Klaus Hansen im Gespräch über Geschichte und Zukunft des Frauenfußballs in Deutschland

»Frauenfußball müsste die Frauen erreichen«

Klaus Hansen ist Professor für Politik und Kommunikation an der Hochschule Niederrhein. In seinem Buch »Sisyphos am Ball« (2010), das von der Literaturkritik durchweg positiv aufgenommen wurde, widmet er sich der »experimentellen Fußballpoesie«. Mit der Jungle World sprach er über die Geschichte und die Zukunft des Frauenfußballs in Deutschland.

1974 fand das erste Mal die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer in Deutschland statt. Wäre damals auch eine Frauen-Weltmeisterschaft hierzulande vorstellbar gewesen?
Nein, ganz und gar nicht. Das Verbot des Frauenfußballs durch den DFB von 1955 war damals erst seit knapp vier Jahren wieder aufgehoben. Ein organisierter Spielbetrieb war noch im Entstehen. Zwei Monate nach der Männer-WM ermittelte man in Deutschland erstmals einen deutschen Frauenfußballmeister. Eine Nationalmannschaft gab es bis 1982 nicht. Die erste Weltmeisterschaft fand 1991 in China statt. Die Entwicklung des Männerfußballs begann in Deutschland um 1900, im Frauenfußball setzte sie erst um 1970 ein. 1974 befand sich der deutsche Frauenfußball noch in seinen Kinderschuhen.
1954 wurden die Männer Weltmeister, 1955 wurde der Frauenfußball vom DFB verboten. Gibt es da einen Zusammenhang?
Ein direkter, empirisch nachweisbarer Zusammenhang besteht nicht. Ein eher psychologischer ­Zusammenhang mag durchaus bestanden haben: Die im Zweiten Weltkrieg besiegten und deprimierten deutschen Männer konnten sich durch das »Wunder von Bern« wieder Selbstbestätigung verschaffen, die sie nicht mit den Frauen teilen wollten, die unmittelbar nach dem Krieg das stärkere Geschlecht gewesen waren. Mehr noch: Die Frauen sollten wieder in ihre alte Rolle zurückgedrängt werden: Kinder, Küche, Kirche. Das ist eine mentalitätspsychologische Hypothese mit einiger Plausibilität.
Warum wurde der Frauenfußball verboten?
Auch in der Mitte der fünfziger Jahre gab es viele Mädchen und junge Frauen, die einfach gerne Fußball spielten. Bei den staatlichen und kirchlichen Autoritäten – durchweg Männer – war das nicht gerne gesehen. Es wurden Bedenken biologischer, medizinischer und sittlicher Art vorgebracht. Schon zu Beginn des Jahrhunderts, als die »englische Krankheit« – so der Name bei den Gegnern des Spiels – nach Deutschland kam, befürchtete man, beim Fußball würden »durch das Springen und Beinespreizen die Sexualorgane der Mädchen aus ihrer Lage gebracht«. Später sagte man, das Fußballspiel passe nicht zur »Würde des Weibes«, das Zurschaustellen des weiblichen Körpers verletze Sittlichkeit und Anstand. Der Fußball »vermännliche« die Frauen, mache sie zu »Mannweibern« und halte sie von ihren »natürlichen Mutteraufgaben« ab oder mache sie sogar untauglich dafür. Diese Ressentiments waren in den frühen fünfziger Jahren nicht verschwunden. Aber der DFB hätte sich wohl kaum getraut, nur auf dieser Grundlage ein Verbot zu verhängen.
Dann erschien 1953 im Verlag des Deutschen Werkbundes eine wissenschaftliche Schrift, durch die die vorhandenen Ressentiments gewissermaßen objektiviert werden konnten. Auf dem DFB-Kongress 1955, auf dem das Verbot beschlossen wurde, spielte das Büchlein des holländischen Philosophen und Anthropologen Frederik J. J. Buytendijk mit dem Titel »Das Fußballspiel. Eine psychologische Studie« eine entscheidende Rolle. Buytendijk stellte das »aggressiv Männliche« dem »adaptiv Weiblichen« gegenüber. Das Stoßen und Treten sei spezifisch männlich, während das Empfangen und Werfen zur Natur der Frau gehöre. Darum sei das Handball- und Völkerballspiel das den Frauen gemäße Spiel, nicht der Fußball. Auf dieser Basis eines »anthropologisch gesicherten Geschlechtsunterschieds« ließ sich scheinbar anspruchsvoll und ohne Chauvinismusverdacht ein Verbot des Frauenfußballs aussprechen.
