Über den »Stresstest« und den anhaltenden Konflikt um »Stuttgart 21«

Das Ende der Gemütlichkeit

Das Bahnprojekt »Stuttgart 21« wurde einem sogenannten Stresstest unterzogen, in der kommenden Woche sollen die Ergebnisse vorgestellt werden. Zwischenzeitlich sorgten die Gegner des Projekts für Stress.

Die offizielle Präsentation der Ergebnisse des sogenannten Stresstests wird den Streit um das Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21« (S 21) nicht beenden. Der ehemalige Schlichter Heiner Geißler (CDU) lädt trotzdem noch einmal an den »Runden Tisch«.
Bereits im November vorigen Jahres hatte Geißler die Bahn in seinem Schlichterspruch aufgefordert, per Computersimulation nachzuweisen, dass der geplante unterirdische Durchgangsbahnhof zur Hauptverkehrszeit um 30 Prozent leistungsfähiger sein wird als der bestehende Kopfbahnhof. Seit Freitag voriger Woche liegen die Ergebnisse der von der Bahn ausgeführten »Fahrplanrobustprüfung« vor. Dem 150seitigen Abschlussbericht zufolge hat der geplante Tiefbahnhof den »Stresstest« mit guten Ergebnissen bestanden. Außerdem heißt es in dem Bericht, die baulichen Nachbesserungen ließen sich auf ein zweites Gleis am Flughafen und eine doppelte Signalausstattung des Streckennetzes beschränken. Damit würde der Bahnhofsumbau nicht mehr als 40 Millionen Euro teurer werden. Die Grünen waren bisher von Mehrkosten von mindestens 500 Millionen Euro ausgegangen und hatten darauf spekuliert, dass die deutliche Überschreitung des bisherigen Finanzrahmens das Bauprojekt noch einmal grundsätzlich in Frage stellen würde.
Jetzt kommt es darauf an, wie das Schweizer Verkehrsberatungsunternehmen SMA die von der Bahn lancierten Ergebnisse bewertet. Denn erst nach dieser im Schlichterspruch vereinbarten unabhängigen Prüfung kann jenes endgültige Fazit gezogen werden, das Geißler am 14. Juli im Stuttgarter Rathaus präsentieren will.
Die Gegner des Projekts kündigten bereits an, diese »öffentlichkeitswirksame Schauveranstaltung der Bahn« zu boykottieren. Hannes Rockenbauch, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen S 21, kritisiert das Verfahren des Stresstests und fordert gleichzeitig mehr Zeit für dessen Auswertung, zumal die Projektgegner den bestehenden Kopfbahnhof zum Nachweis seiner Leistungsfähigkeit einem eigenen Stresstest unterziehen wollen.

Stuttgart steht also ein aufregender Sommer bevor. Der Biergartenbesitzer im mittleren Schlossgarten hat sich darauf eingestellt. Vor dem Bauzaun des sogenannten Grundwassermanagements können seine Gäste in gemütlicher Atmosphäre dem Protest der »Parkschützer« beiwohnen. Auch am Abend des 20. Juni trafen sich die Projektgegner zum Abschluss der traditionellen Montagsdemonstration nach eigenen Angaben in »gelöster Feierabendstimmung« im Park. Ausgelassen jubelten sie einer Gruppe von Aktivisten zu, die in die Baustelle eingedrungen und auf die Wassertanks geklettert war.
Da im Schlossgarten das Grundwasser nur wenige Meter unter der Erdoberfläche fließt, muss der Grundwasserspiegel während der gesamten Bauzeit gesenkt werden. Die »Parkschützer« befürchten, dass die Parkbäume deshalb zu wenig Wasser bekommen und absterben. Außerdem könnte das Mineralwasser, das unter den grundwasserführenden geologischen Schichten sprudelt, aufsteigen, was den Erhalt und die Nutzung der Heilquellen gefährden würde. Deshalb finden neuerdings zum Schutz der Stuttgarter Mineralbäder Demonstrationen »von Brunnen zu Brunnen« statt.
An besagtem Juniabend kulminierte die Empörung darüber, dass die Bahn den Forderungen nach einem vorläufigen Baustopp nicht nachkommen will, in dem Wunsch, die angestaute Wut einmal so richtig rauszulassen: Feuerwerkskörper explodierten, die Absperrung wurde umgekippt, Baufahrzeuge und zur Montage bereitliegende Wasserrohre wurden beschädigt. Polizeipräsident Thomas Züfle stellte erstaunt fest, dass es gutbürgerliche Menschen gewesen seien, die die Polizei mit ihrem Stimmungsumschwung überraschten: »Es war erschreckend, wie zerstörerisch sich auch ältere 60- bis 70jährige verhalten haben«, dabei hätten sie sich während der Demonstration sogar »noch an die rote Fußgängerampel gehalten«. Ein Zivilpolizist, der sich in der Menge als solcher zu erkennen gab, wurde mit Faustschlägen angegriffen und mit Beschimpfungen in die Flucht geschlagen. Die Behauptung der Einsatzleitung, man habe um das Leben des Beamten fürchten müssen, wird von Videoaufnahmen widerlegt. Der Zivilpolizist scheint mit Prellungen und einer Gehirnerschütterung davongekommen zu sein, acht seiner Kollegen wurden wegen eines Knalltraumas behandelt. Trotzdem ermittelt die Staatsanwaltschaft neben Sachbeschädigung in Höhe von rund 1,5 Millionen Euro auch wegen »versuchten Totschlags«. Züfle drohte außerdem, künftig von der Deeskalationsstrategie abzuweichen und wie sein Vorgänger im Herbst wieder Wasserwerfer, Schlagwaffen und Reizgas einzusetzen.

