Die Proteste der prekär Beschäftigten in Italien

Empört gegen die Krise

Auch Italien hat seine »Bewegung der Empörten«. Bisher wurden keine Plätze dauerhaft besetzt, aber der Protest der prekär Beschäftigen wird größer. Trotz der sozialen Proteste und der verlorenen Kommunalwahlen und Volksentscheide hält Silvio Berlusconis Mehrheit im Parlament.

Die Euphorie der ersten Tage ist vorbei. In der italienischen Gesellschaft macht sich Ernüchterung breit: Silvio Berlusconi regiert weiter. Trotz der Niederlage bei den Kommunalwahlen und trotz der verlorenen Volksentscheide denkt der Ministerpräsident nicht an Rücktritt. In seiner Regierungserklärung zeigte er sich vergangene Woche fest entschlossen, die knappe parlamentarische Mehrheit der Rechtskoalition bis zum Ende der Legislaturperiode 2013 zusammenzuhalten.
Doch die Parteibasis des Koalitionspartners ist der Eskapaden Berlusconis überdrüssig. Auf dem traditionellen Parteitreffen der Lega Nord im lombardischen Pontida Mitte Juni drängte sie ihren Vorsitzenden Umberto Bossi dazu, dem ungeliebten Regierungschef mit dem Bruch der Koalition zu drohen, wenn nicht binnen weniger Monate elementare Forderungen der Partei erfüllt würden. Der zerstrittenen Rechtskoalition bleibt allerdings wenig Handlungsspielraum. Der Unternehmerverband Confindustria teilte kürzlich mit, dass die Prognose für das Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent im laufenden Jahr noch weiter nach unten korrigiert werden müsse. Die amerikanische Rating-Agentur Moody’s erwägt die Herabstufung der italienischen Kreditwürdigkeit. Und Jean-Claude Juncker, Vorsitzender der Euro-Gruppe, warnte zuletzt wegen der hohen Staatsverschuldung vor einer möglichen Ausweitung der Griechenland-Krise auf Italien.
In dieser Situation werden die Forderungen der Regionalpartei Lega Nord nach Steuersenkungen und föderalen Umstrukturierungen nicht erfüllt werden können. Umso wichtiger sind für die Regierungsmitglieder deshalb repräsentative Veranstaltungen, auf denen in feierlichem Rahmen Sonntagsreden gehalten werden können. Auch Renato Brunetta, Minister für den öffentlichen Dienst, wollte Mitte Juni in Rom zum »Tag der Innovation« nur ein erbauliches Grußwort sprechen, wurde dann aber von einigen Zuhörern aus dem Saal aufgefordert, sich konkreten Fragen zu stellen. Zögernd bat der Angesprochene die Gruppe zu sich auf das Podium. Als Maurizia Russo Spena das Mikrophon ergriff und sich als Sprecherin einer Organisation von prekär Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vorstellte, wandte sich der Minister ab und verließ schimpfend den Saal. In Hinblick auf das von ihm zuvor gepriesene innovative Italien rief er den ungebetenen Gästen nach: »Ihr seid das schlechtere Italien!«

Zu den Prekären zählen in Italien Arbeitslose, unbezahlten Praktikanten, Scheinselbständige sowie illegal oder befristet Beschäftigte, die unter Tarif entlohnt werden und von der arbeitsrechtlichen Grundsicherung ausgeschlossen sind. Nach einer statistischen Erhebung der größten italienischen Gewerkschaft CGIL werden in Italien allein in der öffentlichen Verwaltung circa 240 000 und im Schulsektor weitere 200 000 precari beschäftigt. Auch im öffentlichen Gesundheitswesen hat sich die Zahl der prekär Beschäftigten in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, die meisten von ihnen sind zwischen 35 und 45 Jahre alt, 60 Prozent sind Frauen.
Brunetta hat sich in der Vergangenheit bereits mehrmals mit beleidigenden Äußerungen hervorgetan. Bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahren bezeichnete er die Staatsangestellten allgemein als »Faulenzer«. Er betrachtet sie als Verursacher von Kosten, die es einzusparen gilt. Wie in den zurückliegenden Fällen, so erhob sich auch infolge der aktuellen Beschimpfung ein Sturm der Entrüstung, die Facebook-Seite des Ministers füllte sich binnen Stunden mit wütendem Protest. Die Opposition warf Brunetta vor, den Blick für die Realität verloren zu haben, seine Vulgarität sei Ausdruck einer »zivilen Regression«. Der Minister zeigte sich dagegen gewohnt ungerührt von der Kritik, in einer TV-Talkshow bekräftigte er seine Aussage und empfahl denjenigen, die ehrlich Arbeit suchten, morgens auf dem Großmarkt Kisten zu schleppen. Daraufhin demonstrierten in mehreren Städten verschiedene Gruppen von prekär Beschaftigten. Der Aufruf, gleich den spanischen indignados eine zentrale piazza dauerhaft zu besetzen, wurde jedoch nicht in die Tat umgesetzt. Obwohl sich die sozialen Proteste seit dem Frühjahr häufen, bleiben die Demonstrationen der italienischen »Bewegung der Empörten« bisher dezentral.

