Das Festival Make Music New York

Der weite Weg nach Rockaway Beach

Es ist »nicht weit nach Rockaway Beach«, heißt es in einem Ramones-Song von 1977. Um von Manhattan dorthin zu gelangen, braucht man aber schon eine ganze Weile. Doch der Ausflug lohnt sich, insbesondere wenn Gitarrist und Nachbarschaftsaktivist Les Paultre am Strand ein Freiluftkonzert organisiert.

Es ist der längste Tag des Jahres, und in Manhattan auf dem Times Square haben sich gerade Tausende von Yogis für das größte Yoga-Sleep-in aller Zeiten eingefunden. Eigentlich eine tolle Geschichte, sie ist am nächsten Tag auch prompt in der New York Times zu lesen. Und vor allem ist es heute so unerträglich heiß geworden, dass sich eigentlich eine Flucht an den Strand empfiehlt, nach Coney Island etwa. Oder man folgt dem guten Rat jener amerikanischsten aller Punkrockbands, jener genialen Rocker, die aus einer grandiosen Fusion von Punk und Rock’n’Roll eigentlich erst Punkrock kreiert haben – den Ramones. »It’s not hard, not far to reach, we can hitch a ride to Rockaway Beach«, sangen sie 1977 in ihrem Song »Rock­away Beach«. Die Ramones kamen aus Queens, und Rockaway Beach gehört gerade noch so dazu, es ist sozusagen der hinterste Zipfel von Queens. Im Rahmen des Festivals »Make Musik New York«, dem Pendant zur europäischen Fête de la Musique, sollen an der Ocean Overview am Ende der 20th Street auch vier Musikgruppen auftreten.
Am frühen Abend verlasse ich Williamsburg, jenen Stadtteil von Brooklyn am East River, in dem ewig jugendliche Hipster zu einer Art aggressiver Ethnie geworden sind. Andere Bevölkerungsgruppen haben sie längst aus dem Straßenbild verdrängt. Dieses Jahr geben sie sich durch Fünfziger-Jahre-Brillen, knatsch­enge Jeans und Espandrillos zu erkennen. Wegen eines Skateboardfestivals haben sie heute allerdings etwas Konkurrenz von zumeist ex­trem durchtrainierten, drahtigen Skaterjungs mit schwarzen Nutcase-Helmen. In dichten Kolonnen donnern sie wie eine Ökovariante der Hell’s Angels in Richtung McCarren Park an der Grenze zum Stadtviertel Greenpoint, wo am Wochenende immer Fußballturniere zentralamerikanischer Einwanderer stattfinden.
Die Linie J der New Yorker U-Bahn verläuft in Brooklyn jenseits der Williamsburg Bridge als Hochbahn über dem Brooklyner Broadway. Irgendwo an dieser Hochbahn, nahe der Haltestelle Flushing Avenue, ist mein Lieblingsdiner, ein etwas heruntergekommenes Etablissement. Während man seine kleinen dicken Pfannkuchen in Ahornsirup ertränkt und dem Per­sonal beim Nachbarschaftstratsch zuhört, gerät eine kleine Vitrine in den Blick, die dem Gedenken an die toten Feuerwehrmänner vom 11. September gewidmet ist.
Der Zug zuckelt an Häusern mit dunklen Teerdächern und bröckelndem Putz vorbei. Auf den Straßen sieht man Gruppen von Jugendlichen, die auf Treppenstufen sitzen, wie in einem Film von Spike Lee aus den Neunzigern.
Eine Viertelstunde später drängelt sich an der Haltestelle Broadway Junction eine Menschenmasse zwischen Zügen, Bahnsteigen und Ausgängen in Richtung Feierabend. Hier sind sie also geblieben, jene Subalternen, für die es in Manhattan zu teuer geworden ist. Das kann ­einen schon mal sentimental stimmen, während man am unteren Bahnsteig auf die Linie A nach Far Rockaway wartet.
Zwei Jungs in Flipflops steigen mit einem doch sehr gebraucht wirkenden 42-Zoll Flachbildschirm an der Euclid Avenue ein. Sie wollen nach Queens. »Und dann wollen wir auf den Mond.« Auf den Mond? Egal, was geht mich das an. Wir fahren nun an etwas schäbig wirkenden weißen Reihenhäusern entlang, auf die nach einer gefühlten Ewigkeit kleine Holzhäuschen an breiten Kanälen mit kleinen Motorbooten folgen. Die Bahn fährt jetzt ebenerdig. Old Glory flattert an fast jeder Veranda, und großflächige Werbebanner proklamieren die Unterstützung »unserer Truppen«. Hier, in Howard Beach, direkt am John F. Kennedy Airport, wohnt offenbar jenes Proletariat, das nach der Auslagerung der industriellen Produktion nach Mexiko oder China für Amerikas Kriege den Kopf hinhält. Von wegen das Proletariat kennt kein Vaterland. Es ist die Bourgeouisie, das liberale Establishment, das auf den Fahnen schwingenden Hurra-Patriotismus wieder pikiert reagiert, seit die Obama-Euphorie verschwunden ist.
