Über den Begriff der Gewalt

Steine werfen erwünscht

Die Gewalt ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Ein Diskurs über einen Begriff

Seit den polizeilichen Übergriffen auf friedlich demonstrierende, zwar auf die Politik wütende, ihr aber doch in jeder Hinsicht loyal verpflichtete Bürger, wie sie insbesondere um das Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21« öffentlich und aktenkundig wurden, scheint eine ältere, aber über die Jahre etwas in Vergessenheit gerate Debatte wieder aktuell zu werden: die sogenannte Gewaltfrage.
Entscheidend und interessant ist, dass diese neue Gewaltdebatte nicht mehr ausschließlich unter Gesichtspunkten von »Taktik und Ethik« (Georg Lukács) linker oder vielmehr linksradikaler Bewegungen geführt wird, also nicht mehr von einer möglichen Weltveränderung im Namen des Widerstands der Unterdrückten die Rede ist, sondern sich situationsgebunden ein systemimmanenter Bürgerprotest aus zwei Perspektiven ergibt, die problematisiert werden.
Erstens geht es darum, wie das Gewaltmonopol des Staats vor sich selbst und durch sich selbst geschützt werden kann.
Und zweitens geht es um staats- oder privatbürgerliche Interventionsmöglichkeiten gegen definitiv illegitime Gewalt bzw. um die Frage, inwieweit die Exekutivgewalt zur Bürgerpflicht wird, vor allem wenn der Staat seine Exekutiv­organe von dieser Pflicht entbindet. (Was tun, wenn Nazis sich versammlungsrechtlich und polizeilich geschützt durch Städte und Dörfer prügeln?)
Das allgemeine Gewaltverhältnis – also die Tatsache, dass die Moderne wesentlich über Gewalt konstituiert ist – bleibt in der Debatte zunächst ausgespart, obwohl die Gewaltfrage durchaus allgemein verhandelt wird. Das Dilemma ist die Dialektik der Gewalt, wonach institutionalisierte Gewaltformen immer wieder mit offener, nicht legitimierter oder als Unrecht erlebter Gewalt kollidieren, so dass eine eigentlich als gewaltfrei erscheinende Normalität von Schule, Straßenverkehr, Arbeitsamt, Gefängnis etc. immer wieder in ein Klima des Verbrechens und der üblichen Brutalitäten des Alltags, bis hin zu Amoklauf, umschlagen kann. Das berührt die Ambivalenz, die ohnehin der Moderne immanent ist:
Einerseits sind Formen von Gewalt abstrakt allgegenwärtig und in dieser diffusen, unspezifischen Allgegenwart nicht vergleichbar (strukturelle Gewalt, psychische Gewalt, latente Gewalt, symbolische Gewalt, diskursive Gewalt, Hate Speech etc.). Diese Formen von Gewalt entziehen sich deshalb der unmittelbaren Kritik (oder die unmittelbare Kritik ist ebenfalls nur als Gewalt möglich, ohne dass diese aber in ihrer Unmittelbarkeit aus der Handlung gerechtfertigt werden kann, außer als Notwehr).
Andererseits lassen sich jedoch umso konkreter Formen der körperlichen Gewalt problematisieren, weil sie aus der Allgegenwart unspezi­fischer und abstrakter Gewaltnormalität als spezifische und damit vergleichbare Erfahrungen herausgelöst werden können. Die vermittels von Gewalt als gewaltfrei zusammengehaltene Alltäglichkeit wird zerrissen oder zumindest irritiert: plötzlich eine Schlägerei in der Einkaufsstraße, plötzlich ein Scharmützel bei der Demonstration. Hinzu kommt: Je manifester die Form physischer Gewalt, desto offensichtlicher steht ihre Legitimität in Frage, obwohl gleichzeitig das Legitimitätsproblem durch Sympathie und Solidarität ersetzt wird – jedenfalls spontan und affektiv. Denn je wehrloser diejenigen erscheinen, auf die eingeprügelt wird, desto weniger steht das Recht überhaupt zur Disposition – vielmehr geht es darum, die als Opfer Identifizierten intuitiv-moralisch in Schutz zu nehmen.
