Peter Kurzecks Roman »Vorabend«

Als James Dean nach Lollar kam

Peter Kurzecks neuer Roman »Vorabend« ist eine faszinierende Reflexion über den Begriff »Heimat«.

In der im März ausgestrahlten ARD-Dokumentation »Fremde Heimat – Das Schicksal der Vertriebenen nach 1945« wird Peter Kurzeck als prominentestes Beispiel eines solchen »Schicksals« interviewt, und man fragt sich wirklich, wie er in diese Rolle und diese Sendung hineingeraten ist. Der 1943 in Tachau geborene Kurzeck übersiedelte zwar 1946 mit Mutter und Schwester aus der Tschechoslowakei nach Staufenberg bei Gießen. »Heimat« aber sind weder Staufenberg und später Frankfurt – die geographischen Zentren von Kurzecks literarischem Werk –, noch Tachau. Die hessische Provinz zwischen Gießen und Marburg ist der Ort, dem sich Kurzeck literarisch in immer neuen Anläufen und Perspektiven annähert, das Erinnern an die dort verlebte Kindheit und Jugend wirkt jedoch viel mehr wie eine Abstoßbewegung denn ein verklärendes Besingen von »Heimat«.
In seinem aktuellen Roman »Vorabend« beschreibt Kurzeck das dortige Leben als ein Leben auf dem Sprung: »Nicht mehr lang der Sommer. Man hört es an jedem Ton. Man spürt es, weil die Töne in einem nachzittern. In diesem Jahr bin ich fast so viel gereist, wie ich da war. Nur um zwischen den Reisen mein Leben hier auszuhalten. (…) Muss mir Geld leihen für die Reisen. Und merke und weiß jetzt, ich halt mein Leben mit dieser Stelle und so weit weg von mir selbst auch mit den Reisen nicht mehr lange aus.« 1971 entscheidet er sich zunächst für die geistige Flucht aus der provinziellen Enge – nach Frankfurt zieht er 1979 – und verkündet, von nun an Schriftsteller zu sein; und dies, obwohl seine Schwester ihm warnend mit auf den Weg gegeben hat: »Aber das Schreiben ist doch bloß ein Hobby!«
Was hier schon deutlich wird: Die Bücher Peter Kurzecks handeln ausschließlich von ihm und seiner Umgebung. In dieser Konzentration auf das eigene Leben, der Beschreibung jedes noch so entlegenen biographischen Details, weisen Kurzecks Bücher jedoch weit über die Ich-Fixiertheit und den Eskapismus herkömmlicher autobiographischer Schriftstellerei hinaus. »Die ganze Gegend erzählen, die Zeit«, steht »Vorabend« als Motto voran. Der erste Kuss, wohlige Erinnerungen an Familienausflüge, das Radioprogramm – all das interessiert Kurzeck nur am Rande. Wenn solche Klischees der autobiographischen Erinnerungsliteratur aufgerufen werden, dann in der ungefilterten und nicht in einer rückblickend verklärten, sondern jedes noch so kleine Detail eines Ausflugs oder Radioprogramms erfassenden Version. Martin Büsser hat in einer Rezension von Kurzecks Roman »Ein Kirschkern im März« von 2004 geschrieben: »Als Wesentliches bleibt der Einzelne übrig, nackt, ängstlich und trotz scheinbar bedingungslos vorherrschender Subjektivität zugleich exemplarisch.« Vielleicht hatten sich dies die Macher von »Fremde Heimat« erhofft: ein exem­plarisches Schicksal in seiner Nacktheit einzufangen. Den Gefallen hat ihnen Kurzeck nicht getan. Er beschreibt ein Fremdsein, das sich in einem wesentlichen Punkt von den anderen porträtierten Schicksalen unterscheidet: Es ist ein Leiden an den Strukturen der Nachkriegszeit und keines an dem vermeintlichen Verlust einer »Heimat«. »Heimat ist da, wo man sich aufhängt«, hat Franz Dobler einmal gesagt, und bei Kurzeck ist Heimat der Ort, von dem man permanent weg will.