Die Bahnlinie führt über einen Deich und eine Bahnbrücke, die jeweils die Enden einer großen Bucht, der Jamaica Bay, verbinden. Auf der einen Seite liegt Brooklyn, auf der anderen Seite Far Rockaway, ein Ortsteil von Queens, der vor sehr langer Zeit einmal eine selbständige Gemeinde war. Far Rockaway liegt auf einer Landzunge, die sich in den Atlantik erstreckt, als wollte sie über die Jamaica Bay hinweg Brooklyn und Queens wieder miteinander verbinden. Folglich ist Far Rockaway fast vollständig von Wasser umgeben, auf der einen Seite von der Jamaica Bay, auf der anderen Seite vom Meer. Man fühlt sich wie auf einer langgezogenen Insel. Zur Linken passiert der Zug zunächst ein verwaist wirkendes Industriegebiet, zur Rechten erstreckt sich eine windige Strandlandschaft, bis der Zug sich in einer leichten Kurve wieder in etwas dichter bevölkerte Wohngebiete begibt.
Wegen seiner mehrheitlich irischstämmigen Einwohner ist Far Rockaway auch als die »Irish Riviera« bekannt. Steht zumindest im Internet. Als ich an der Haltestelle 25th Street aussteige, begegnen mir auschließlich schwarze Menschen. So stellt man sich eigentlich keine Iren vor, auch wenn in dem Film »The Commitments« der Gründer einer fiktiven Dubliner Soulband, Jimmy Rabbitte, gespielt von Robert Arkins, sagt: »Die Iren sind die Schwarzen Europas.« Weil Armut in Amerika bekanntlich schwarz ist, genau wie ein erheblicher Teil der Gefängnis­insassen. Ist ja alles bekannt. Aber die weißgetünchten, einstöckigen Holzhäuser wirken nicht ausnahmslos ärmlich. Manche sind sogar sehr gepflegt, oft stehen große Autos davor.
Von hier ist es noch ein ganzes Stück zu laufen, bis zu dem »Beach Overview« an der 20th Street. Die großen quadratischen Backsteinbauten, an denen ich noch vorbei muss, sind nicht, wie ich mit gewisser Erleichterung feststelle, sogenannte »Projects«, groß angelegte Sozialwohnungsanlagen, deren Umgebung in der Regel als unsicher gilt. Im Gegenteil, die Gebäude sind mit abweisenden Stahlzäunen und bewachten Pförtnerhäuschen umringt und als »Luxury Oceanview Apartments« ausgewiesen. Andere sind Alterswohnheime des Jüdischen Verbands für Altenpflege mit Namen wie »Israel Senior Citizen House« oder »Brookdale Village Housing«. Einige Bewohner sitzen auf Plastikstühlen davor und unterhalten sich Russisch.
Als ich am Strand ankomme, ist die Sonne schon untergegangen. Am Ende der lang gestreckten Promenade spielt bereits eine Musikgruppe, umringt von einer kleinen, gutgelaunten Zuschauermenge. Die schwarzen Musiker singen religiöse Lieder. »Ich – ich habe das Licht«, singen der beleibte Leadsänger und der aus fünf Frauen bestehende Chor im Refrain. Alle sind in wallende weiße Gewänder, gehüllt, ­außer dem Keyboarder und dem Saxophonisten, die lange Dreadlocks und schwarze Kippas tragen.
