In der Punk-Krise

Berlin Beatet Bestes. Folge 104. Trümmerduo: Sesam öffne dich (2011).

Verfluchter Jazz! Seit 30 Jahren sammele ich nun Schallplatten, aber noch nie zuvor hatte ich das Gefühl, dass mir meine Sammlung fremd wird. Die Musik, die mich in den vergangenen Jahren so begeistert hat, langweilt mich plötzlich. Die seltsamen Privatpressungen und die Hardcore-, Garage-, Soul-, Punk-, Pop-, Indie-Platten lassen mich kalt. Seit ich im vorigen Herbst angefangen habe, Swing zu tanzen und Jazz zu hören, ist alles anders. Verglichen mit der vielschichtigen Musik von Lionel Hampton, Sidney Bechet und Louis Armstrong erscheinen meine Punkplatten langweilig und vorhersehbar. Ich stehe vor meinem Regal mit Tausenden Singles und suche nach moderner Swingmusik. In meiner gesamten Sammlung befindet sich keine einzige aktuelle Jazzsingle. Und auch in den Plattenläden, in denen ich gesucht habe, habe ich keine neue gefunden, zu der sich Swing tanzen ließe. Aktueller tanzbarer Jazz auf einer Single, dem besten Format für Popmusik, wird offensichtlich nicht produziert. Moderne Swingmusik auf CD gibt es natürlich zuhauf. Unter keinen Umständen werde ich allerdings jetzt, wo das verhasste Medium fast am Ende ist, anfangen, mir CDs zu kaufen. Überraschend und aufregend ist die gegenwärtige Swingmusik ohnehin selten. Vielleicht ist es auch nur eine diffuse Sehnsucht nach Inspiration, die mich umtreibt: nach einem neuen Sound und neuen Ideen – einer neuen, improvisierten Form von Musik. Ein einfacher, durchgezogener, tanzbarer Beat, eine schöne Melodie, ein witziger Text und ein paar schlichte Breaks würden für den Anfang schon genügen.
Vorige Woche rief mich dann mein Freund Franky Fuzz an. Wir verabredeten uns in seiner Wohnung und erprobten ein paar deutsche Swingnummern aus der unmittelbaren Nachkriegzeit, sogenannten Trümmerswing. Zu unserer Überraschung harmonierte unser Zusammenspiel auf Anhieb. Am nächsten Abend traten wir bereits mit sechs Songs auf. Mit Jazzbesen auf der Snaredrum begleitete ich Frankys schöne Gitarrenmelodien und seinen Gesang. In einfachem Rhythmus. Und weil wir noch nicht ganz aufeinander eingespielt waren, kamen die schlichten Breaks ganz von allein dazu. Swing getanzt wurde übrigens auch. Ganz toll war Bully Buhlans »Sesam öffne dich« von 1950: »Oh Sesam, Sesam, bitte, Sesam öffne dich/heut’ für mich/ich brauche Geld./Oh Sesam, hör’ mein Fleh’n,/ich bitt’ dich inniglich,/denn um mich ist’s schlecht bestellt./Ich nehme nur ’ne kleine Stange Gold für mich,/dafür kauf’ ich mir gleich die halbe Welt./Op-bap-bo-bop/Oh Sesam, bitte, Sesam öffne dich/und lass’ mich heut’ nicht im Stich./Dass ich niemals Geld hab,’ ist doch fürchterlich.«
Die Musik unseres Trümmerduos würde ich sofort auf Single pressen lassen. So etwas herrlich Einfaches fehlt mir noch in meiner Sammlung. »Sesam öffne dich« wäre die A-Seite, und auf der B-Seite würden wir irgendwas improvisieren. Für die erste Pressung brauche ich nur noch eine kleine Stange Geld.