Wird nun nicht länger davon ausgegangen, dass eine demokratische Gesellschaft zugleich auch eine repressive Gesellschaft ist, sondern vertraut man prinzipiell den Garantien bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit vor allem auch in Hinblick auf sämtliche zum Beispiel an einer Demonstration oder Auseinandersetzung beteiligten Akteure, dann kann die Situation nicht anders denn als paradox empfunden werden. Die Paradoxie entlädt sich in Wut, und zwar nicht nur in die der demonstrierenden Bürger, sondern auch die der Polizei, ja, die des Staats schlechthin; gleichzeitig wird die Paradoxie aber verlängert, indem Wut oder allgemeine Empörung innerhalb der Auseinandersetzungen sozusagen als Argumente autorisiert werden. An »Stuttgart 21« etwa lässt sich nachvollziehen, wie selbst an den Verhandlungstischen »Empörung« auf allen Seiten, auch der Bahn, als kommunikative Form aggressiver Politik zum Status quo wird.
Anders als bei den Diskussionen um revolu­tionäre Gewalt, die primär von der Position der Macht oder Ermächtigung aus geführt werden, stehen die nun verhandelten Gewalt-Situationen unter dem Vorzeichen der Ohnmacht oder sogar Entmachtung. Ging die radikale Linke noch von einer potentiellen Überlegenheit gegenüber den gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen aus, scheint heute allenthalben ein Gefühl des Ausgeliefert-Seins vorzuherrschen, sofern über die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse grundsätzliches Einverständnis herrscht. Entscheidend ist das deshalb, weil damit die Gewaltfrage sich nur noch punktuell stellt und nicht mehr in Hinblick auf eine Gesellschaft, die trotz einer freiheitlichen und demokratischen Grundordnung in ihrem strukturellen Antagonismus Repression, Ausbeutung und Unrecht reproduziert.
Die Gewalt wird nunmehr verdoppelt: Der Schlag der Mutter, der das Kind trifft, ist eben nicht nur der schmerzvolle Schlag, sondern zudem die Gewalt gegen das wehrlose Kind, das auf die Obhut der Mutter vertraut; und die Gewalt der Polizeiknüppel, mit denen auf Demonstranten eingedroschen wird, ist größer als nur die des Knüppels, wenn die Demonstranten Individuen sind, die sich durch nichts anderes als ihre Bürgerrechte geschützt glaubten, denen die Exekutivgewalt mit Knüppeln mehr als nur zu widersprechen scheint.
Dabei vermischen sich Mittel und Zweck. Neu ist, dass »Gewalt als Mittel« wie auch »Gewalt als Zweck« gleichermaßen keine wirklich positive Referenz mehr darstellen. Die Vorstellungen der reinen Gewalt werden negativ: Gewalt wird in ihren konkreten Effekten (Schmerz, Platzwunden, Verunsicherung etc.) nur noch als brutal und unkontrolliert erlebt. Opfer sind die plötzlich Betroffenen. Gewalt als solche wird im Fokus von Gesetz und Rechtsstaatlichkeit zum erlebten Unrecht, zum Irrationalismus, gegen den Opfer sich gewaltlos-vernünftig als Betrof­fene kollektivieren. Dadurch wird aber das Legitimitätsproblem wieder auf anderer Ebene ­virulent: In der Gewaltfrage wird so nämlich die Rationalisierung, die sich bislang weitgehend auf den sittlichen Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols bezog, auf das Individuum verlagert, das nun seinen moralischen Standpunkt als Privatangelegenheit rational kommunizieren muss. Anders funktioniert die kollektive Empörung gegen Polizeigewalt nicht, gerade weil es ja insgesamt nicht um staatliche Gewaltzusammenhänge geht.
Gerade weil jedoch die das sogenannte öffentliche Bewusstsein beeinflussende Vermittlung der Gewaltfrage auf Bilder angewiesen ist – und der Vorrat an Bildern der Gewalt metaphorisch begrenzt ist –, vermischen sich hier die Auffassungen diffus mit den bisher in der Linken geführten Diskussionen um Gewalt und fallen immer wieder auf den moralischen Standpunkt zurück. Das ergibt ein Dilemma, weil damit die Repräsentation von Bildern negativer Gewalt (die blutenden Demonstranten) durch Repräsentationen von Bildern positiver Gewalt (die blutenden Demonstranten, die sich geschlossen der Polizei entgegenstellen) durchkreuzt wird.
