Straßenschlachten in Ägypten

»Wie während der Revolution«

Menschen, die einmal gemerkt haben, was sie erreichen können, wenn sie zusammen kämpfen, sind schwer zu regieren. Das spürt derzeit die ägyptische Militärregierung. Trotz Pressezensur, Militärgerichten und des weiterhin geltenden Ausnahmezustands zeigt sich immer wieder: Politik wird in Ägypten auf der Straße gemacht. Vergangene Woche fanden spontane Proteste auf dem Tahrir-Platz statt. Es gab Straßenschlachten mit offiziell 1 100 Verletzten.

Der Ausbruch der Proteste war spontan, ihre Gründe liegen aber in der Vergangenheit. Schon seit Wochen hatten sich in Kairo unter den Protestierenden Erstarrung und Frustration verbreitet. Die letzte große Demonstration fand Ende Mai statt, seither befand sich die Bewegung mehr oder weniger im Leerlauf, die Aktivisten eilten zu Gerichtsterminen, versuchten in mühsamer Kleinarbeit diejenigen zu unterstützen, die vor Militärtribunale gestellt wurden, und beobachteten, wie die juristische Aufarbeitung der Verbrechen des alten Regimes voranging.
Sie spürten immer deutlicher: Ohne Druck von der Straße passiert gar nichts. Die Polizei begann wieder, oft willkürlich Festgenommene zu Tode zu prügeln – allein vier waren es im Juni. Der einzige Polizist, der bisher für das Erschießen von Demonstranten während der Revolution verurteilt wurde, war schon vor dem Prozess geflohen und plauderte nun frohen Mutes in einer Fernseh-Talkshow. Die Aktivisten setzten die nächste Großdemonstration für den 8. Juli an, wenn die Schul- und Universitätsexamen vorbei sind.
So lange sollte es dann doch nicht dauern. Am 26. Juni wurde der lang erwartete Prozess gegen den letzten Innenminister des Regimes Hosni Mubaraks, Habib al-Adly, der verantwortlich für Tausende Tote ist, ohne Begründung erneut verschoben. Die Entscheidung ließ Aktivisten und Familienmitglieder von Menschen, die während der Revolution getötet worden waren, wütend und frustriert zurück. Die Familien, die überwiegend aus den ärmsten Teilen Kairos und Ägyptens stammen, waren für den Prozess ins Zentrum der Hauptstadt gekommen und hatten schon Tage zuvor am Nilufer vor dem TV-Gebäude in Maspiro gecampt. Nach der Vertagung des Prozesses blieben sie, um weiter Druck zu machen – und lösten am Dienstag voriger Woche die Proteste aus.
Einige Angehörige der Getöteten waren am Dienstagabend zum Baloon-Theater in der Innenstadt gezogen, dort sollte ein feierliches Gedenken an die »Märtyrer« der Revolution stattfinden. Die Angehörigen, die Bilder und Plakate bei sich trugen, wurden jedoch nicht eingelassen. Die Familien begannen daraufhin, über einen Zaun zu klettern, die herbeieilenden Repressionskräfte gingen brutal gegen sie vor. Einige Aktivisten, die dies mitbekamen, verbreiteten die Information im Internet, und sofort eilten Hunderte Unterstützer herbei. Ein Demonstrationszug zum Innenministerium wurde von der Polizei angehalten, und dann ging alles ganz schnell. Steine wurden geworfen, die Polizei setzte Tränengas ein, und immer mehr Menschen eilten zum Tahrir-Platz.
Gegen Mitternacht hatte sich das Gebiet um den Tahrir-Platz in ein Schlachtfeld verwandelt. Tausende Menschen rannten, schrien, husteten, riefen gemeinsam Parolen: »Das Volk verlangt, dass der Militärchef geht!« Kein Plakat war zu sehen und keine Fahne, die meisten waren vom Protest überrascht worden und sofort hergeeilt, manche trugen noch den Anzug von der Arbeit und hatten nicht mehr als ein Tuch oder einen Stofffetzen, um ihr Gesicht zu schützen. Über dem ganzen Platz schwebte eine Wolke von Tränengas, ununterbrochen knallten die Gasgeschosse, die in die Menge fielen.
