Die Aufstände der Wanderarbeiter in China

Aufstand vor dem Jubiläum

Die chinesische Regierung ist beunruhigt wegen der Aufstände von Wanderarbeitern. Doch deren Lage zu verbessern gilt als zu kostspielig.

Dass ein Funke einen Steppenbrand auslösen kann, wusste schon Mao Zedong. In der südchinesischen Stadt Zengcheng revoltierten Anfang Juni tagelang Wanderarbeiter, Polizeiwagen und Regierungsgebäude brannten. Ausgelöst wurden die Unruhen durch das Gerücht, eine schwangere Straßenverkäuferin und ihr Mann seien von Polizisten misshandelt und getötet worden. Erst nach der Entsendung von 2 700 Anti-Riot-Polizisten konnten die Demonstranten auseinandergetrieben werden. Der Vorfall zeigt, wie explosiv die Stimmung unter den diskriminierten Wanderarbeitern in China ist, die in den Städten nur als billige Arbeitskräfte willkommen sind.
Der Mann der schwangeren Straßenverkäuferin ist mittlerweile bei einer Pressekonferenz der Behörden aufgetreten und sagte, dass es seiner Frau gut gehe. Der offiziellen Version zufolge war sie bei einer Auseinandersetzung mit Polizisten nur gefallen. Augenzeugen berichteten jedoch, dass sie brutal zu Boden geworfen wurde. Der allgemeine Unmut über steigende Lebensmittelpreise, Polizeiwillkür und Korruption ist wohl der Grund dafür gewesen, dass dieser Zwischenfall tagelange Aufstände auslöste.
Die Stadt Zengcheng ist ein Symbol der globalen Arbeitsteilung und der sozialen Hierarchien in China. Etwa ein Drittel aller weltweit produzierten Jeans werden in den 3 000 Fabriken der Stadt von über 140 000 Wanderarbeitern hergestellt. Wanderarbeiter in China können sich nicht langfristig mit ihren Familien in den Städten niederlassen und haben weder Zugang zu Sozialleistungen noch zum urbanen Bildungssystem. Wie die Financial Times berichtete, ruft die Polizei in der Tageszeitung von Zengcheng dazu auf, die Unruhestifter anzuzeigen. Als Belohnung werden 10 000 Yuan (umgerechnet etwa 1 070 Euro) und für Wanderarbeiter das langfristige Aufenthaltsrecht versprochen.
Die Unruhen in Zengcheng sind kein Einzelfall. Einige Tage zuvor entstand in der Stadt Chaoz­hou aus einer Demonstration von 200 Wanderarbeitern ein Aufstand. Die Proteste entbrannten, weil ein Firmenchef einen Wanderarbeiter und dessen Sohn zusammenschlagen ließ, als die beiden die Auszahlung ihres ausstehenden Lohns von 3 000 Yuan (320 Euro) verlangten. Der Chef und seine beiden Helfer wurden mittlerweile verhaftet, um weitere Unruhen zu verhindern.

In der Stadt Lichuan stürmten 2 000 Demons­tranten ein Regierungsgebäude, nachdem ein Beamter, der Korruptionsfälle untersuchte, am 4. Juni in Polizeigewahrsam gestorben war. Am 10. Juni zündete ein frustrierter Bürger Bomben in einem Regierungsgebäude der Hafenstadt Tianjin. Die staatlichen Medien berichteten, er habe sich an der Gesellschaft rächen wollen.
Nach Angaben eines Soziologen der Tsinghua-Universität soll es allein im vorigen Jahr in China 180 000 »Massenzwischenfälle« gegeben haben. Das ist eine enorme Steigerung gegenüber 74 000 Fällen im Jahr 2004, als die Regierung zum letzten Mal eine offizielle Statistik veröffentlichte. Als »Massenzwischenfälle« gelten Demonstrationen, Streiks, kollektive Petitionen, Blockaden von Regierungsgebäuden, Straßen oder öffentlichen Plätzen sowie andere »Störungen der öffentlichen Sicherheit«. Bereits Anfang des Jahres beschloss die Regierung ein »Sicherheitspaket«, um die Anti-Riot-Polizei weiter aufzurüsten. Der Kommunistische Partei Chinas (KPCh) kommen die Unruhen derzeit besonders ungelegen, da am 1. Juli das 90jährige Bestehen der Partei gefeiert werden soll.
Der KPCh ist jedoch klar, dass sie allein mit Repressionen das Land nicht befrieden kann. Ein Think Tank des Staatsrats warnte jüngst in einer Studie, dass die unzufriedenen Wanderarbeiter zu einer Gefahr für die soziale Stabilität werden könnten, falls sie in den Städten nicht besser behandelt würden. 90 Prozent der Wanderarbeiter wollen nicht mehr in die Dörfer zurückgehen, aber nur 0,8 Prozent konnten sich bisher eine eigene Wohnung in der Stadt kaufen. Die große Mehrheit lebt in Wohnheimen auf dem Firmengelände, in denen das soziale Leben 24 Stunden am Tag überwacht wird.
Die Gleichberechtigung aller chinesischen Bürger wird jedoch als zu kostspielig angesehen. Der Studie zufolge würde es die Regierung 80 000 Yuan (8 600 Euro) pro Kopf kosten, den Wanderarbeitern Zugang zum städtischen Sozial- und Bildungssystem zu verschaffen. Für die nach offiziellen Angaben 150 Millionen Wanderarbeiter wären 1,29 Billionen Euro fällig. In China werden bisher Reiche und Angehörige der Mittelschichten sehr niedrig besteuert. Eine größere soziale Umverteilung und ein Abbau der Privilegien der Stadtbevölkerung sind nicht zu erwarten.

