Zehn Jahre nach dem G8-Gipfel in Genua

Eine andere Welt war möglich

Die globalisierungskritische Bewegung war weniger innovativ als behauptet. ­Immerhin propagierte sie erstmals einen internationalistischen Reformismus, den man in den gegenwärtigen Bewegungen vermisst.

In einer Bestandsaufnahme kurz nach den massenhaften Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua im Jahr 2001 schrieben die Herausgeber der Zeitschrift iz3w, einer der wichtigsten Zeitschriften des radikalen Teils der globalisierungskritischen Bewegung, euphorisch: »Fast mochte man glauben, es wehe wie im Mai 1968 der süße Duft der Revolution durch die Straßen.« Zehn Jahre später fällt die Einschätzung der damaligen Ereignisse durch die Redaktion der gleichen Zeitschrift deutlich nüchterner aus. »In Genua«, so konnte man in der Ausgabe von Mai/Juni lesen, habe auch »der langsame Niedergang der Globalisierungskritik« begonnen.
Dass die »Bewegung der Bewegungen« ihren Höhepunkt zwischen dem »Battle of Seattle« von 1999, den Ereignissen von Genua sowie dem Welt­sozialforum in Porto Alegre hatte, die im Jahr 2001 stattfanden, ist heute ebenso wenig umstritten wie die Tatsache, dass diese Bewegung in ihrer ursprünglichen Form nicht wieder von den Toten auferstehen wird.

Bemerkenswert an der von der iz3w hergestellten Analogie zu den Kämpfen um das Jahr 1968 war dagegen die Einordnung in eine historische Tradition der sozialen Bewegungen. Denn vor zehn Jahren überwog im Gegensatz dazu die Einschätzung, man habe es mit etwas ganz Neuem zu tun. Nicht nur der Spiegel wollte in der globalisierungskritischen Bewegung, beziehungsweise in den radikaleren Altermondialisten (»Eine andere Welt ist möglich«), die »erste soziale Bewegung der Postmoderne« erkennen. Auch für die Protagonisten der Bewegung selbst schien der völlig neuartige Charakter ihres Auftretens auf der Hand zu liegen. Das globalisierungskritische Netzwerk Attac sprach damals von der »ersten globalen Bewegung«. Die Autoren von »Empire«, Antonio Negri und Michael Hardt, glaubten, endlich »die neue konstituierende Macht der Multitude« in einer Bewegung entdeckt zu haben, die nach dem Versagen der Arbeiterbewegung die »neue linke Subjektivität der Transformation« darstelle. Für Alex Foti, den Mitbegründer der europäischen Kampagne gegen die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, »Euromayday«, sind die altermondialisti heute noch die »erste postkommunistische antikapitalistische Bewegung«.

