Gentrifizierung in Berlin

Berlin Kills Me

Steigende Mieten, Gentrifizierung als Dauerthema, nervige Touristen: Geht es zu Ende mit Berlin als Spielwiese? Müssen wir demnächst alle nach Marzahn oder Reinickendorf ziehen, während die Besserverdiener am Kotti residieren? Wird Berlin zum neuen München? In unserem Berlin-Special schreiben Autoren über die Auswirkungen der Transformation der Hauptstadt. Ist man genervt von Party-Spaniern, Komasauf-Briten und Spießer-Schwaben? Hat man das Gefühl, sich die Stadt langsam nicht mehr leisten zu können? Oder ist das Gerede vom Verlust des guten alten Schmuddelberlins blanker Unsinn?

Transzendentale Obdachlosigkeit
Früher wurden sie in Bussen vor dem Brandenburger Tor abgeladen, heute gurken sie mit Bananenfahrrädern auf geführten Sightseeing-Touren durch die Nachbarschaft. Über den Zusammenprall von Touristen und Kreuzbergern
Von Christiane Rösinger
In diesem Jahr sind die Erlebnistouristen, die den Berliner Sommer so schwierig machen, besonders aufdringlich. Man fühlt sich wie ein Massentourist in der eigenen Stadt. Es wäre ja kein Problem, wenn die Besucher im Zentrum, am Brandenburger Tor oder vor dem Wachsfigurenkabinett bleiben würden, aber nein, sie kommen so gerne nach Kreuzberg, um hier ein Lebensgefühl zu besichtigen, und zerstören durch ihr haufenweises Auftreten jedes Flair.
Hostelhorden geifern durch die Straßen, schon der Sound der Rollkoffer, die über Asphalt und Kopfsteinpflaster gezogen werden, macht aggressiv. Und selbst die erztoleranten Kreuzberger, die in ihrem »Problemviertel« seit Jahrzehnten mit Dingen fertig werden, die in anderen Bezirken zu großen Auseinandersetzungen führen würden, verzweifeln so langsam an den durch die Straßen marodierenden Trinkergruppen und anderen Auswirkungen des Billigtourismus: Alteingesessene Geschäfte machen Billig-Fressläden Platz, immer mehr Wohnungen werden zu Ferienwohnungen. Kreuzberg wird zu einem Freizeitpark. Man lebt wie im Zoo im eigenen Viertel. Man kann nicht mehr vor die Tür gehen, ohne unfreiwillig die lauten dummen Gespräche der herumlungernden englischsprachigen Kurzzeitberliner anzuhören, die sich über »artspaces« austauschen und darüber, wie »awesome und actually very cool« hier alles ist. Wird es bald nur noch von Touristen frequentierte »Szenekneipen« geben und das Berliner Ausgehleben ganz von den Erlebnistouristen dominiert werden? Wenn man bei einem normalen Spaziergang durch Kreuzberg nur noch Englisch hört, von den entgegenkommenden Pärchen, von den geführten Rad-Sightseeingtouristen, Hostelgästen, Hipstertypen mit albernen Sonnenbrillen, affektierten Tussen in Haremshosen mit arg asymmetrischen Haarschnitten, von allen Tischen vor den Cafés und in Verkaufsgesprächen an den Falafelständen und den Spätis, dann kommt doch ein ganz trostloses Gefühl der transzendentalen Obdachlosigkeit auf. Aber man darf sich auch nicht arg beschweren über die Hostels und Sauf- und Lifestyle-Touristen, sonst gilt man als spießig, provinziell, antiamerikanisch und kleinkariert.
Wie schlimm wäre Berlin, wenn hier nur Deutsche wohnen würden! Aber vielleicht könnte man den Besuchern irgendwie abgewöhnen, mit so einer arg lauten, lässig penetranten Art, als gingen sie durch einen großen Freizeitpark, der eigens zu ihrer Belustigung errichtet wurde, die Straßen und Cafés zu bevölkern? Oder sie dazu bewegen, sich auch ein bisschen auf andere Bezirke zu verteilen? Früher hat man sich immer so auf den Sommer gefreut, weil der Berliner Winter so schlimm ist. Jetzt ist es im Sommer so furchtbar, dass man sich auf den Winter freut, weil da die Touristen weg sind!

Knutbürger
Kein Grund zu jammern: Berlin wird großstädtischer und teurer.