Womöglich hat sich Kurzeck bei der Interview­anfrage der ARD einfach nur gefreut, dass sich überhaupt jemand für ihn und seine Literatur interessiert. Denn gelesen wird der seit 1979 in KD Wolffs Stroemfeld-Verlag publizierte Kurzeck kaum – trotz wachsender Begeisterung der Literaturkritik und Jurys von Literaturpreisen. Kurz­eck zu lesen ist anstrengend. Gerade weil seine verknappte Sprache sich versperrt gegen das, was man sonst unter dem Begriff »Erinnerungsliteratur« kennt. Sein Roman-Mammutprojekt »Das alte Jahrhundert«, von dem mit »Vorabend« der nunmehr fünfte und mit über 1 000 Seiten umfangreichste von zwölf geplanten Bänden vorliegt, will exakt das tun, was der Titel verspricht: das vergangene Jahrhundert abbilden, in Gänze, exemplarisch an der Person Kurzeck und dem Raum Frankfurt. Ausgangspunkt dieser literarischen, sich in der Geschichte vor und zurück bewegenden Irrfahrt ist das Jahr 1984, kurz nach der Trennung von seiner Lebensgefährtin Sibylle. »Übers Eis« (1997), der erste Band von »Das alte Jahrhundert«, beginnt mit einer Bestandsaufnahme: »Erst ein Regen- und dann ein Schneewinter. Als das Jahr 1984 anfing, nach der Trennung, hatte ich von einem zum andern Tag nix mehr. Auch keine Wohnung, kein Selbstbild, noch nicht einmal Schlaf ist mir übriggeblieben. Weg ist weg. Wie es scheint, fängst du dein Leben alle paar Jahre neu und von vorn an. Mitten in der Katastrophe, wie aus der Welt gefallen.«
Das Jahr des persönlichen Umbruchs, 1984, bleibt der Angelpunkt des Werks – und wird im dritten Band »Ein Kirschkern im März« auch ­literaturgeschichtlich eingeordnet: »Jetzt kommt dir vor, du hast schon immer gewusst, dass du einmal mittags müd heimkommen wirst und Uwe Johnson ist tot.« Uwe Johnson wurde am 12. März 1984 tot in seinem Haus in England aufgefunden. Johnsons »Jahrestage«, die in der Beschreibung eines Jahres von August 1967 bis August 1968 die Zeit des Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit einzufangen versuchen, sind Vorbild und Ansporn zugleich. In »Vorabend« wird noch ein weiterer Bezugspunkt aufgerufen: Bevor der Erzähler Peter in seine Erinnerung an die Zeit der ersten Kinos und Einkaufszentren im Kreis Gießen eintaucht, werden einige Madeleines verputzt. Proust und Johnson bilden die Eckpunkte, und dennoch erschafft Kurzeck mit »Das alte Jahrhundert« einen ganz eigenen und einzigartigen Zugang zur Erinnerung. Über die immer wieder aufgerufenen Motive, Personen und Geschichten verzahnen sich die Romane zu einem präzisen Porträt des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Fünfziger bis Achtziger. Von 1984 aus erinnert sich der Erzähler zurück an die Zeit vor der Trennung, das Zusammenleben mit seiner Tochter Carina und gemeinsame Ausflüge zu Freunden, die wiederum den Ausgangspunkt zu weiter zurückliegenden Erinnerungen bilden. Erinnern an das Erinnern. »Gut festhalten erst den Schmerz und dann die Erinnerung an den Schmerz«, schreibt Kurzeck in »Ein Kirschkern im März«.
Dieses Erinnern an das Erinnern nimmt auch den größten Teil von »Vorabend« ein. Am Anfang steht wieder eine Beschreibung des Zustands jener Zeit, auf die von 1984 ans zunächst geblickt wird, die zweite Hälfte des Jahres 1983: »Im Juni vierzig geworden und fristgerecht meine Arbeit verloren. Eine Halbtagsstelle in einem Antiquariat. Schlecht bezahlt, aber unersetzlich. Eine Arbeit, zu der man zu Fuß hingehen kann. Gerade die richtige Stelle, wenn man dicke Bücher schreibt und ein Kind hat.« In dieser Zeit besuchen der Erzähler Peter, seine Lebensgefährtin Sibylle und die gemeinsame Tochter Carina für ein Wochenende Freunde in Frankfurt-Eschersheim. »Eigentlich müssen Wege in Echtzeit erzählt werden«, findet der Erzähler, und so nimmt bereits die Anreise – aus Frankfurt-Bockenheim – und das Ankommen bei den Freunden viele Seiten ein. Was danach folgt, ist eine der präzisesten und ausführlichsten literarischen Beschreibungen der kleinen Veränderungen in den Strukturen der Bundesrepublik der Nachkriegsjahre bis hinein in die siebziger Jahre. Die große Politik interessiert Kurzeck als Stoff nicht, sein Fokus liegt ausschließlich auf den kleinen, schleichenden Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur. Zwar bewegen sich die Protagonisten im linken Milieu Frankfurts, ­lesen den Pflasterstrand, bringen ihre Töchter allmorgendlich zum Kinderladen, doch spielt dies für das Erzählen Kurzecks keine Rolle. Er kommentiert und kritisiert weniger, versteht sich vielmehr als Chronist von Lebensläufen und Orten, die sonst niemals Literatur geworden und damit dem Vergessen anheim gefallen wären. »Muss die ganze Gegend erzählen und alles, was nicht mehr da ist«, sagt Peter in »Vorabend«.
