Die Debatte über Antisemitismus in der Linkspartei

Kampf gegen die Inflation

Gregor Gysi erklärt die Diskussion über Antisemitismus in der Linkspartei für beendet, während Klaus Ernst dem Präsidenten des Zentralrats der Juden »Diffamierung« vorwirft und Annette Groth weiter an der »Befreiung« des Gaza-Streifens arbeitet.

Wenn er sich da mal nicht täuscht: »Ich glaube, das Thema ist beendet«, sagte Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Bundestag, am Wochenende einer Reporterin des ZDF-Magazins »Berlin direkt«. Sie hatte ihn nach dem »Antisemitismusproblem« in seiner Partei gefragt. Gysis Behauptung, dass ein solches Problem gar nicht existiere, lässt sich bestenfalls als Wunschdenken bezeichnen. Hieß es in der untergegangenen DDR, man sei »antifaschistisch« und könne schon deswegen nicht antisemitisch sein, behauptete Gysi im ZDF-Interview das gleiche von der Nachfolgeorganisation der ehemaligen DDR-Staatspartei: »Wir sind eine in jeder Hinsicht antifaschistische Partei. Also, Antisemitismus ist nicht unser Problem.«
Derweil warb seine Fraktionskollegin Annette Groth am Samstag in Nürnberg erneut medienwirksam für die geplante zweite »Gaza-Flottille«. An der ersten hatte sie im vorigen Jahr mit zwei anderen Abgeordneten der »Linken« teilgenommen. Dabei hatte die Linksfraktion in ihrem am 7. Juni gefassten Beschluss zum Thema (siehe Jungle World 24/2011) unter anderem erklärt, man werde sich nicht an der »diesjährigen Fahrt einer ›Gaza-Flottille‹ beteiligen« und erwarte auch von den »persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Fraktionsmitarbeiterinnen und Fraktionsmitarbeitern, sich für diese Positionen einzusetzen«. Doch wieso sollten sich Angestellte der Fraktion für Positionen einsetzen, die schon von Abgeordneten torpediert werden?

Wie zuletzt Gysi im ZDF jegliches Antisemitismusproblem in der Linkspartei von sich wies, so hatte schon der umstrittene Fraktionsbeschluss versäumt, die Dinge beim Namen zu nennen. Zwar wurden abstrakt »Rechtsextremismus und Antisemitismus« verurteilt. Im konkreten Teil der Erklärung kündigte die Linksfraktion zwar an, sich Forderungen nach einer »Ein-Staaten-Lösung für Palästina und Israel« und »Boykottaufrufen gegen israelische Produkte« zu enthalten und sich nicht an der Neuauflage der »Gaza-Flottille« zu beteiligen. Vom antisemitischen Gehalt solcher Bestrebungen war jedoch nicht die Rede. So suggeriert der Text, dass Antisemitismus nur bei Rechtsextremisten vorkomme. Obwohl die Fraktion ihren Beschluss »Entschieden gegen Antisemitismus« betitelte, scheint es der »Linken« unmöglich, bei diesem Thema »Entschiedenheit« aufzubringen.

Die jüngste Debatte ins Rollen gebracht hatte ein offiziell noch nicht veröffentlichter Aufsatz der beiden Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn und Sebastian Voigt von 16 Seiten Länge unter dem Titel »Antisemiten als Koalitionspartner?«. Dass der Aufsatz, der Mitte Mai in einer Vorabversion von der Frankfurter Rundschau publik gemacht worden war, in den Medien als »Studie« bezeichnet wurde, erleichterte nur das Geschäft seiner Kritiker. Zwar kann eine qualitative Studie einen durchaus geringen Umfang haben, doch eine umfassende Untersuchung des Antisemitismus in der Linkspartei stellt der Text sicher noch nicht dar.
Ein Verdienst des Aufsatzes ist neben der Auflistung antisemitischer Vorfälle innerhalb der Linkspartei vor allem, sich um eine Begriffsklärung zu bemühen. So verweisen die Autoren auf die EU-Arbeitsdefinition des Antisemitismus, wonach dieser sich unter anderem im »Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung« und durch die »Anwendung doppelter Standards« auf Israel im Gegensatz zu anderen Staaten äußert. Mit genau diesen Tatbeständen hat man es aber bei den im Beschluss der Linksfraktion aufgeführten Punkten – Ein-Staaten-Lösung, Israel-Boykott und Gaza-Flottille – zu tun. Trotzdem schwadronierte Gysi in einem Interview mit dem Neuen Deutschland von einer »inflationären Verwendung des Begriffs Antisemitismus« – wogegen sich die Fraktion in einem zweiten Beschluss wenden werde.
Schon für den ersten Beschluss hatte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, deutliche Worte gefunden. Seinen Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung resümierte Graumann mit den Worten: Der »große Befreiungsschlag ist einstweilen spektakulär missglückt. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal.« Doch das »nächste Mal« will Gysi in der Fraktion den Begriff Antisemitismus offenbar endgültig zum Tabuwort erklären lassen. Währenddessen erregte der Parteivorsitzende Klaus Ernst mit einem neuen Ausfall Aufmerksamkeit. Graumann schade seinem Anliegen, »wenn er den Antisemitismusvorwurf inflationiert«. Statt »Diffamierung« zu betreiben, rate er Graumann, »die Niederungen der Parteipolitik schnell wieder zu verlassen«. Mit anderen Worten: Die Juden sind am Antisemitismus selber schuld und sollten ihn lieber der Linkspartei überlassen. Das erinnert frappierend an die Ausfälle von Jürgen W. Möllemann (FDP) gegen Ariel Sharon und Michel Friedman.

