Das Buch »Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchen« von Tiqqun

Das böse Mädchen

Die Autorengruppe Tiqqun liefert »Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens«.

Robert Musil beschrieb einmal das Gesicht eines jungen Mädchens, das so ebenmäßig und schön sei, dass man versucht sei, so der Autor, »mit einem Löffelchen darin herumzurühren«. Das Hübsche ist zu hübsch, um bestehen zu dürfen. Es muss unwahr sein. Es muss bestraft werden. Dieselbe unterschwellige, sexuell konnotierte Aggression findet sich in dem Buch »Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens« des Autorenkollektivs Tiqqun.
Der Text, der bereits vor mehr als zehn Jahren erschienen ist und seit zwei Jahren auf Deutsch vorliegt, erfreut sich einer immer größeren Beliebtheit in der radikalen Linken, nicht zuletzt deshalb, weil Teile des Tiqqun-Kollektivs als Autoren des Bestsellers »Der kommende Aufstand« gelten.
Leider sind die »Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens« mitnichten als Gender-Theorie zu verstehen. Das »Junge-Mädchen« ist keine hybride Figur zur Überwindung des Sexismus, es ist vielmehr ganz einfach ein junges Mädchen. Dies »Junge-Mädchen« ist der Literatur entliehen, zum einen der »Suche nach der verlorenen Zeit« von Marcel Proust. Hier ist die Figur der Albertine das Vorbild, von der wiederum alle, die Literatur autobiographisch lesen, wissen, dass sie »im richtigen Leben« ein Albert war. Auch die begehrte Oberschülerin aus Witold Gombrowicz’ Roman »Ferdydurke« ist eine Vorlage für das von Tiq­qun vorgestellte »Junge-Mädchen«.
Allerdings muss das »Junge-Mädchen« bei Tiq­qun nicht unbedingt weiblichen Geschlechts sein. »Der Frauenaufreißer in der Disko«, heißt es, »ist damit genauso gemeint wie die als Pornostar geschminkte Jugendliche arabischer Herkunft. Der ältliche Playboy, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat und seine Freizeit zwischen der Côte d’Azur und seinen Pariser Büros, in denen er noch einen Fuß drin hat, verbringt, gehört genauso dazu wie die großstädtische Single-Frau, die zu sehr an ihrer Consulting-Karriere hängt, um sich bewusst zu werden, dass sie bereits fünfzig ist. Und wie sollte man der verborgenen Übereinstimmung gerecht werden, die einen aufgeblasenen modebewussten schwulverheirateten Homo aus dem Marais mit einer amerikanisierten Kleinbürgerin, die mit ihrer Plastik­familie in der Vorstadt wohnt, verbindet, wenn es sich um einen geschlechtlich differenzierten Begriff handeln würde?« Wie man schnell merkt, spricht aus jedem Halbsatz das Ressentiment.
Die »Trashtheorie«, deren Grundbausteine Tiq­qun nach eigener Definition hier präsentiert, lebt von der »Theorie des Spektakels«, aber auch ein bisschen von Negris und Hardts »Empire«, die Verfasser kennen zudem ihren Marx und ihren Foucault und rufen immer wieder die Weltliteratur an, aus der reichlich zitiert wird. Tatsächlich ist der Text ein eher literarisch-essayistischer als ein genuin politischer. Seine Autoren werfen mit Zitaten um sich. Viele schöne und kluge Sätze liest man in diesem Exzess des wilden Denkens, etwa diesen: »Wenn das Junge-Mädchen an die Grenze des Alters des Infantilismus gelangt ist, an der es unmöglich wird, sich nicht die Frage nach Zwecken zu stellen, wenn man sich nicht plötzlich der Mittel beraubt sehen will (was in dieser Gesellschaft sehr spät geschehen kann), pflanzt es sich fort. Vaterschaft und Mutterschaft bilden beide eine gleichermaßen substanzleere Weise, im Reich der Notwendigkeit zu bleiben.«
Tiqqun wenden sich gegen die Leserinnen und Leser von Modezeitschriften, gegen jene, die ihr Liebesleben nach Kategorien wie Erfolg auszurichten pflegen, gegen Leute, die sich sogar in ihrem Unglück noch stylisch suhlen und darüber unglücklich sind, dass sie unglücklich sind. Diese Modepuppen sind selbst zur Ware geworden, argumentieren Tiqqun, eine Ware, »die speziell mit der Zirkulation von Standardaffekten beauftragt ist«. Sie sind »das lächelnde Ressentiment«, »das Fußvolk der heutigen Diktatur des guten Aussehens«.
Immer wieder betont das mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließlich männliche Autorenkollektiv, dass mit dem »Jungen-Mädchen« nur schlechter Sex möglich sei. »Das Junge-Mädchen küsst Euch nicht, es besabbert Euch zwischen den Zähnen«, heißt es an einer Stelle. »Das Junge-Mädchen paart sich nicht, um einen Übergang zum anderen zu schaffen, sondern um seiner unhaltbaren Nichtigkeit zu entfliehen«, liest man an anderer Stelle. Denn: »Das Junge-Mädchen möchte, dass das schlichte Wort ›Liebe‹ nicht das Projekt beinhaltet, diese Gesellschaft zu zerstören.« Letzlich ist das »Junge-Mädchen« also eine »Hure«, und in geistiger und moralischer Hinsicht ist sie selbstredend ein »Nichts«. Zustimmend wird der österreichische Philosoph Otto Weininger zitiert.Nicht nur an dieser Stelle wird klar, dass das »Junge-Mädchen« im Zweifelsfall doch weiblich definiert ist.
An anderer Stelle heißt es: »Die Reize, die wir beim Jungen-Mädchen nicht mehr finden, geben eine genaue Vorstellung von dem, was wir bereits bei ihm vernichten konnten.«
Das Autorenkollektiv sieht sich selbst als autonomes Subjekt der Geschichte. Tiqqun spricht als ein »Wir« zu seinem (männlichen) Gegenüber über das zum Objekt erklärten »Jungen-Mädchen«, über das aufgeklärt und das beschimpft werden muss.
Nicht zuletzt dieses obszöne Besserwissen, das die Autoren des Textes so penetrant vor sich hertragen, macht das Buch zu einem Ärgernis. Die Autoren geben vor, mit wildem Furor und verbaler Rigorosität eine Welt retten zu wollen, in der sie selber nur als unbestechliche Beobachter vorkommen. Selbstkritik ist ihnen in gänzlich fremd: Begehren hat sich in Hass verwandelt.

Tiqqun: Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens. Merve-Verlag, Berlin 2009, 131 S., 12 Euro