Solche Bilder verweisen auf eine ästhetische Dimension der Gewalt, die über das reine politische Mittel hinaus bereits einen zweckähnlichen Eigenwert der Gewalt markiert. Spätestens mit Georges Sorels Schrift »Über die Gewalt« aus dem Jahr 1908 tritt diese Ästhetik der Gewalt als eine ihr in ihrer gesellschaftlichen Funktion eigentümlichen »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« (Kant) immer stärker hervor: Vor allem in Hinblick auf eine – sei’s reale, sei’s imaginäre – revolutionäre Praxis sollte sich in den Gewaltmitteln immer schon etwas von den Zielen oder zumindest Absichten widerspiegeln, was einem symbolischen Zweck der Gewalt nahekommt. Als Bild wurde diese Ästhetik der Gewalt schließlich an den Begriff und die Idee der Revolution zurückgekoppelt – die revolutionäre Gewalt le­gitimierte sich nicht nur durch die revolutionäre Situation, sondern durch die ihr immanenten Effekte, die Ästhetisierung des Politischen zu potenzieren.
Keineswegs unbedeutend ist es, dass Sorel seine Gewaltschrift in Zeiten einer zunehmend durch Fotografie und Film bestimmten Wirklichkeit herausgab. Der Erste Weltkrieg war der erste Krieg, der systematisch-repräsentativ vom Kameraobjektiv erfasst wurde. Und die Oktoberrevolution lieferte die historischen Zeichen, mit denen Sergej Eisenstein die berühmten, noch heute ikonographisch gültigen Bilder von Gewalt und Geschichte zum Cinematographischen machte und damit ins Kollektivbewusstsein montierte. Man denke an die Treppenszene, überhaupt an die Filme »Panzerkreuzer Potemkin« und »Oktober«. Ohnehin ist zu bemerken, wie schnell Gewaltverhälnisse im Kino zum Bild werden, etwa bei D. W. Griffiths »Die Geburt einer Nation«.
Tatsächlich wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine abstrakte Gewalt durch fotografische Bilder in bisher unbekannter Brutalität sichtbar, und das heißt: konkret und nachvollziehbar. Dabei zeigt sich im Film und auf den Fotos Gewalt in einem Doppelcharakter, der beispielsweise in den Historiengemälden von Schlachtendarstellungen nie in dieser Ambivalenz hervortrat. Was bislang nur als Attribut der Gewalt sich darstellte, erscheint jetzt als ihr Wesen – Gewalt als Vernichtungskraft versus Gewalt als Schöpfungskraft; Gewalt als Unterdrückung versus Revolution. Dieses »versus« ist ein ästhetisches Vexieren, das dann in die Kunst aufgenommen wird, Ästhetik der Gewalt und Gewalt der Ästhetik konvergieren. Was Sorel bereits andeutete, machen schließ­lich die italienischen Futuristen zum Programm: Zerstörung ist Schöpfung; der Tod wird zur lebendigen Gewalt.
Politisch haben sich Faschismus und Nationalsozialismus diesen Ästhetizismus der Gewalt zu eigen gemacht. Aber Lenin, Trotzki, Stalin und Mao haben solche Strategien auch in die revolutionären Bewegungen eingeschrieben – und damit das realhumanistische Motiv der Revolution korrumpiert, wenn nicht sogar im blanken Terror pervertiert. Unbeantwortet blieb damit die eigentliche Frage der Gewalt, nämlich wie, wo, wann und in welcher Weise Gewalt in die emanzipatorische Praxis hineingenommen wird oder überhaupt werden kann. Walter Benjamins Essay »Zur Kritik der Gewalt« von 1921 wird gemeinhin als Versuch rezipiert, diese eigentlich problematische Gewaltfrage zu beantworten. Benjamins Resümee: »Die Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Geschichte.« Was ist aber die Philosophie der Geschichte der Gewalt?