Was hatte sich 1970 geändert, als der DFB das Verbot wieder aufhob?
Der Einfluss der Achtundsechziger-Bewegung, der sozialliberalen Reformen von Willy Brandt und der beginnenden Frauen-Emanzipationsbewegung machte sich bemerkbar. Auch der DFB zeigte sich »progressiv« und hob das Verbot mit Hinweis auf den Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 des Grundgesetzes auf.
Allerdings waren die Vorbehalte und Bedenken damit nicht restlos vom Tisch: So durften Frauen anfangs nur 70, nicht 90 Minuten spielen. Man traute Frauen den unfallfreien Umgang mit Stollenschuhen nicht zu, darum waren diese wegen »erhöhter Verletzungsgefahr« verboten. Frauen erhielten einen kleineren und leichteren Ball, den die Männer »Kinderball« nannten. Absichtliches Handspiel wurde erlaubt, um die Frauen »vor schmerzhaften Begegnungen mit dem Ball« zu schützen. Die Frauen durften auch nur zwischen März und Oktober spielen, der Winter galt als zu risikoreich für »die schwächere Natur der Frau«.
Wie steht es heute um solche Ressentiments?
Heute sind diese Ressentiments weitgehend ad acta gelegt. Die Erfolge der Frauen auf Vereins- und Nationalmannschaftsebene haben die Kritiker verstummen lassen. Heute ist der Frauenfußball gesellschaftlich akzeptiert, aber keineswegs ein Massenfaszinosum wie der Männerfußball.
Heißt das, die Gesellschaft tritt dem Frauenfußball heute vorurteilslos gegenüber?
Manchmal wandeln sich Vorurteile, ohne sich zu verändern. So ist im Frauenfußball aus dem »Mannweib« von einst die »Kampflesbe« von heute geworden. Damit hängt ein interessantes Phänomen zusammen, das ich »Homosexualitätsparadox« nennen möchte. Dass es viele lesbische Fußballerinnen gibt, ist ein offenes Geheimnis. Die Quote lesbischer und bisexueller Spielerinnen liegt in manchen Bundesligavereinen höher als die Quote der heterosexuellen Spielerinnen. Und prominente Coming-outs gibt es laufend. Ursula Holl, Nationaltorhüterin und in der vergangenen Saison Spielerin des FCR Duisburg, machte vor Monaten die Heirat mit ihrer Lebensgefährtin öffentlich, ohne ihrer Karriere damit zu schaden. Von der Torjägerin Inka Grings sind diverse homosexuelle Affären bekannt, gleichwohl wurde sie zweimal zur »Fußballerin des Jahres« gewählt.
Das ist doch sehr merkwürdig im Vergleich zum Männerfußball: Das größte Tabu im Männerfußball ist die Homosexualität. Als Fußballerin lesbisch zu sein, ist nicht dasselbe, wie als Fußballer schwul zu sein. Warum fällt es Frauen offenbar leicht, sich mit ihrer »sexuellen Andersartigkeit« sogar zu brüsten, wie es Nadine Angerer kürzlich in einem Kicker-Interview getan hat, während Fußballer es nicht einmal schaffen, sich zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen zu bekennen? Warum hat ein Outing für Frauen keine Konsequenzen? Warum befürchten Männer, mit einem Outing ihre Karriere zu gefährden?
Vielleicht hat es damit zu tun, dass Homosexualität bei Männern ein viel schwerwiegenderer Tabubruch ist als bei Frauen. Wenn zwei Frauen in der Öffentlichkeit Händchen halten, ist es okay. Wenn zwei Männer das tun, ist es pervers. Die unterschiedliche Bewertung von Homosexualität bei Frauen und Männern steht wohl auch im Zusammenhang mit der Wertschätzung des traditionellen Konzepts von Männlichkeit. Lesben werden eher männlich bewertet, im Sinne von stark, aggressiv, kämpferisch. Schwule hingegen gelten eher als weiblich, also weicher, schwächer, weniger aggressiv und somit auch weniger geeignet für sportliche Wettkämpfe.