Von Nina Scholz
Eine Freundin sagte neulich: Die Wohnfrage hat in Berlin die Wetterfrage ersetzt. Und es stimmt, es gibt kein Entkommen mehr. Jeden Tag sind die Zeitungen voll mit Artikeln über Kiez-Auseinandersetzungen. Die einen wollen die Latte-Mütter aus ihrer Nachbarschaft weghaben, die anderen weiterhin günstigen Wohnraum in Südneukölln. Jeden Tag werden Links zu Gentrification-News auf Facebook gepostet, jeden Tag trifft man jemanden, der über seine neue, alte oder kommende Nachbarschaft jammert. Als ich vor elf Jahren mein erstes Seminar in Stadtsoziologie belegt habe, legte Hartmut Häußermann mit seiner Gentrification-These gerade erst so richtig los, heute kann ich mit meiner Oma über das Thema fachsimpeln.
Es wird in Berlin über nichts anderes mehr geredet: Wie wohnst du? Wie hast du gewohnt? Wie möchtest du wohnen? Sind die Modemenschen schon in deinen Kiez eingefallen oder kannst du noch in Ruhe leben? Wie ist die Mischung? Gibt es schon mehr Bioläden als Kneipen, und wie viele Erasmus-Studenten wohnen in der direkten Umgebung? Wie viele Kinderwagen, wie viele Spanier wurden gesichtet?
Ein Bekannter aus Tel Aviv berichtete über Deutsche, die die Israelis über deren Wohnraumprobleme aufklärten.
»Ganz Berlin hasst die Polizei« wurde auf den Demos gegen die Räumung des besetzten Hauses in der Liebigstraße skandiert. Oftmals ist es aber doch eher so: Ganz Berlin hasst Veränderung. Keine Frage, je mehr Berlin sich anderen Großstädten angleicht, desto mehr steigen die Mieten, desto knapper wird günstiger Wohnraum, desto kleiner werden bestimmte Freiräume, die es vor zehn, zwanzig Jahren noch gab.
Aber darum geht es den meisten gar nicht. Berlin ist und bleibt ein Mythos, bei dem es darum geht, wie die Stadt mal war, angeblich. Die einen heulen noch heute dem »Ostgut« in der Mühlenstraße nach, die anderen dem Stadtschloß, noch ganz andere ihrem Kreuzberger Kiez ohne Spanier. »Bar 25«-Hasser wurden zu »Bar 25«-Fans, sobald diese länger als ein paar Monate geschlossen war.
1872 gab es in Berlin eine große Protestbewegung gegen die Kanalisation. Das war damals einfach zu viel Modernisierung für die provinziellen Knutbürger von damals, genau wie sie heute von Touristen überfordert sind.

Und am Ende der Straße steht ein Haus am See
Flucht aus Kreuzberg an den Stadtrand. Eine Gentrifizierungsgeschichte, die ­gerade noch mal die Kurve zum Happy End gekriegt hat.
Von Anne Kreby
Erst war alles so schön bunt wie im Seyfried-Comic. Es gab die ganze Vielfalt des Sozialen, die berühmte Kreuzberger Mischung, den Bodybuilder mit Knasterfahrung, die nervigen Jugendlichen, das Kulturprekariat, die Türken, die Touristen und ein paar arme Renter. Sie sammeln die Flaschen ein, die das Partyvolk über die Stadt verteilt. Sie sind arm und nicht mal sexy und werden noch ein kleines bisschen mehr verachtet als der Rest der in parallele Ökonomien abgedrängten Leute. Irgendwann hatte sich dann auch noch so ein Heuschrecken-Ding dazu gesellt. Ein Investor mit Londoner Adresse hatte unseren gammeligen Altbau mit den ganz netten Wohnungen gekauft, eine neue Hausverwaltung eingesetzt und die Briefkästen mit Kündigungsdrohungen, Mieterhöhungen, unverschämten Briefen und Klagen geflutet – die ganze Palette. Man solidarisierte sich im Haus, hielt Mieterversammlungen im nächsten Dönerladen ab, richtete eine Google Group ein, kämpfte an der Seite der tapferen Anwälte des Mietervereins, rannte ins Gericht, gewann die eine Klage und bekam die nächste zugestellt und wurde nach und nach wie eins dieser Sat.1-»Akte«-Opfer mit dickem Leitz-Ordner auf den Knien und irrem Blick.