»Wir sind Juden«, erklärt Oriel Reuben, der beleibte Leadsänger im melodischen Bariton, »von der Bethlehem-Synagoge in St. Albans, Queens.« Der Saxophonist sei ihr Rabbi, aber er sei »etwas schüchtern«. Was man von Oriel nicht behaupten kann. Er erklärt, dass seine Gemeinde eine von sieben »schwarzen Synagogen« sei. Diese seien zunächst von äthiopischen Juden gegründet worden, die in mehreren Wellen in die Vereinigten Staaten eingewandert seien. Er selbst aber sei als Baptist geboren worden. Erst mit 50 Jahren habe er seine jetzige Frau Deborah kennengelernt, die ihn mit in die Synagoge genommen hätte. Oriel war sofort überzeugt. »Ich bin nicht konvertiert«, behauptet er, »ich bin zurückgekehrt, nämlich zu der Religion, die immer schon unsere war.« Das Lied »Ich habe das Licht« hat er selbst geschrieben, es ist ihm, wie er sagt, »im Schlaf offenbart« worden. Er habe gerade keinen Job gehabt, und »der Meisthöchste« habe ihm damit zeigen wollen, dass »alles in Ordnung ist«. Daraufhin habe er den Song sofort niedergeschrieben. Jetzt arbeitet er als Gerichtshelfer im Zivilgericht in Queens, wo er Leute in Mietrechtsfragen berät.
Oriel stellt Les Paultre vor, den Organisator des Konzerts. Der trägt eine ovale Brille und die unter den Musikern offenbar recht beliebten langen Dreadlocks. Er bereitet gerade den Auftritt seiner Band vor, während inzwischen eine Band mit jungen Collegestudenten loslegt. »Hier unten in Far Rockaway war kulturell einfach zu wenig los«, sagt der Mittdreißiger, der eine kleine Musikproduktionsfirma mit dem Namen Onstage Production leitet. Er beschloss daraufhin, »die Musik in die Nachbarschaft zurückzubringen«, statt immer nur in teuren Clubs in Manhatten zu spielen. Seit drei Jahren orga­nisiert er nun jeden ersten Freitag im Monat Konzerte in Far Rockaway.
Unterstützt wird Les Paultre von vielen örtlichen Initiativen, darunter auch der Gruppierung »Ready Rockaway«. Ihre Mitglieder haben sich auf einer Bank unter einer Laterne des Boardwalks niedergelassen. Gründerin Jackie Bascom erklärt das Ziel der Initiative: »Wenn es eine große Katastrophe gibt, einen Tsunami oder eine Öl- oder Chemietankerhavarie vor der Küste New Yorks, dann sind wir die ersten, die es trifft.« Weil man sich nach den Erfahrungen mit den Behörden während des Hurricane Katrina nicht mehr auf die staatlichen Stellen verlassen will, haben die Mitglieder von »Ready Rockaway« angefangen, die Bevölkerung aufzuklären, wie sie sich am besten auf einen solchen Unglücksfall vorbereiten kann. Auf jeden Fall sollte jeder zu Hause über einen sogenannten Go Bag verfügen, einen Rucksack oder eine Tasche mit den nötigsten Dingen.
No Image, die Band, bei der Les Paultre einen von gleich drei Gitarristen stellt, ist unverkennbar der Hauptakt des Abends. Zwei Sänger, ein Herr im rot-lila Anzug und eine Sängerin mit Kunstlocken und Ledermini, bieten Funk, R’n’B und Reggae-Stücke. Der Mann im Anzug gibt einen überzeugenden James-Brown-Imitator ab. Als er sich bei »Sex Machine« auf die Knie wirft, wippt das inzwischen 100 Personen starke Publikum im Takt. Doch so richtig in Stimmung kommt die Menge erst, als die lockige Sängerin Stevie Wonders »I believe« singt. Es ist inzwischen dunkel geworden, die Laternen und die Lichter aus den Wohnblöcken geben das wohlige gelbe Licht ab, das amerikanische Städte in heißen Sommernächten so angenehm macht. Eine junge Frau mit Afro im knatsch­roten Trainingsanzug tanzt mit einer Bewohnerin des Altersheims, die sich ihre schulterlangen weißen Haare mit einem lila Stirmband aus dem Gesicht hält, während der Gitarrist mit Spiegelglatze ein Solo mit den Zähnen spielt. Als die Band zum Abschluss »Purple Rain« von Prince spielt, singen alle inbrünstig mit.
Nach mehr als zwei Stunden musikalischer Unterhaltung löst sich die kleine Ansammlung unter den wachsamen Augen einer Streifenwagenbesatzung des New York Police Department auf. Man wünscht sich gegenseitig einen guten Heimweg, während Les und die Bandmitglieder die Anlage in einem Kombi verstauen. Während ich mich auf den langen Weg zurück nach Brooklyn mache, ist meine Melancholie einem Gefühl von Stolz gewichen. Stolz darüber, dieser einen einzigartigen Spezies anzugehören, die so großartige Musik wie die von James Brown, Stevie Wonder oder der Ramones hervorgebracht hat. Einer Spezies, die durch keine Stadt der Welt so gut vertreten wird wie durch die Bewohner von New York City.