Zum Spiel selbst: Früher hieß es oft, Frauenfußball sei unästhetisch. Warum eigentlich?
Betrachten Sie doch einmal die unteren Klassen des Männerfußballs, in denen die Feierabendfußballer unterwegs sind: Da geben sich Bierbauch und Ungelenkigkeit ein Stelldichein. Früher waren die Fußballerinnen auch nur Hobbykickerinnen und folglich wenig durchtrainiert. Den Männern lässt man aber bis heute den Bierbauch durchgehen, während man Frauen schon immer beispielsweise pummelige Beine als »hässliche Stempelchen« ankreidete.
Ist der Frauenfußball anders als der Männerfußball?
Ja, er ist eine andere Disziplin, auch wenn Männer und Frauen inzwischen nach den gleichen Regeln spielen. Frauenfußball ist weniger körperbetont und darum auch fairer; weniger schnell, es gibt mehr Zeit, um technische Finessen zu demonstrieren; weniger dynamisch und schussstark, darum besitzt er mehr Spielfluss und es gibt elegantere Kombinationen.
Man könnte deshalb meinen, der Frauenfußball sei der schönere, der bessere Fußball. Aber in den Augen des vom Männerfußball geprägten Männerpublikums sind die genannten Qualitäten allesamt Schwächen und keine Stärken. Männer wollen es rasant, körperbetont, schlitzohrig, hinterhältig und schussgewaltig. Und wenn Blut fließt, ist das eine willkommene Zugabe.
Die WM läuft. Ist die öffentliche Begeisterung so groß wie bei einer Männer-WM?
Glaubt man vor allem den Boulevard-Medien, also den Organen der Stimmungsmache, war die Vorfreude groß und die Stimmung ist riesig. Da ich aber das Ohr an der Basis habe und die Meinung der Fans, zum Beispiel des Gladbacher Fanprojekts, zu kennen glaube, muss ich sagen: Nein. Die Stimmung wird auch nicht künstlich herbeizureden sein, obwohl Organisatoren und Sponsoren ein großes Interesse daran haben.
Sie ist auch deshalb moderat, weil die Überzahl der männlichen Fußballanhänger regelrecht abblockt. Es scheint geradezu so, als gehe es gegen die männliche Ehre, für den Frauenfußball zu sein. In einer Ipsos-Umfrage vom Mai gaben nur 23 Prozent der Fußballfans an, dass sie die Spiele der Frauen »auf jeden Fall verfolgen« würden, 40 Prozent lehnten das ab. Der Rest war unentschieden. Begeisterung sieht anders aus. Als junge Fußballfans hörten, dass die Fußballerinnen es ins Allerheiligste, ins Panini-Sammelheft mit den Klebebildchen, geschafft haben, kommentierten sie: »Dieses Jahr wird es das erste Mal sein, dass ein volles Album weniger wert ist als ein leeres.« Männer respektieren den Frauenfußball vielleicht, aber sie mögen ihn nicht.
Warum ist Frauenfußball nicht so populär wie Männerfußball?
Frauenfußball leidet unter dem ewigen Vergleich mit dem Männerfußball, auf den die Männer hartnäckig bestehen. Kein noch so großer Erfolg der Frauen ist davor geschützt, von den Männern madig gemacht zu werden: Wenn ein WM-Titel, wie vor vier Jahren, mit null Gegentoren errungen wird, kann er nicht viel Wert sein. Das Ergebnis kann unmöglich allein auf die Exzellenz der Torfrau zurückgehen, das muss an der Schwäche der Konkurrenz gelegen haben. Und ohne Konkurrenz kann jeder Weltmeister werden! Im Frauenfußball ist es möglich, dass man drei Jahre, nachdem man überhaupt erst mit dem Fußballspielen angefangen hat, schon Nationalspielerin und Weltmeisterin ist. Bei den Männern wäre das unmöglich! In der Art meckern Männer über den Frauenfußball.