Dass inzwischen die Mieten in Kreuzberg gestiegen waren und es auf Wohnungsbesichtigungen wie beim »DSDS«-Casting zuging, machte die Sache mit dem Umzug nicht leichter. Aber der Druck nahm zu. Innerhalb weniger Monate wechselte die Mieterschaft.
Die Alten waren direkt in die Heime und Krankenstationen gewandert, die Hartz-Empfänger in die Wohnsilos der Brennpunktlagen, die Studenten verteilten sich neu über den Kiez, und die Akademiker mit Job bezogen nun ihre erste Eigentumswohnung. Und bald war man ziemlich allein unter lauter Mietern mit goldenem Türschild.
Den Neumietern mit den saftigen Staffelmietverträgen mit Selbstbeteiligungsklauseln hatte die Hausverwaltung nämlich ein goldenes Namensschild an die Tür geschraubt. Ein apartes System der Distinktion, um sichtbar zu machen, wer »Mieter«, wer »Schmarotzer« ist, und natürlich auch hilfreich für die Handwerker der firmeneigenen Reparaturkolonne, wenn entschieden werden musste, wem man die kaputte Heizung repariert und wem nicht.
Irgendwann tauchte sie dann aber bei Immobilienscout auf: unsere neue schimmelige Fünfziger-Jahre-Wohnung in Stadtrandlage mit Ofenheizung und hohem Renovierungsbedarf, die einfach keiner haben wollte, obwohl sie so schön billig ist und Wald und Wasser vor der Tür liegen. Aber selbst dieses Mietobjekt der unteren Kategorie bekam man nur, weil man es gerade noch geschafft hatte, sich auf dem Papier eine Identität als aufstrebende Medienschaffende mit sicherem Einkommen und innenarchitektonischer Kompetenz zu basteln.
Wer die Mieten in der Innenstadt nicht mehr zahlen kann und sich dann draußen was Billiges sucht, ist im Soziologiediskurs ein »Vertriebener«, im Urbanitätsdiskurs ein »Spießer«, aber, hey, am Abend, wenn man noch mal eine Runde um den See dreht, ist man einfach eine ziemlich glückliche Mieterin.
Die aber auch ganz genau weiß, dass zu viele Gentrifizierungsgeschichten in der Hauptstadt des Armutsrisikos kein Happy End haben und am Ende der Straße eigentlich nie ein Haus am See steht.

Fünfzehn schlechtgelaunte Bühnentechniker
Am schlimmsten sind und bleiben die Berliner.
Von Julius Newski
Mal ehrlich: Was sind schon ein paar marodierende Touristenbanden gegen die altehrwürdigen Institutionen dieser Stadt? Nehmen wir das Theater am Schiffbauerdamm. Schlimmer geht es kaum. Während Claus Peymann sich nach Kräften bemüht, das bildungsbürgerliche Gewissen mit sozial engagiertem Theater zu beruhigen, regiert hinter den Kulissen nichts anderes als blanker Hass. Seine Sprache? Berlinisch: »Ick hab dich dat doch jezeicht, du zujezojener Idiot!« »Ey Namenloser, is mich ejal, wat du denkst!« Zwei Monate ging es so, der Spirit der Stadt zusammengepresst in gut 15 schlechtgelaunten Bühnentechnikern. Als mich der dünne Zahnlose packte, riss ich mich los, kündigte und verließ den Laden auf der Stelle.
Möglichst schnell versuche ich allmorgendlich auch, mich aus den Fängen der geschwätzigen Bäckerin zu befreien. »Dit is ooch nich mehr Ballin, wa? Die janzen Ausländer … Na, sie kennen dit ja.« Nein, liebe Bäckerin, ich kenne nur deine miesen Brötchen. Und wenn ich dich so reden höre, beschleicht mich zum einen das Gefühl, dass es wirklich nichts Bewahrenswertes gibt in dieser Stadt. Zum anderen wäre es wenig verwunderlich, dich auf einer »Recht auf Stadt«-Demo zu treffen. Zwischen den Yuppies und Spießern, die da mitlaufen, wo Wohnungspolitik und Heimatschutz so gut zusammengehen.
