlich auch ein bisschen strukturalistisch, ich mag diesen Strukturalismus, aber mir stellt sich auch die Frage: Was verdeckt dieser Strukturalismus? Meine These ist, dass Marx das Politische nicht versteht. Er versteht und konzipiert die Politik der Arbeiterklasse. Entscheidend ist aber, dass weder die Arbeiterklasse noch ein anderer politischer Akteur alleine das Politische schafft.
Was verstehen Sie unter »dem Politischen«?
Das Politische wird gemacht von Menschen und Organisationen als Antwort auf konkrete und auch umfassende systemische Bedingungen, die sehr dominant sind. Marx hat diese systemischen Bedingungen sehr gut beschrieben. Systemische Bedingungen sind zum Beispiel die Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital, um Mehrwert zu extrahieren, und die Erzeugung von systemischen Antworten darauf: dass dem Kapital irgendwann die Optionen ausgehen und dass die Arbeiter sich erheben. Auch in den systemischen Bedingungen liegt also eine gewisse Dynamik, aber die systemische Erklärung lässt wenig Raum für die Art von Aufständen und Erhebungen wie etwa beim Fall der Berliner Mauer. Vor dem Fall der Berliner Mauer, so symbolisch er dann letztlich war, gab es ja Demonstrationen – in Leipzig gab es die schon Jahre vorher – und Migrationsbewegungen, die das vorbereitet haben. Auch der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika dauerte Jahrzehnte und war schließlich erfolgreich. Zentral für das Politische an den genannten Mobilisierungen war, dass sie nicht ein bestimmtes Ziel hatten, sondern für eine grundsätzliche Veränderung kämpften. Das bedeutet das aktive »Machen« von Politik, verbunden mit Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Marx schließt das Politische nicht aus, aber er vernachlässigt es. Im Zentrum seiner Analyse steht die systemische Entwicklung, und Politik ist nur ein historische Notwendigkeit, sie passiert einfach.
Wie wurde das Politische am Tahrir-Platz geschaffen?
Kommen wir zurück zum gerade Gesagten. Die Demonstranten gegen die DDR, gegen die Apartheid waren nicht nur gegen etwas. Es gab klare Vorstellungen über die Taktik, die friedlich und nicht gewaltsam war. Die Demonstranten wollten nicht die Macht übernehmen, sie wollten einen Wandel auf vielen verschiedenen Ebenen – im politischen System, in der Wirtschaft und im Sicherheitsapparat. Durch und in ihren Protesten haben sie das Politische geschaffen. Etwas Ähnliches passiert gerade in Ägypten.
Und die andere Sache ist Geschichte, die Genealogie von Protesten. Die Proteste am Tahrir-Platz sind mit einer Entwicklung des Protests verbunden, die schon sehr viel älter ist. Facebook hat geholfen, bereits existierende Netzwerke der Mobilisierung zu aktivieren, aber es war keine Facebook-Revolution. Moscheen und verschiedene andere Kommunikationskanäle wurden genutzt, auch die alten arabischen Nachbarschaften, die sich sehr ruhig verhielten, die scheinbar geschlafen haben und in denen anscheinend nichts passierte. Es gibt eine Geschichte von Protesten, die in den Familien und familiären Netzwerke schlummerte und aufwachte und aktiv wurde. Ich war in Marokko, als es begann, und dort haben mir die älteren Leute davon erzählt.
Der Westen wurde von den Demokratiebewegungen in Tunesien und Ägypten ziemlich überrascht.
Wir wurden und werden immer wieder überrascht, eigentlich ist das nichts Neues: als die Mauer in Berlin fiel, als die Sowjetunion zusammengebrochen ist, als die lateinamerikanischen Diktaturen gefallen sind, als Mubarak gestürzt wurde. Es gibt in unseren Modellen, egal ob wir Sozialwissenschaftler sind oder Geheimdienste mächtiger Regierungen wie die CIA, eine Leerstelle, die mit dem Umstand zu tun hat, dass wir denken: »Okay, du bist ohnmächtig, und wenn es einen Wandel gibt, wirst du ermächtigt.« Aber Ermächtigung ist eine viel größere Sache, sehr wenige Kämpfe entwickeln sich so weit. Es gibt eine Grauzone zwischen Ohnmacht und Ermächtigung, die oft übersehen wird, weil unsere Theorien es uns nicht erlauben, das zu sehen, und auch Marx erlaubt es nicht. Und diese Grauzone liegt im Schatten mächtiger Erklärungsansätze. Es ist wie ein blinder Fleck, den man aber erklären kann, und kein Zufall und keine Störung.