»Das ist der 28. Januar«, keuchte ein Demons­trant. »Eindeutig. Der 28. Januar.« Freiwillige rannten umher, träufelten Essig auf die Tücher und wuschen tränende Augen aus. Vor der Amerikanischen Universität, auf einer Seite des Platzes, lieferten sich Polizei und Demonstranten eine Schlacht mit Gas, Gummigeschossen und Steinen, die die Protestierenden aus dem gerade erst geflickten Boden schlugen. Motorräder knatterten wild zwischen den Menschen hindurch, die blutenden Verletzen aus den ersten Reihen wurden zu den Krankenwagen getragen, die in langen Reihen am anderen Ende des Platzes warteten, ihr Blaulicht tanzte über die Fassaden der umliegenden Häuser. Als die Nachricht kam, dass die Polizei Verletzte in den Krankenhäusern verhaf­tete, weigerten sich die meisten, dorthin gebracht zu werden. Über Twitter riefen die Aktivisten nach Verbandsmaterial und nach Ärzten, vor der Moschee am Rande des Platzes und der Filiale von Kentucky Fried Chicken am anderen Ende wurden mobile Mini-Hospitäler eingerichtet. »Wie während der Revolution«, riefen die Aktivisten. »Essam Sharaf! Morgen möchten wir dich hier auf dem Platz sehen, oder wir garantieren dir, du wirst nicht mehr lange im Amt sein«, schrieb der Blogger Alaa an den Premierminister. Schließlich war es den Demonstrierenden schon zweimal gelungen, eine Regierung zu stürzen. Immer noch eilten Demonstranten herbei. In der Tahrir-Straße, die zum Platz führt, standen Hunderte Polizisten mit einem Wasserwerfer. Doch sie schossen nicht. Demonstranten standen vor ihnen und diskutierten. Der Einsatzleiter sagte, er weigere sich, die Befehle auszuführen.
Gegen vier Uhr dann zog sich die Polizei zum nahen Innenministerium zurück. Die Lage wurde sofort ruhiger. Weitere Verletzte wurden zu den Ärzten getragen, erschöpft ließen sich die Demonstranten auf das Gras im Zentrum des Platzes fallen und setzten sich auf den Boden, der von Steinen und Gaskartuschen übersät war. Kurz vor sechs Uhr war die Ruhe vorbei. Die Polizei kehrte zurück, die Kämpfe gingen weiter und weiteten sich auf die umliegenden Straßen aus. Um zwölf Uhr zog sich die Polizei aus der Innenstadt zurück – und wurde die nächsten Tage nirgends gesehen. Die Kämpfe verlagerten sich zum Innenministerium und gingen bis zum Nachmittag weiter.
Die Regierung schien von den Ereignissen vollkommen überrascht worden zu sein – und hat weiterhin keine Ahnung, wie sie mit Zehntausenden Protestierenden umgehen soll. Sie griff erst einmal auf die Taktik zurück, die sie auch schon während der Revolution angewandt hatte, und schaltete in der Innenstadt das Internet ab. Offenbar wollte die Regierung vor allem verhindern, dass sich die Aktivisten über Twitter koordinieren oder Nachrichten und Bilder von den Kämpfen ins Netz stellen.
Noch in der Nacht zum Mittwoch veröffentlichte der herrschende Militärrat SCAF ein Kommuniqué. Bei den Protesten handele es sich um eine geplante Aktion, um Unruhe im Land zu stiften und die Sicherheit zu gefährden. Der SCAF rief alle Ägypter auf, sich diesem Versuch entschieden entgegenzustellen. Das Gesundheitsministerium sprach von elf Verletzten in der Nacht auf Mittwoch, die Zahlen wurden dann alle zwei Stunden nach oben korrigiert – am Abend waren es den offiziellen Angaben zufolge mehr als 1100, ein Toter wurde bestätigt, dann aber nicht mehr erwähnt, Demonstranten sprechen von möglichen weiteren Todesopfern.