In dem gleichen Lager engagiert man sich momentan für den Erhalt der Bürgersteige in der Kastanienallee. Das ist kein Witz. Plakate wurden geklebt, Konzerte organisiert – die Bürgersteige sollen bleiben, wir wollen unsere Zone 30 behalten! Was ein Quatsch. Eine verdammte Flugzeuglandebahn sollte da hingebaut werden, damit genügend Touristen kommen können, um auf ihrem Weg durch die Bars auch das Berliner Ensemble und die Bäckerei endlich in Schutt und Asche zu feiern. Was diese Stadt lebenswert macht? Neulich hörte ich, dass es in Reinickendorf noch eine Wohnung zu erschwinglichem Preis geben soll. Aber vielleicht ist das auch nur ein Gerücht.

Zarte Pflanzen blühen hier nicht
Urbanität findet man in dieser Stadt nicht. In abgeschotteten Szenen gammeln die Menschen vor sich hin wie das Obst auf dem WG-Küchentisch.
Von Magnus Klaue
Berlin ist keine Metropole. Berlin ist die urbanisierte Provinz: ein riesiges Dorf mit viel zu vielen Einwohnern, das die sture Sachlichkeit der Großstadt mit der brutalen Herzenswärme ruraler Stammesgemeinschaften vereint. Obwohl jeder hier über genügend Auslauf verfügt, begegnet man wie im Fernsehen, in der Wohngemeinschaft oder auf dem Pausenhof überall genau denjenigen, denen man eigentlich aus dem Weg gehen wollte. Wer in Berlin allein ist, fühlt sich deprimiert und verloren statt befreit vom Zwang des Kollektivs. Wer in Berlin unter Menschen geht, wird zum Misanthropen. Die bürger­ähnli­che Spezies, die diese Stadt bevölkert, ist nur in Ansätzen individuiert. Sie organisiert sich in Horden nach dem Prinzip der Landnahme und nennt ihr jeweiliges Siedlungsgebiet ihren Kiez. Im Berliner Kiez kommen nachlässige Urbanität und autochthoner Stumpfsinn wie nirgends sonst auf der Welt zueinander. Kreuzberger oder Neuköllner verlassen eher den Kontinent als den eigenen Bezirk. Hier haben sie ihre Szene, hier haben sie ihre Freunde, und hier schlägt ihr Herz, das sie anders als ihren Verstand nur ungern verlieren und nie an der Garderobe abgeben. Jeden, der sie daran erinnert, dass ihre Wohnung schöner, ihr Leben glücklicher und die Welt ein freier Ort sein könnte, halten sie für einen Gentrifizierungsagenten. Die Glasscherben vor ihrer Tür oder das Erbrochene in ihrem Hausflur zu entfernen, gilt ihnen als autoritäre Einmischung. Sofern sie ihren Mitmenschen nicht launig röhrend, ungefragt umarmend oder warnungslos keifend auf den Leib rücken, schicken sie ihre Hunde und Kinder vor, um Körperkontakt mit unschuldigen Passanten herzustellen. Herz mit Schnauze heißt: Wir sind schamlos und stolz darauf. Innerhalb unserer Stadtgrenzen dulden wir keinen zivilisatorischen Affekt. Wer uns nicht passt, den machen wir ein, wen wir lieben, den drücken wir tot. Wir sind Pragmatiker, Zartheit ist uns fremd. Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist die Gerade, und wir sind geradeheraus.
Berlin ist tolerant. Hier liebt man die Punks, weil sie so schön oll, die Penner, weil sie so schön arm, und die fremden Ethnien, weil sie so schön bunt sind. Hier darf jeder sein, wie er ist, und niemand werden, wie er will. Hier kann jeder als einziges Exemplar seiner eigenen Gattung vegetieren. In ihren vielfältig gegeneinander abgeschotteten Milieus gammeln die Menschen vor sich hin wie das Obst auf dem Küchentisch ihrer WG und sind überzeugt, immer frisch zu bleiben. Sie trennen ihren Müll so routiniert wie ihre Freundeskreise. Den Fremden gemeinden sie ein als besten Kumpel, und den Liebsten können sie von einem Tag zum anderen wie einen Fremden behandeln. Im Sommer schwebt der Lärm der Dummheit als Dunst über der Stadt, die Spaß und Frust ausschwitzt wie Alkohol an einem Katermorgen. Fünftagebärtige Jungmänner, die mit nacktem Oberkörper durch die Straßen ziehen und Vatertag feiern, obwohl sie keine Kinder haben, gelten als sympathische Vertreter ihres Geschlechts. Mütter transportieren ihren ökologisch korrekt geborenen Nachwuchs wie Hausrat auf Fahrradanhängern umher. Die Jugend ist ein Kollektiv der Frühvergreisten, die ihre Babys zu Babyfaces trimmen und Opa und Oma im Mehrgenerationenhaus begraben. Ihr Epitaph heißt: Berlin bleibt Berlin.