In Rom besetzten prekäre Kulturschaffende ein traditionsreiches Stadttheater, während Prekäre aus dem Schuldienst gemeinsam mit Basisgewerkschaften vor dem Parlamentsgebäude eine Mahnwache einrichteten. Am Dienstag vergangener Woche kam es dort kurzfristig zu Tumulten, nachdem das Parlament in einer Vertrauensabstimmung einer Regierungsverordnung zugestimmt hatte, mit der 20 000 bereits zugesagte prekäre Lehrerstellen wieder gestrichen werden. Die Demonstranten warfen in Anspielung auf Brunettas Provokation Obst und Gemüse auf den Parlamentsvorplatz und zündeten Feuerwerkskörper, die die hilflosen Sprechchöre nach einem »Rücktritt« der Regierung übertönten. Solidarität erhalten die Prekären mittlerweile von nahezu allen Seiten. Gewerkschaften, Oppositionsparteien, linke und katholische Tageszeitungen, prominente Vertreter aus dem Showbusiness, sie alle versichern ihnen: »Ihr seid das bessere Italien!« Allerdings bleibt die moralische Unterstützung ohne politische Konsequenzen.
Unter dem Slogan »Es gibt ein besseres Italien« wirbt Apuliens Regionalpräsident Nichi Vendola bereits seit Monaten für die Bildung einer regierungsfähigen Linkskoalition und nicht zuletzt für seine eigene Kandidatur für das Amt des italienischen Ministerpräsidenten. Aus den Reihen seiner Partei »Linke. Ökologie und Freiheit« (SEL) kam der siegreiche Mailänder Oberbürgermeister Giuliano Pisapia, und Vendolas unter dem Namen »Nichis Fabriken« landesweit aktiven Unterstützergruppen waren maßgeblich am erfolgreichen Ausgang der Volksentscheide gegen die Regierungsgesetze beteiligt. Dennoch gelingt es Vendola bisher nicht, seine zivilgesellschaftlichen Popularität in politische Macht zu verwandeln. Die Demokratische Partei (PD) beharrt als größte Oppositionspartei auf ihrem Führungsanspruch innerhalb eines wie auch immer neu zusammengesetzten Linksbündnisses. Vendola drängt dagegen darauf, in Vorwahlen die Wähler über den Spitzenkandidaten und damit auch über die programmatische Ausrichtung der neuen Linkskoalition abstimmen zu lassen. Da der PD-Vorsitzende Pier Luigi Bersani fürchten muss, wie zuvor andere gemäßigte Demokraten die Abstimmung gegen den charismatischen Hoffnungsträger der Linken zu verlieren, spielt er auf Zeit.

Weite Teile der linken Wählerbasis haben für solche parteitaktischen Erwägungen immer weniger Verständnis. Ausgehend von den Protesten der linken Metallgewerkschaft Fiom gegen die Arbeitsbedingungen in den italienischen Fiat-Werken entstand bereits vor Monaten im Zusammenschluss mit Prekären aus dem Schul- und Universitätssektor das Bündnis »Gemeinsam gegen die Krise«. Nun scheint sich aus der siegreichen Volksentscheid-Bewegung gegen die Privatisierung und Kommerzialisierung der öffentlichen Wasserversorgung eine größere »Bewegung für das Allgemeingut« zu entwickeln. Dieses Netz aus unterschiedlichsten lokalen Bürgerkomitees und Basisgewerkschaften sieht sich von keiner der etablierten Parteien repräsentiert. In einem Aufruf fordert die Fiom neue Formen der demokratischen Teilhabe für alle gesellschaftlichen Bereiche: »Jetzt müssen die Grundlagen des Sozialstaats und der Staatsbürgerschaft, der Studien- und Arbeitsrechte neu überdacht werden. Jetzt muss konkret über ein anderes, nachhaltiges Wachstumsmodell verhandelt werden.« Erstmals kämpft die Fiom nicht mehr nur um die Verteidigung flächendeckender Tarifvereinbarungen in den Fabriken, sondern für die Ausweitung der rechtlichen Absicherung aller Arbeitsverhältnisse. Gegen die zunehmende gesellschaftliche Verarmung und gegen das von Wirtschaftsminister Giulio Tremonti angekündigte »Sparpaket« von über 40 Milliarden Euro fordert die Fiom gemeinsam mit den Organisationen der Prekären ein existenzsicherndes Bürgereinkommen und eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die sich nicht an den Vorgaben der internationalen Rating-Agenturen orientiere.
Im kommenden Monat beginnen in diversen italienischen Städten Veranstaltungsreihen zum zehnten Jahrestag des G8-Gipfels in Genua 2001 und zur gewaltsamen Zerschlagung des italienischen globalisierungskritischen Netzwerks. Podiumsdiskussionen, deren Ankündigungen bisher befürchten lassen, es handele sich um reine Gedenkveranstaltungen, könnten nun an Brisanz gewinnen. Für die Bewegung geht es darum, die Aufbruchsstimmung nach den Volksentscheiden nicht verpuffen zu lassen und aus den heterogenen Interessen der verschiedenen Basisgruppen gemeinsame politische Forderungen zu formulieren.