Am Mittwoch voriger Woche kündigte Premierminister Sharaf an, er werde sieben Minister entlassen. Kurz darauf kam die Meldung des Militärrates, er akzeptiere dies nicht, die Minister müssten alle im Amt bleiben. Gegen 14 Uhr erklärte Innenminister Essawy der BBC, er werde zurücktreten. Offenbar wurde er zurückgepfiffen, denn es gab danach weder eine Bestätigung noch ein Dementi. Am folgenden Tag kam eine neue Erklärung des SCAF, derderzufolge die Familien der während der Revolution Getöteten eine Entschädigung und Versicherungen erhalten sollen, ebenso alle, die während der Revolution verletzt wurden. Im letzten Absatz ging der SCAF noch auf die aktuellen Proteste ein.
Doch die widersprüchliche Politik der Regierung interessierte zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige. Ab Mittwochmittag war die Öffentlichkeit mit etwas ganz anderem beschäftigt: Fußball. Am Abend sollte das Spiel zwischen Ahly und Zamalek stattfinden, eine der wichtigsten Begegnungen der ägyptischen Liga. Am Vormittag wurde das Spiel wegen der Proteste und der prekären Sicherheitslage abgesagt. Am frühen Nachmittag erklärte das Innenministerium jedoch, das Spiel werde stattfinden – auch gegen den Willen der beiden Clubs, die sich zunächst weigerten. Das Innenministerium hoffte, die Menschen würden vor ihrem Fernseher sitzen und die teils sehr politischen Fußballfans lieber ins Stadion gehen. Jeder Spieler wurde am Abend von zwei Militärpolizisten ins Stadion eskortiert, unzählige Soldaten saßen in den Rängen, um das Spiel zu sichern. Die von den Fans skandierten Slogans gegen das Militär und die Regierung wurden in den Fernsehübertragungen säuberlich herausgeschnitten. Es war der erste Teil der Propagandakampagne, die am nächsten Tag begann. In den Zeitungen hieß es, organisierte, vom Ausland bezahlte Verbrecher hätten Chaos gestiftet. Das Innenministerium zeigte auf seiner Website offensichtlich montierte und bei anderen Gelegenheiten aufgenommene Bilder der »Protestierenden auf dem Tahrir-Platz«. Zu sehen waren dabei schwer bewaffnete und muskulöse Männer, Gewehre und Pistolen im Anschlag. »Und wir haben nur Gas geschossen«, lautete die Überschrift.
Der Platz blieb seit diesem Mittwoch zunächst besetzt. Die ersten Gruppen stellten wieder Zelte auf und sperrten einen Teil des Platzes mit Bändern ab. Sie kündigten an, bis zur Großdemonstration am 8. Juli zu bleiben. Die Polizei ließ sich nicht mehr blicken. Vier Tage lang blieb es ruhig, jede Nacht strömten einige Hundert Menschen auf den Platz, um das Camp über Nacht zu sichern. Doch bereits am Samstagnachmittag wurden die Aktivisten unruhig. »Hier sind seltsame Menschen auf dem Platz«, sagte Mohammed, ein Aktivist. »Das sind nicht alles Protestierende.« Unruhig betrachtete er die Grüppchen von jungen Männern, die zwischen den Zelten hindurchstreiften. Am Sonntag sollte sich die Befürchtung bestätigen: Nicht die Polizei kam, um das Camp zu räumen, sondern Gruppen von Männern mit Holzknüppeln und Stöcken. Sie stürmten das kleine Camp, rissen die Zelte nieder und brannten sie ab. Offenbar kam zumindest ein Teil der Angreifer aus den Reihen der fliegenden Händler rund um den Platz, einige von ihnen erzählten Demonstranten, sie hätten 50 Pfund (etwa vier Euro) für den Angriff erhalten. Andere Zeugen behaupteten, sie hätten organisierte Gruppen aus der Richtung des Innenministeriums kommen sehen. Die Zeitung al-Masry al-Youm berichtete, mehreren Zeugen zufolge seien am Tag zuvor Polizisten in Zivil auf dem Platz gewesen und hätten sich länger mit den Händlern unterhalten. Wie auch immer, die Taktik schien klar. »Sie trauen sich nicht mehr her«, meinte die Aktivistin Rana. Nun warten alle auf den 8. Juli und darauf, ob die Regierung den erneuten Aufstand aussitzt oder das Militär eingreifen lässt.