Berlin verändert sich nur, um seiner Beschränktheit treu zu bleiben. Die Berufsfreaks ziehen von Kreuzberg nach Friedrichshain und von Friedrichshain nach Nordneukölln, wo es kaum Menschen über Dreißig auf der Straße gibt. Weil man jedem irgendwann begegnet und jeden irgendwann verliert, hat man das Abschiednehmen längst verlernt. Und feiert die eigene Unfähigkeit zur Trauer als Weltoffenheit.

Die ewige Jugend
Sesshaft werden, aber mit streng veganem Kühlschrank. Berlin ist und bleibt die Hauptstadt der antibürgerlichen Lebensentwürfe.
Von Jessica Zeller
Easy Jet hieß früher Pan Am. Im Sommer 1983, im zarten Alter von fünfeinhalb Jahren, bestieg ich zum ersten Mal den Flieger, um nach Berlin zu jetten – als Touristin. Persönlich betreut von einer hübschen Stewardess und mit viel geschenktem Plastikspielzeug ging die Dreiviertelstunde von Frankfurt am Main nach Berlin Tegel wie im Flug vorüber. Am Terminal wurde ich von der jungen zur älteren Dame gereicht. Meine Westberliner Großmutter wartete schon ungeduldig darauf, ihrem Lieblingsenkelkind all das zu zeigen, was es in der hessischen Provinz nicht gab: Doppeldeckerbusse und ein Hochhaus, durch dessen Keller die Autobahn führte, Rote Grütze, die in Eimern abgefüllt wurde und ein eingesperrtes Pandapärchen, dem man durch die Scheibe beim Suppe schlürfen zugucken konnte. Die Stadt versprach Dreck, Abgase, Maßlosigkeit und Essen, bis einem schlecht war. Bereits damals fühlte ich mich als Berlinerin. Dreizehn Jahre später, ein Jahr nachdem meine Oma den Weg nach Hessen angetreten hatte, um zur Familie zu ziehen, reiste ich mit dem Wochenend­ticket wieder nach Berlin – diesmal ohne Rückfahrschein. Natürlich ging es nicht ins gepflegte Wilmersdorf, sondern in den grauen Osten: In direkter Nachbarschaft zu einem ehemaligen Schlachthof bezog ich in Friedrichshain meine erste WG. Im Nebenzimmer: eine gebürtige Ostberlinerin namens Mandy. Mandy ging nicht aus und war beleidigt, wenn ich es tat. Meist kam ich erst vormittags nach Hause. Mandy war dann schon unterwegs – Frühstück im Garten bei ihren Eltern im Reihenhaus in Karow. Das Leben meiner Mitbewohnerin war provinzieller als das meiner Westberliner Großmutter. Wie wohl taten mir da meine ebenfalls zugezogenen Wahlverwandten, die es wie mich aus der drögen Provinz hierher verschlagen hatte: Blieskastel, Bad Boll und Strücklingen hießen ihre Herkunftsorte, deren Namen man vorher nie gehört hatte. Diese eingewanderten Abiturienten waren so, wie ich mir meine Geschwister immer gewünscht hatte: bunte Haare, ungepflegt, radikal links und immer schlecht drauf. Einige von damals haben heute eine Kleinfamilie und sind zurück nach Hessen ins Reihenhaus gezogen, andere leben bis heute in einem profeministischen Hausprojekt mit streng veganem Kühlschrank. Den meisten geht es so wie mir: Wir bewegen uns irgendwo dazwischen – Affäre und alleinerziehend, Berghain und Bergmannstraße, Kotti und Kohle verdienen. Die Touristen von damals sind sesshaft, aber bis heute nicht richtig erwachsen geworden. Nachgerückt sind andere Reisende, denen Berlin die ewige Jugend verspricht. Sie kommen mit Easy Jet an, suchen sich eine Bleibe, und manche von ihnen bleiben hier einfach hängen.