In Stichworten ließe sich das skizzieren: Schon mit dem Beginn der Neuzeit ist Gewalt als politisches Thema relevant und wird in den modernen Staats- und Regierungstheorien bei Machiavelli (»Der Fürst«) oder Hobbes (»Le­viathan«) diskutiert. Mit der Aufklärung stellt sich vor dem Hintergrund von Revolution, Wohlfahrtsausschuss und Guillotine erstmals die Frage der moralischen Legitimität von Gewalt und findet Eingang in die Theorien der bürger­lichen Gesellschaft. Sie erscheint nunmehr als ambivalente Kraft, die durch den souveränen Nationalstaat nicht nur gebändigt wird, sondern die diesem in seiner modernen politischen Verfasstheit überhaupt erst die notwendigen Konturen verleiht. Gewalt erscheint insofern als Widerspruch, durch den zwar die bürgerliche Gesellschaft charakterisiert, aber nicht bedroht ist: Jede geschichtliche Gewalt, als Krieg oder Revolution, festigt letztlich die Gesellschaft und den Staat; deshalb kann etwa Hegel selbst in der äußersten Gewalt noch die Vernunft entdecken, die den geschichtlichen Fortschritt in Gang hält. Doch die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft weisen strukturell über die staatliche Ordnung der Gewalt hinaus und konterkarieren diese: »die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes«, notiert Marx. Deshalb ist nicht die Gewalt das Problem, sondern die Gewaltverhältnisse sind es, also gesellschaftliche Verhältnisse, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Die Gewalt selbst bleibt insofern probates Mittel der radikalen Veränderung eben dieser Verhältnisse, wie Marx es in einer berühmten Formulierung nahelegt: »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.«
Gewalt korreliert mit Herrschaft. Gesellschaft wird zu einem Kontinuum rationalisierter Gewaltverhältnisse. Darin manifestiert sich die Dialektik der Aufklärung: Die Vernunft der Gewalt schlägt um in die Gewalt der Vernunft. Daran entzündet sich die Gewaltfrage in ihrer ­eigentlichen Problematik. Sie wird zur grundsätzlichen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Emanzipation. Seit den sechziger Jahren ist das in den politischen Bewegungen übersetzt worden als Frage nach den Mitteln und Zwecken der Revolution. Herbert Marcuse hat als einer der wenigen versucht, eben diese Gewaltfrage zum Thema der kritischen Theorie zu machen; und es kommt nicht von ungefähr, dass er als einziger Benjamins »Zur Kritik der Gewalt« in die Perspektive der Revolution rückt. Doch weder mit Benjamin noch mit Marcuse lässt sich die Gewaltfrage beantworten. Sie kann nur gestellt werden. Für Marcuse bleibt es beim Glauben, »dass es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ›Naturrecht‹ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden … Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte«, heißt es, nicht ohne Pathos, in seinem berühmen wie berüchtigten Essay »Repressive Toleranz« aus dem Jahr 1965.
Demonstrationen haben sich nach den Protestbewegungen der sechziger Jahre in demokratisch verfassten Gesellschaften zum zeitlich und räumlich begrenzten und geduldeten Ausnahmezustand entwickelt. Medienöffentlich sind sie primär nicht in Hinblick auf die hier demonstrierten politischen Inhalte, Anliegen und Forderungen interessant, sondern zunächst nur wegen ihrer Form, nämlich in Hinblick auf Gewaltbereitschaft und Gewaltpotential von De­mons­tranten und Polizei. In wenig sportlicher Weise wird die Demonstration zum Kräftemessen mit der Exekutive – und dazu gehören neben den strategisch-militärischen Maßnahmen (Schutzkleidung, Ketten bilden etc.) ebenso eine Dramaturgie der Selbststärkung wie der Schwächung des Gegners, etwa durch provo­kative Denunziation: »Bullen«, »Chaoten«. Im Laufe der neunziger Jahre hat sich dieser Charakter der Demonstrationen als begrenzter Ausnahmezustand im Deutungsmuster von »Es­kalation versus Deeskalation« zugespitzt.
Demonstrationen sind nicht länger eine das Parlament im politischen Partizipationsprozess ergänzende Praxis innerhalb der demokratischen Ordnung, sondern haben sich zu Manifestationen von – bestenfalls politisch kodierbaren – Machtkämpfen gegen die demokratische Ordnung entwickelt. Damit verlieren aber die Demonstrationen tendenziell ihren eigentlichen und wesentlichen Sinn innerhalb demokratisch verfasster Gesellschaften: Man kann kaum noch etwas demonstrieren. Das zeitigt auch die Gewaltfrage.