Die Kritik an der griechischen Protestbewegung

Viel Empörung, wenig Inhalt

Die griechische Protestbewegung wird von verschiedenen Seiten dafür kritisiert, unpolitisch zu sein. Was ist dran an diesem Vorwurf?

In Spanien werden die Demonstranten, die in den vergangenen Wochen auf Plätzen campierten und protestierten, indignados (»Empörte«) genannt. Auch bei den Protesten in Griechenland ist von »Empörten« die Rede, doch hat dies hier einen etwas anderen Klang. Denn als aganaktismeni polites (»empörte Bürger«) bezeichneten die Medien seit Mitte der achtziger Jahre euphemistisch auch die parastaatlichen Gruppen von Faschisten, die sich über linke »Chaoten« empörten und in harmonischer Zusammenarbeit mit der Polizei gegen sie vorgingen. Da auch jetzt Faschisten unter den Protestierenden auftauchen, weckt der Begriff bei älteren Linken einige ungute Erinnerungen. Sie kritisieren, es sei unpolitisch, wenn die Geschichte der politischen Kämpfe vergessen und ausgeblendet werde.
Doch wie unpolitisch ist die Bewegung der »Empörten« auf dem Syntagma-Platz und auf den zentralen Plätzen anderer griechischer Städte? Sofern die Krititk von den linken Parteien geäußert wird, bezieht sie sich vor allem darauf, dass bei den Protesten Symbole und Fahnen jener Parteien und sonstiger politischer Gruppen nicht gern gesehen werden. Die Bewegung lehnt die klassische Politik ab, indem sie sich etwa gegen Parteien und Berufspolitiker abgrenzt, zur gleichen Zeit übernimmt sie jedoch die Inhalte jener »alten Politik«: Griechische Nationalfahnen werden geschwenkt, man spricht ständig davon, was es heiße, Grieche zu sein, man beschwert sich über die »Korruption« und den »Verrat« und bezieht sich positiv vor allem auf die Demokratie – und zwar auf eine angeblich »reale« Version derselben.

In Ägypten und Tunesien mag der Begriff »Demokratie« dazu getaugt haben, unterschiedliche ­gesellschaftliche Forderungen zu vereinen, etwa nach politischen Rechten und Säkularisierung, nach einem Ende von Patriarchat und Armut usw. In Griechenland aber funktioniert das nicht. Das liegt schon daran, dass der Kern der griechischen Krise nicht in einem Mangel an Demokratie besteht, eher sogar im Gegenteil: Die Institutionen der Demokratie funktionieren perfekt, arbeiten zusammen und haben so erreicht, dass die sich stetig verschärfende Krise in den vergangenen Monaten und Jahren als ein naturgegebenes Phänomen wahrgenommen und völlig entpolitisiert wurde. Alle gesellschaftlichen Gruppen dürfen in Griechenland ihrem Unmut Ausdruck verleihen und tun es auch, nur nimmt kein Politiker sie ernst, denn die Ökonomie wurde zu einem Reich der Sachzwänge erklärt. Die Forderung nach einer »realen Demokratie«, die die »Empörten« vorbringen, ergibt daher keinen Sinn.
Ein weiteres Merkmal der »Empörten« bildet die Gewaltfreiheit. Die Tausenden Versammelten schienen überzeugt davon zu sein, Gewalt habe bisher nichts gebracht. Sie verwiesen auf die Revolten in Ägypten und Tunesien. Der Syntagma-Platz sollte zum griechischen Tahrir-Platz werden. Die Massenmedien begrüßten dieses Bekenntnis zum Pazifismus selbstverständlich, und die Politiker erfreute es auch, denn es ist dem Staat ohne Zweifel lieber, wenn die Massen vor dem Parlament singen und diskutieren, als wenn sie drohen, es zu stürmen.
Beim Vergleich zwischen den Protesten in Griechenland und den Revolten in den arabischen Ländern wird jedoch übersehen, dass in Ägypten keine Versammlungsfreiheit bestand und eine friedliche Kundgebung deshalb schon als ausgesprochen radikale Aktion wahrgenommen wurde. Und auch wenn auf dem Tahrir-Platz die Menschenmenge weitgehend friedlich blieb: Allein ihre Präsenz war bereits eine Drohung, dass die Regierung notfalls auch gestürzt werden könne.
Die Bewegung der »Empörten« behauptet, daran anknüpfen zu wollen. Weil die »herkömmlichen« Mittel des Klassenkonflikts, wie etwa Besetzungen, Streiks und Krawalle, veraltet seien, könnten nur friedliche Versammlungen auf Plätzen etwas bewegen. Doch auch hier hinkt der Vergleich mit Ägypten. Denn in Ägypten, dessen Wirtschaft auf den Tourismus angewiesen ist, führten aktive Streiks und die Auseinandersetzungen mit der Polizei dazu, dass Touristen abgeschreckt wurden, was kurzfristig starke Auswirkungen auf die Wirtschaft hatte und die politischen Entwicklungen beschleunigte.
In Griechenland haben die Generalstreiks am 15., 28. und 29. Juni und ihre gewaltsame Zerschlagung durch die Polizei immerhin gezeigt, dass die griechischen »Empörten« beides können: sowohl mit Worten als auch mit Steinen protestieren.

Vertreter radikalerer Positionen, vor allem die Anarchisten, kritisieren zudem die unreflektierte Sprache der »Empörten«. Das Repertoire der Bewegung besteht zu einem großen Teil aus der plumpen Parole »Diebe, Diebe!«, dazu werden gerne die Nationalhymne und wenig gehaltvolle fussballstadionkompatible Gesänge intoniert. Anstatt begierig nach Analysen der neuen politischen Entwicklungen zu sein und über sie zu diskutieren, lehnen die »Empörten« sämtliche Flugblätter ab, damit die Bewegung bloß nicht politisiert werde. Auch bieten die anderthalbminütigen stichwortartigen Redebeiträge auf dem Platz, auf die wegen der großen Anzahl williger Redner ein jeder beschränkt ist, nicht gerade die Möglichkeit einer gut begründeten Stellungnahme. Es handelt sich um eine an Facebook erinnernde Diskussionsweise, bei der der Redebeitrag zum Posting-Kommentar wird und die Reaktion zum Emoticon.
Die anarchistischen Kritiker bemängeln auch, dass diese Bewegung erst auftauchte, als der Wohlstand der Mittelschicht gefährdet war. Allerdings ist der Ausgang des Kampfes ja noch offen. Und es lässt sich bislang auch nicht absehen, ob er in der romantischen Forderung nach einem »gerechteren« Kapitalismus verharren oder sich vielleicht doch zu einer umfassenden Staats- und Kapitalismuskritik weiterentwickeln wird.