Weg mit uns!
Das morbide Berlin der achtziger Jahre braucht heute keiner mehr. Wie das zugezogene Jungvolk die Kieze verändert.
Von Sarah Schmidt
Ja klar, die Spanier. Und die Engländer. Und erst Recht die kleinstädtischen Studenten. Das sind die Allerschlimmsten. Die ihre komischen und meist unsympathischen Rituale einfach mit nach Berlin bringen. Hier Junggesellinnenabschied feiern, eine blöde Belästigung sondergleichen. Wegen solcher Sachen ist man doch aus der Kleinstadt oder dem Dorf nach Berlin geflohen. Vor dreißig oder vierzig Jahren. Damals wohnten hier auch schon Menschen. Andere Menschen. Aber nachdem wir nach Kreuzberg und Schöneberg zogen, in die leerstehenden Häuser, verschwanden diese Anderen. Gut, viele Häuser standen nur teilweise leer, man lebte im Seitenflügel, im Vorderhaus wohnten die alten Mieter. Die uns irgendwie nicht richtig gut fanden. Nicht wenige hassten uns. Schrien herum, weil unsere Musik zu laut war oder sie nicht einverstanden waren mit den Baumaßnahmen, die wir einleiteten. Ein Nachbar hat mit einem Beil unsere Türen zerhackt, um uns zur Ruhe zu bewegen. Andere pöbelten auf der Straße: Geht doch nach drüben. Ein unschlagbares Argument, das ich heute manchmal vermisse. Irgendwann waren die meisten dieser Nervensägen weg. Wahrscheinlich gestorben. Oder ins Märkische Viertel gezogen.
Und jetzt? Sind wir dran. Nach so vielen Jahren, in denen wir uns vormachen konnten, unsere Kieze wären gemütliche Dörfer, sind wir von einer neuen Karawane junger Menschen überrannt worden, die unsere Selbstverständlichkeiten, die liebgewonnenen Gewohnheiten total missachten, ja, sie nicht einmal wahrnehmen. Sind also wir, die wir seit mehr als 15 Jahren hier leben, jetzt die ollen Nervensägen? Vom Alter her bestimmt. Und das ist nicht besonders schön. Rauszugehen und zu merken, dass man nicht mehr zu den Jungen gehört, sondern sich stattdessen in einer ziemlich traurigen Lebensphase befindet, eindeutig nicht mehr jung, aber auch noch nicht tot, das macht aggressiv. Und dann beschwert man sich. Über den Lärm an der Brücke, über die Touristen im Wrangelkiez, die in die Hausflure pissen, über die zu hohen Mieten, die einen nicht mehr umziehen lassen. Vielleicht tut uns Alten das aber auch ganz gut. Hinweggefegt zu werden und der Realität ins Auge sehen zu müssen, dass da längst Horden von Nachgeborenen sind, die ihren Kiez eben ganz anders definieren. Die das morbide Berlin blöde finden und lieber in einer kleinen niedlichen Welt leben wollen, mit vielen Spielplätzen und süßen Cafés und Läden, in denen man kleine niedliche Sachen kaufen kann. Wahrscheinlich ist Leben einfach so. Irgendwann ist man out und muss weg. Jetzt, um genau zu sein.
Was ich aber wirklich ganz toll finde, sind die vielen Touristen. Die Spanier und Italiener und Engländer. Die Eltern der jungen Touristen, die es sich in Berlin derzeit gemütlich machen, mussten von Mitte der sechziger bis Ende der achtziger Jahre schließlich auch Unmengen von uns aushalten. Einmal an der portugisischen Küste nackt baden und mit dem VW-Bus durch Italien und Spanien. Einfach so am Straßenrand campen und in den urigen Dörfern kiffend Bier trinken und die mitgebrachten Hunde (wahlweise Babys) im Dorfbrunnen tränken, waschen, planschen lassen. Durch Frankreich trampen und nur von Weißbrot, Tomaten, Käse und Oliven leben. Hat es irgend jemanden interessiert, was die dortigen Bewohner davon hielten? Nein, wir haben doch schließlich Kultur dorthin gebracht. Irgendwie jedenfalls, denen einfach mal gezeigt, wie cool Leben auch sein kann. Nun, die alle schicken ihre Kinder jetzt zu uns. Vielleicht so etwas wie späte Rache? Verlierer sehe ich keine in diesem Hin- und Herwabern der touristischen Hotspots. Jetzt ist halt Berlin dran. Obwohl, wenn ich es mir genau überlege, gibt es doch Verlierer. Die Engländer. Die sind doch alle so  rotköpfig. Und laut. Viele haben schon mit Zwanzig eine Halbglatze. Und machen Pub-Crawling. Bah!