All dies verstellte den Blick darauf, dass die Kritik, die damals von der globalisierungskritischen Bewegung auf die Straße getragen wurde, »in kristallisierter Form die Synthese eines langen historischen Prozesses« darstellte, wie die italienischen Theoretiker Sandro Mezzadra und Fabio Raimondi in einem wenig beachteten Aufsatz schrieben. Denn tatsächlich ging es beim Altermondialismus eher darum, dass die Militanten und ihre Nachfolger, die nach der Niederlage der letzten »Weltrevolution« Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre in die neuen sozialen Bewegungen und Partikularkämpfe auseinander gelaufen waren, sich erstmals seit Jahrzehnten wieder für ein gemeinsames Projekt verbündeten – den Kampf gegen die »neoliberale Konterrevolution«, wie Naomi Klein es formulierte. Tatsächlich war damals wie heute die Rede davon, die Linke sei erstmals seit Jahrzehnten wieder in die Offensive gegangen. Die Parole »Die Welt ist keine Ware« schien diese Offensive genauso widerzuspiegeln wie das politische Engagement der kurz zuvor noch als »unpolitisch« qualifizierten jungen Generation.
Tatsächlich war die Bewegung aber eher durch die Offensive des Kapitals zusammengeschweißt worden, die im Jahr 1990 mit dem »Washingtoner Konsens«, dem von Internationalem Währungsfonds und Weltbank propagierten wirtschaftspolitischen Programm von Strukturanpassungsmaßnahmen, ein Symbol bekommen hatte.
Im Zuge der Aufkündigung des nicht mehr haltbaren Bretton-Woods-Systems der kapitalistischen Nachkriegsordnung und des seit den siebziger Jahren in allen Nationalökonomien – auch den staatskapitalistischen des Ostblocks und der Entwicklungsdiktaturen – erfolgten Versuchs, die produktiven Segmente der Volkswirtschaften auszuweiten, wurde es für die globalen Klassen der Nichtbesitzenden immer schwieriger. Die umfassenden und teilweise mit einem großem Maß von Gewalt durchgesetzten Deregulierungsmaßnahmen, die Entrechtung der Lohnabhängigen, die man »Flexibilisierung« nannte, sowie die Privatisierung öffentlicher Güter, um nur einige Folgen dieser neuen Entwicklung zu nennen, ließen die sozialen Bewegungen wiederum zueinander finden.
Es ist folgerichtig, dass mit dem »Kampf gegen den Neoliberalismus« ein sehr schwammiger Begriff zur theoretischen Klammer dieses Sammelsuriums der Globalisierungskritik wurde. Dass damit zumeist vor allem »Forderungen nach einer Rückkehr zu den traditionellen Politikmustern des keynesianischen Staatsinterventionismus« einhergingen, wie Joachim Hirsch zuletzt konstatierte, lag nicht nur auf der Hand, sondern war im Sinne einer Integration der Gewerkschaftsbewegung, die sich erstmals in Seattle aktiv an der Mobilisierung beteiligte, durchaus erwünscht. Eine »radikalisierte Kapitalismus- und Staatskritik« (Hirsch) hätte in jedem Fall anders aussehen müssen. Beleg dafür ist, dass die radikalen Ansätze kritischer Marxisten, wie etwa der Situationisten oder der Gruppe »Socialisme ou Barbarie«, die die Kritik der Entfremdung in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften betrieben und sich so als immun gegen den Reformismus und seine konkreten Versprechungen erwiesen, trotz der offenkundigen Suche vieler Aktivisten nach einer kritischen Theoriebildung kaum aufgenommen wurden.
Die inhaltliche wie thematische »Differenz als Produktivkraft« war daher weniger dem »Scheitern der historischen Linken in all seinen Facetten« geschuldet, wie der gerade verstorbene Josef Moe Hirlmeier in einem Artikel in der iz3w meinte, sondern ein nicht überwundener Ausgangspunkt dieser Nach-Achtundsechziger-Bewegung.
Auf den Treffen der »No Globals« konnte man Workshops zu allen Themen finden, die Linke auch schon in den vorherigen Jahrzehnten bearbeitet hatten und die häufig genug weniger zu einem Gesamtbild zusammengefügt, sondern summarisch nebeneinander stehen gelassen wurden: Feminismus und Atomkraft, Ökologie und Antifaschismus, Lohnpolitik und Aneignung des öffentlichen Raumes, vor allem aber eine aktualisierte Kritik der Dritte-Welt-Solibewegungen und teilweise auch des alten Antiimperialismus. Denn im Kern waren die Weltsozialforen »eine Gründung des Südens«, wie es auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre hieß. Auch konkret konnte man an die Aktivitäten gegen den IWF und die Weltbank, wie etwa in Berlin 1988, anschließen. Zum Helden der Bewegung avancierte so auch mit Subcomandante Marcos ein Vertreter der Kämpfe in einem Schwellenland.
Immerhin erwies sich die Bewegung in den Industrieländern lange als resistent gegen die Vereinnahmungsversuche der alten konterrevolutionären Parteien des Stalinismus und der Sozialdemokratie, die seit dem Ersten Weltkrieg noch jede revolutionäre oder zumindest kritische Bewegung integriert oder vernichtet hatten. Obwohl genauere Analysen ausstehen, war das Ende der kurzen Sommer der Globalisierungskritik vermutlich auch nicht der zunehmenden Repression geschuldet, die in Genua zum Tod von Carlo Giuliani führte.

Die Indienstnahme der Bewegung durch die NGO wurde befördert durch die weitgehende Unfähigkeit, eigene stabile Strukturen zu schaffen – was von manchen als antiautoritäres Element bejubelt wurde. Der damit einhergehende Prozess der Entstehung von informellen Hierarchien und selbsternannten Sprechern, ausgestattet mit tausenden Jobs und den Möglichkeiten der Einflussnahme auf politische Prozesse, spielte auch eine wichtiger Rolle in dieser Entwicklung. Zentral waren aber die immer offenkundiger werdenden analytischen Defizite – etwa in Hinblick auf die keineswegs einheitliche Politik der »imperialistischen Zentren«, wie sie nach dem 11. September deutlich wurde – und die fehlenden strategischen Konzepte.
Es wird derzeit diskutiert, ob die Bewegungen der »Empörten« in Madrid oder Athen als Nachfolgeprojekte der Globalisierungskritiker begriffen werden können. Alex Foti etwa meint, es sei Aufgabe der alten Globalisierungskritiker, »der Sparpolitik eine Niederlage zu bescheren«. Auf den ersten Blick scheint die Kontinuität offensichtlich zu sein. Die kurze Zeit zwischen den Bewegungen begründet mit Sicherheit manche personelle Überschneidung, auch der defensive Charakter, die Emanzipation von den alten linken Parteien und der Basisaktivismus sind Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Bewegungen. Die entscheidende Differenz sollte aber nicht verschwiegen werden. Beim Altermondialismus handelte es sich trotz mancher Hypotheken nationaler Befreiung zweifelsohne um ein internationalistisches Reformprojekt zur Herstellung einer wenn auch etwas vage vorgestellten »anderen Welt«, was sich, zumindest teilweise, aus der »Weltrevolution« von 1968 ableitete. Davon ist man in den Hauptstädten Europas derzeit weit entfernt.