Das Aktionsbündnis gegen S 21 distanzierte sich auf einer Pressekonferenz von der Gewalt, allerdings wies Matthias von Herrmann, Sprecher der »Parkschützer«, darauf hin, dass die Polizei den Vorfall absichtlich »dramatisiert und kriminalisiert« habe, um »einen Keil in den Widerstand zu treiben«.
Diese Strategie geht bisher nicht auf. Die Ausschreitungen am Bauzaun setzen lediglich die grüne Regierungspartei unter Druck. Ministerpräsident Winfried Kretschmann predigte erwartungsgemäß: »Gewalt ist in jeglicher Form – egal, ob gegen Menschen oder Sachen – unmissverständlich zu verurteilen und wird von der Landesregierung nicht toleriert.« Sein Verkehrsminister Winfried Hermann suchte dagegen die Nähe zu den Gegnern von S 21. Er attestierte der Bahn eine Mitverantwortung für die Radikalisierung des Protests und irritierte in der Presse mit widersprüchlichen Stellungnahmen zum Stresstest. Weil er der Bahn mangelnde Transparenz vorwarf, obwohl seinem Ministerium Informationen zur laufenden Untersuchung übermittelt worden sein sollen, bezichtigte die Opposition Hermann der Lüge und forderte seinen Rücktritt. Ein »wahrheitsliebender Katholik« wie Kretschmann, so die FDP-Fraktion, könne Hermanns Verhalten nicht dulden. Der Ministerpräsident zeigte sich jedoch gewohnt »besonnen« und wies die Forderungen zurück.

Die Gegner von S 21 werben derweil für den von der grün-roten Koalition im Wahlkampf versprochenen Volksentscheid. In einer Postkartenaktion werden die Landtagsabgeordneten aufgefordert, sich für eine »faire Volksabstimmung« einzusetzen, indem sie auch »beim Verfehlen des Quorums das Mehrheitsvotum der Abstimmenden durch entsprechenden Gesetzesbeschluss im Landtag« übernehmen, obwohl die geltende Landesverfassung für ein Ausstiegsgesetz per Volksentscheid die Zustimmung von einem Drittel aller Wahlbeteiligten verlangt. Dieser Aufruf firmiert unter dem Label »direkte Demokratie«. Die Bürgerbewegung will sich in ihrem Protest gegen das Gesetzgebungsverfahren der repräsentativen Demokratie für die vermeintlichen »Interessen des Gemeinwohls« und »überhaupt für neue, weiterführende gesellschaftspolitische Ideen« einsetzen. Dafür wurde im Schlosspark ein Pavillon eingerichtet, der einerseits den Widerstand bereits musealisiert, anderseits aber aufzeigen soll, »was ›Zukunft‹ alles bedeuten kann«. Begleitet wird der Protest in diesem Monat außerdem von einer Veranstaltungsreihe zum Thema »Recht auf Stadt«. In der Ankündigung wird die »urbane Situation« Stuttgarts etwas größenwahnsinnig mit »Megaagglomerationen« wie Rio de Janeiro oder Dubai verglichen. Dabei ähneln die buntbemalten Indianerzelte der »Parkschützer« einem Freizeitlager des Christlichen Vereins junger Menschen auf der Schwäbischen Alb. Eingefasste Beete bezeugen das Ideal der autochthonen Selbstversorgung. Die einzige »urbane Situation«, die es in Stuttgarts Innenstadt je gab, wurde durch das Grundwassermanagement tatsächlich vorübergehend verdrängt: der Zentrale Omnibusbahnhof für den Fernverkehr.