Und ansonsten? Warten wir ab, bis die Kinder aus Goa massenweise Berlin entdecken. Wie schön das dann wird. Ich freue mich schon drauf.

Jemand zu Hause?
Parallelwelten vor der eigenen Haustür im Prenzlauer Berg. Über das blöde Gefühl, eine Einheimische zu sein.
Von Gabriele Scholz
Seit den neunziger Jahren wohne ich recht günstig am Prenzlauer Berg. Von jeher gehöre ich eher zu der Fraktion »Hallo, ist jemand zu Hause?« Mir Wohlgesonnene halten mich also für ein bisschen verträumt, bösere Zungen behaupten auch schon mal, ich habe ein dickes Fell. Jedenfalls habe ich erst recht spät damit begonnen, die schleichende Gentrifizierung unseres Wohnbezirks bewusst wahrzunehmen. Alles begann in Neukölln bei Karstadt am Hermannplatz, wo wir hingefahren waren, um Moskitonetze für unseren Masurenurlaub zu kaufen. (Bescheidwissende Mitmenschen hatten mir dazu geraten, aber dann habe ich sie doch nicht gebraucht.) Einkaufen strengt mich immer so furchtbar an, und so saß ich kurz darauf mit meinem Freund oben in der Kantine bei Karstadt und nippte an meinem Kaffee, als ich auf einmal Dutzende von alten Menschen um mich herum bemerkte. »Wahnsinn«, sagte ich zu meinem Schatz, »so viele alte Leute gibt’s hier, ich dachte schon die wären ausgestorben.« Mein Partner seufzte nur. »Ist dir schon einmal aufgefallen«, fuhr ich einmal ins Grübeln gekommen fort, »dass bei uns im Kiez überhaupt keine alten Leute mehr wohnen?« Mein Mann setzte seinen Hallo-ist-da-eigentlich-jemals-jemand-zu-Hause-Blick auf. Und auf einmal fiel es mir auf: die merkwürdigen Geschäfte, die in letzter Zeit bei uns eröffnet hatten, vom Hundesalon »Nur-Mut« bis hin zu Läden, wo man Waffeln, Eis, Latte Macchiato und Vintage-Klamotten kaufen konnte – in einem Laden! Und dann all diese wie ferngesteuert wirkenden Rollkoffermenschen, die immer unsere schlecht gepflasterte Straße entlangratterten – Reisende, bei denen mich stets das Gefühl überkam, sie wähnten sich in einer Parallelwelt, weil sie mir niemals auswichen! Am Abend dagegen saßen sie dann meistens in den verödeten Restaurants und Cafés am Helmholtz- oder Kollwitzplatz und starrten mich so komisch an, wenn ich auf meinem klapprigen Fahrrad ohne Helm die kopfsteingepflasterte Straße entlangpolterte. (Tausche übrigens originalverpackte Moskitonetze gegen ein gutes gebrauchtes Fahrrad.) Seht her, eine Einheimische, schienen die Rollkoffermenschen zu wispern. Doch damit nicht genug: Während in der Schule meines Sohnes (ich gebe es zu, sie ist staatlich, kostet also nix, ist für Umme sozusagen) vor ein paar Monaten während des Unterrichts ein Teil der Decke herunterkam, haben sich in den letzten Jahren rund um diesen Ort der Schande unzählige sauteure Bioläden angesiedelt. Musste ich früher noch bis nach Mitte radeln, um einmal die Woche bei dem recht entspannten Sport meiner Wahl – jaja, Yoga – meinen Mindestsport­ansprüchen zu genügen, gab es mittlerweile in unserem Kiez mehr Yogabuden als Clubs. Ja, die Clubs, der »Magnet«, der »Knaack-Club«, wo waren die alle hin? Selbst das durchaus parallelwelttaugliche »White Trash« will nix wie weg hier. Lärmbelästigungsklagen – schriftlich oder mündlich – sind das neue Ding in meinem Kiez. Zu gerne lag ich bei geöffnetem Fenster faul auf meinem Bett herum und hörte zu, wie meine neuen Nachbarn sich über den zu laut gehörten Ärzte-Song (Hui!) des frisch zugezogenen Studenten (Papi hatte seine Bude grundsaniert) beschwerten oder ausflippten, wenn jemand es wagte, am Sonntag Weinflaschen im Glascontainer zu entsorgen. Auf der Hochzeit eines Freundes im benachbarten Wedding – wo man immer hinfahren muss, um mal wieder einen waschechten, schnauzbärtigen Türken zu Gesicht bekommen –, kam neulich auch schon um 3 Uhr nachts die Polizei!