Männer betrachten die Szene ganz genau. Also wissen sie auch, dass die deutschen Weltmeisterinnen vor der WM 2007 einige nichtöffentliche Vorbereitungsspiele gegen männliche B- und A-Jugendmannschaften absolvierten, die sie allesamt nicht gewonnen und einige sogar hoch verloren haben. In diesem Jahr ist es ganz ähnlich. Man erfährt, dass die deutsche Nationalelf im offiziellen Testspiel gegen die Niederlande 5:0 gewonnen hat, aber man erfährt nicht, dass sie im gleichen Monat in einem inoffiziellen Testspiel gegen die Junioren eines Bundesligisten untergegangen ist.
Das heißt aus Männersicht: Die besten Fußballerinnen der Welt, unter ihnen die mehrfache Weltfußballerin des Jahres, Birgit Prinz, stehen gegen namenlose 17jährige Jungen auf verlorenem Posten. Das spricht aus Männersicht nicht für den Frauenfußball. Da sehen sich Männer doch lieber gleich das vermeintliche Original an! Und darin liegt das große Problem.
Was müsste passieren, um den Frauenfußball populärer zu machen?
Eines vor allem: Er müsste die Frauen erreichen! 80 bis 90 Prozent der Zuschauer in einem Fußballstadion sind Männer, die Männern zugucken. Warum gucken die fehlenden 80 bis 90 Prozent Frauen nicht den Frauen zu? Hier ist noch viel Luft nach oben.
Von gemischten Mannschaften, die manchmal vorgeschlagen werden, halte ich wenig. Von gemischten Veranstaltungen verspreche ich mir mehr: In der Leichtathletik finden Männer- und Frauenwettbewerbe parallel statt und keiner stört sich daran, dass die Männer schneller laufen, höher springen und weiter werfen als die Frauen. Jeder Wettbewerb ist spannend für sich. Vielleicht wäre das auch eine Möglichkeit für den Fußball: Samstagnachmittag folgt im Stadion ein Männerspiel auf ein Frauenspiel, oder umgekehrt. Man müsste es ausprobieren.
Könnte die WM selbst dem Frauenfußball in Deutschland zum Durchbruch verhelfen?
Einen Durchbruch gab es auch ohne die WM schon: Heute hat der DFB rund eine Million Fußballerinnen in seinen Vereinen, Tendenz steigend. Daher lautet die Parole von DFB und Fifa: »Die Zukunft des Fußballs ist weiblich.« Das hätte 1970 niemand vorhergesagt.
Wenn mit einem Durchbruch allerdings gemeint sein soll, dass der Frauenfußball in Deutschland nach der WM zu einer Sportart wird, die die Massen anzieht, so muss die Antwort lauten: Nein. Die Bundesliga-Frauen werden weiterhin vor 700 Zuschauern spielen und nicht vor 40 000 im Schnitt wie die Männer. Der Männerfußball besitzt eine hegemoniale Position, er hat die Wahrnehmungs- und Erlebnisgewohnheiten des Publikums geprägt. Diesen Gewohnheiten und Erwartungen kann der Frauenfußball nicht genügen.
Man könnte zudem das Beispiel der USA heranziehen: Dort gibt es die Vorherrschaft der »Großen Drei«: Baseball, Basketball und American Football. Mit der Fußball-WM 1994 in den USA sollte auch dem »Soccer« zu nationalem Ansehen und Erfolg verholfen werden. Aber der Fußball hat als Zuschauersport bis heute in den USA nicht Fuß gefasst. Die »Großen Drei« absorbieren die Begeisterung des Publikums. Für den Fußball bleibt da kaum noch etwas übrig. Er ist in den USA ein beliebter Frauensport, den junge Frauen auch begeistert spielen, zu dem aber kaum jemand hingeht, um mitzufiebern und mitzuleiden. So wird es auch mit dem Frauenfußball in Deutschland weitergehen.
Werden Sie WM-Spiele im Fernsehen oder auch im Stadion ansehen?
Am Fernseher möchte ich mir das eine oder andere Spiel der Top Four anschauen: Deutschland, Brasilien, USA, Norwegen. Da ich nicht nur Fußballfreund bin, sondern auch Soziologe, möchte ich mir live im Stadion unbedingt die Nordkoreanerinnen anschauen, um die Leistungsfähigkeit von politischer Diktatur und militärischem Drill vor Ort zu studieren. Solche Mann- beziehungsweise Frauschaften sieht man ja normalerweise in Deutschland nie.