Die Diskriminierung von Menschen mit ländlichem Migrationshintergrund hat erschreckende Ausmaße angenommen. Der Fall des Studenten Yao Jiaxin hat im chinesischen Internet eine heftige Debatte ausgelöst. Der 21jährige Yao, der aus der Familie eines pensionierten Generals stammt und das Musikkonservatorium von Xi’an besucht, hatte eine junge Wanderarbeiterin und Mutter erstochen, um einen Autounfall zu vertuschen. Während Yao als hoffungsvoller Nachwuchspianist galt, musste sein Opfer schon im Alter von 15 Jahren aus finanziellen Gründen die Schule abbrechen. Ein Kommilitone Yaos bezeichnete im Internet den Versuch der Frau, Yaos Autonummer aufzuschreiben, als »schamlos« und rechtfertigte die Tat. Die große Mehrheit der Blogger forderte allerdings die Todesstrafe für den Täter.
In den Debatten wird Yao als Repräsentant für die Söhne von Kadern und Unternehmern gesehen, die meinen, dass sie sich gegenüber einfachen Bürgern alles erlauben können. Er gilt als Beispiel für die »moralische Verwirrung« der Gesellschaft. Yao wurde zum Tode verurteilt und am 7. Juni hingerichtet. Die FAZ bemängelt an dem Todesurteil, dass die Regierung wohl der öffentlichen Meinung nachgegeben habe und so die Rechtsstaatlichkeit geschwächt hätte.
Die Familie Yaos muss eine Entschädigung von mehr als 45 000 Yuan (4 800 Euro) an die Angehörigen des Opfers zahlen, das ist in China eine relative hohe Summe für das Leben einer Wanderarbeiterin. Bei tödlichen Arbeitsunfällen müssen Unternehmer häufig nur 10 000 Yuan zahlen. Menschen ländlicher Herkunft bekommen geringere Entschädigungszahlungen als Stadtbürger. Als Begründung werden die geringeren Lebenshaltungskosten auf dem Land angeführt, obwohl die Wanderarbeiter in der Stadt leben.

Gerichtsurteile zur Besänftigung hat es auch nach den Unruhen in der Inneren Mongolei im Mai geben. Nachdem ein Han-chinesischer LKW-Fahrer einen Mongolen überfahren und getötet hatte, kam es in mehreren Städten zu Protesten. Das Opfer hatte eine Straße zu einem Kohlerevier blockiert, um gegen die Zerstörung des Graslands zu protestieren. Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand, der LKW-Fahrer wurde zum Tode verurteilt. Gleichzeitig verkündete die Regierung, dass in den nächsten vier Jahren 300 Millionen Euro in die Innere Mongolei fließen sollen, um das Grasland zu retten sowie das Leben der lokalen Bevölkerung zu verbessern.
Chinas Wutproletarier stören die »Harmonie«. Das Jahr 2010 brachte den Sommer der friedlichen Streikwelle. In diesem Jahr toben die Aufstände. Eine Revolution scheint jedoch nicht in Sicht, da sich die KPCh bisher noch als vermeintlicher »Anwalt der einfachen Leute« in Szene setzen kann.