Diese »ganze Gegend« sind in dem Roman vor allem Staufenberg und Lollar, zwei Kleinstädte bei Gießen. Beschrieben wird etwa die Eröffnung des ersten Kinos in Lollar in den Fünfzigern und dessen Bedeutung für die dortige Jugend. Plötzlich gibt es Vorbilder, die so gar nichts zu tun haben mit den Eltern und der bundesdeutschen Realität: »Selbst wie ein Filmheld auf ­einem Filmplakat. Marlon Brando, James Dean, Horst Buchholz. Wenn du endlich vierzehn wärst, könntest du schon anfangen, wie ein Sechzehnjähriger auszusehen. Aber müsstest dann auch eine andere Jacke mindestens. Und wenn du dann wirklich sechzehn bist, wer bist du dann?« Popkultur als Entnazifizierung auf dem Land. Zuerst das Kino, dann die Autos und die Einkaufszentren – plötzlich geht in der hessischen Provinz alles ganz schnell und wird vor allem immer schneller: »Das ganze Land, die Zeit selbst fängt zu fahren an.« Bundesstraßen werden gebaut, Straßen ausgebaut und Autos gekauft. Aus der Perspektive der Igel des Landkreises Gießen wird diese gesellschaftliche Veränderung geschildert: »Voller Anspannung die Igel. Hecheln, halten immer wieder die Luft an. Ununterbrochen die Autos und sie spüren den Fahrtwind. Bei jedem Auto ein Ruck. Sie stehen und begreifen es nicht. Angst nicht, aber Herzklopfen. Mit roten Augen die Igel und alles an ihnen entzündet.« Manchmal die Grenze zum Kitsch überschreitend, zeigt Kurzeck mit solchen Schilderungen die Veränderungen der Nachkriegszeit, in der mit dem Neuanfang auch die Vergangenheit mehr und mehr verdrängt wird.
Die Straßen werden breiter, die Dörfer vernetzter, doch gleichzeitig nimmt dadurch die Einsamkeit der Menschen nicht ab. Nicht früher war alles besser, vielmehr war es früher genauso wenig gut wie in der Gegenwart, und diese Nicht-Entwicklung will Kurzeck zeigen: Die Bundesrepublik präsentiert sich in Kurzecks Romanen als ein an Tempo zulegendes und dennoch stagnierendes Land, dessen Realität der Erzähler nur das sich Verlieren in der Erinnerung entgegenhalten kann.
Mit am beeindruckendsten gelingt Kurzeck in »Vorabend« das ausführliche Porträt seines Schwagers, eines Arbeiters in den Buderus-Werken, dessen Kreativität dort ebenso wie von der Nachbarschaft ausgenutzt wird und der sich ohne Murren mit seinem Schicksal abgefunden hat. Sein Motorrad und die Familienurlaube im Hamburger Rotlichtviertel bleiben als Ablenkung vom Alltag. »Später am Küchentisch. Erst die Zeitung, dann Essen, dann nochmal die Zeitung. Die Gießener Allgemeine, die früher Freie Presse hieß. Sie teilen sie mit seinen Eltern, die im Erdgeschoß wohnen. Er liest die Zeitung nicht, er hat sie nur vor sich liegen. Und manchmal blättert er um. … Oft gleich nach dem Essen weiß mein Schwager schon nicht mehr, was er gegessen hat. Aber merkt ja außer ihm keiner.« Ohne Häme, aber auch ohne Verklärung zeigt Kurzeck das Scheitern an den eigenen Träumen und die Einrichtung in der Verheißung eines kleinbürgerlichen Glücks, in dem Kommunikation kaum noch stattfindet.
Selbst die vermeintliche Befreiung der sexuellen Revolution kommt jenseits der urbanen Zentren in einer absurd anmutenden Verzerrtheit an: »Partnertausch, Aktfotos, Sexfilme, Oswald Kolle, James Bond. Eine Sommernacht. Vielleicht steht die Zeit still. Und wenn sie dann noch ein paar Gläser Picon, Cinzano und Apfelkorn getrunken haben und in der Nachbarschaft ist es schon dunkel oder zwei Gärten weiter auch ein Gartengrillfest, dann ziehen sie sich zielstrebig aus und steigen mit viel Gelächter alle zusammen in das aufblasbare Gummiplanschbecken aus dem Gartencenter vom Baumarkt.« Solche in ihrer Genauigkeit unglaublich lustigen Beschreibungen finden sich zuhauf in dem Roman »Vorabend«, der immer dann etwas schwächelt, wenn Kurzeck seine Rolle als Chronist verlässt und bewusst ironisch kommentierende Passagen einbaut, die jedoch glücklicherweise in der Masse der über 1 000 Seiten großartiger Prosa verschwinden.
Die Flucht Kurzecks hat mit Frankfurt im Übrigen kein Ende gefunden, die Hälfte des Jahres lebt er seit vielen Jahren in Uzès in Südfrankreich, um, wie er in einem Interview beschrieben hat, aus dem geographischen Abstand einen unverstellten Blick auf Deutschland werfen zu können. Deutschland bleibt die »fremde Heimat«, deren Konturen aus der Distanz besser zu erkennen sind.

Peter Kurzeck: Vorabend. Stroemfeld, Frankfurt 2011, 1 015 Seiten, 39,80 Euro