Um diese Uhrzeit geht übrigens auch immer in der riesenhaft anmutenden ausgebauten Dachgeschosswohnung bei uns gegenüber, so einmal im Vierteljahr, das Licht an. Dann schneidet ein unglaublich individuell ausschauender Typ immer seine blöden Buchsbäume auf dem Balkon, um am nächsten Tag wieder in seine Erst- und Zweitwohnungen in New York und Mailand zu verschwinden, während die nette siebenköpfige Familie in unserem Haus sich weiterhin wacker dreieinhalb Zimmer teilt. Sie machen’s wie ich, lassen gleichmütig Babylatte, Biobibelbewegungen und Macbook-Menschen eine Weile hier ihrer schwarz-grünen Parallelwelt frönen, bis der nächste heiße Scheißbezirk ruft.
Geschichte und Geschäfte
Wie die grüne Gentrifizierung die Vergangenheit entsorgt.
Von Cord Riechelmann
In der Kreuzbergstraße 78 gibt es seit einiger Zeit ein Bauprojekt, in dem 27 Wohnungen und vier Gewerbeeinheiten mit acht Tiefgaragenstellplätzen entstehen sollen. Das Gebäude wird, wie es auf der Website heißt, über eine Wärmerückgewinnungsanlage mit kontrollierter Wohnraumlüftung verfügen. »Das System«, ist da weiter zu lesen, »garantiert rund um die Uhr ein behagliches Wohnklima und spart erhebliche Energiekosten.« Das Projekt ist damit auf der Höhe der Zeit. Auf dem Bauschild werden sechs sogenannte Öko-Plus-Punkte aufgezählt, die das Haus so innovativ machen. Unter Punkt eins zum Beispiel wird versichert, dass beim Kauf einer Wohnung eine »KfW-Förderung« gewährt werden kann. »KfW« steht für die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die seit März eine erneute Aufnahme von Programmen zur Förderung von Energiesparmaßnahmen im Programm hat. Man hat es hier mit einem »KfW-Effizienzhaus« zu tun, das in der »Kreuzbergstraße 78 – Mitten im Leben« steht, wie es auf der Website schwungvoll heißt. Unter »Öko-Plus«-Punkt sechs wird die »Gas-Brennwert-Anlage« aufgeführt. Handschriftlich hat jemand das Wort »Auschwit« dazugekritzelt, wobei das »z« entweder vergessen oder überklebt wurde. Schwer zu sagen, ob der Kritzler die Geschichte dieser Adresse kennt: Auf dem Grundstück, auf dem jetzt das Ökohaus gebaut wird, betrieb Werner Bab von 1990 bis 2006 das Autohaus »Fiat Bab«. Bab war ein Auschwitz-Überlebender, der von sich sagte, dass er in Auschwitz gestorben sei und danach als Jude in Deutschland nur überleben konnte, indem er alles verdrängte. Sehr spät erst konnte er sich dazu überwinden, seine Geschichte preiszugeben und dem damaligen Studenten Christian Ender zu erzählen, dessen 2005 veröffentlichter Film »Zeitabschnitte des Werner Bab« die Geschichte des Überlebenden dokumentiert. Bab, der am 31. Juli 2010 kurz vor seinem 86. Geburtstag gestorben ist, erzählt nicht nur vom Horror der Nazis, sondern auch von dem Gegensatz zwischen den Geschäften der Sieger und der Geschichte der Besiegten. Geschichte werden auch im grünen Berlin die Sieger schreiben, und davon erzählt das KfW-Effizienzhaus in der Kreuzbergstraße in markanter Form.