Das Stichwort Möllemann sollte einen daran erinnern, dass auch die anderen im Bundestag vertretenen Parteien im Zweifel eher aus Imagegründen denn aus Überzeugung »klare Kante« (Klaus Ernst) gegen Antisemitismus zeigen. Martin Hohmann, der gesagt hatte, man könnte die Juden als »Tätervolk« bezeichnen, wurde von der CDU 2003 aus der Fraktion und der Partei ausgeschlossen, allerdings erst nach mehreren Wochen öffentlicher Debatte. Möllemann trat nach Monaten aus der FDP aus, um einem Parteiausschlussverfahren zu entgehen. Der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin kam trotz seiner rassistischen Auslassungen und seiner Spekulationen über ein »Juden-Gen« um einen Parteiausschluss herum. Stattdessen fühlte sich der Gründer des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten, Sergey Lagodinsky, zum Austritt aus der SPD genötigt. Bei der »Linken« scheint die Schwelle allerdings besonders hoch zu liegen: »Was muss denn passieren, ehe man bei Ihnen rausfliegt?« brachte es ein Journalist des Deutschlandradios in einem Interview mit dem Linkspartei-Bundestagsabgeordneten Stefan Liebich auf den Punkt.
Vielleicht nicht das Schlechteste an der Affäre ist, dass innerhalb der Linkspartei tatsächlich eine Debatte über die Problematik in Gang zu kommen scheint. Aufschlussreich ist ein im Neuen Deutschland abgedrucktes Gespräch zwischen Gregor Gysi und Andrej Hermlin – beide aus jüdischen Familien stammend und Mitglieder der »Linken«. Doch nicht so sehr die Äußerungen des Politikers geben einen tiefen Einblick in die Vorgänge innerhalb der Partei, sondern vielmehr die Einsichten des Musikers Hermlin. Während Gysi wie in der Linkspartei auch in der untergegangenen DDR keinen Antisemitismus entdecken mag (»Du hast von Antisemitismus in der DDR gesprochen. Ich habe das immer als Intellektuellenfeindlichkeit wahrgenommen«), konstatiert Hermlin: »Wir tun so, als wäre der Antisemitismus ein Problem einiger weniger Unbelehrbarer. Aber es ist eine Frage der Definition. Wenn ich sage, Antisemiten sind diejenigen, die die Juden ins KZ schicken wollen, dann sind das relativ wenige. Wenn ich aber sage, Antisemiten sind diejenigen, die Vorurteile verbreiten, dann sind es sehr viele.« Und Hermlin lässt die bemerkenswerte Einsicht folgen: »Was sich in den letzten Wochen in der Linken abgespielt hat, der ich immer noch angehöre, ist widerlich. Seit Jahren sind wir Diskussionen aus dem Wege gegangen.«
Dass der Sohn des bekannten DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin große Duldsamkeit an den Tag legen muss, um es bis heute in der Linkspartei auszuhalten, zeigt sich an einer Begebenheit, die bereits zwei Jahrzehnte zurückliegt: »Anfang der neunziger Jahre (…) kam der stellvertretende Parteichef der damaligen PDS in Berlin zu mir und sagte: ›Weißt du, Andrej, das Schlimmste, was den Juden in 2000 Jahren Geschichte widerfahren ist, ist die Gründung ihres Staates Israel.‹« Hermlin war entsetzt: »Nicht die Shoah, nein, Israel, das war das Schlimmste!« In der Tat hat die Linkspartei noch eine Menge eigenen Antisemitismus aufzudecken, aufzuarbeiten und zu bekämpfen. Sie müsste das aber erst einmal wollen, statt die »Inflationierung des Antisemitismusbegriffs« zu beklagen.