Über das Buch »Unter dem Jolly Roger. Piraten im Goldenen Zeitalter«

Fluch des Kapitalismus

Revolutionär oder kriminell? Die politische Deutung der Piraterie ist umstritten. Gabriel Kuhn kommt in seiner Studie »Unter dem Jolly Roger« zu einem ernüchternden Urteil.

So wie die rote Fahne traditionell das Symbol der Arbeiterbewegung darstellt, gilt die »Jolly Roger« genannte Totenkopfflagge heute als ein Emblem der Autonomen. Kaum ein besetztes Haus, aus dessen Fenster einem nicht der Totenkopf entgegenflattert. Piraten werden als Sozialrebellen betrachtet und in eine Tradition linker Dissidenz gestellt. Neuere wissenschaftliche Studien scheinen die Plausibilität dieser Traditionsbildung zu belegen. Der marxistische Historiker Christopher Hill, einer der Pioniere der Piratenforschung, hat bereits in den achtziger Jahren den »widerständigen und rebellischen Charakter« der Piraten betont und damit dem traditionellen Verständnis der Geschichtswissenschaften widersprochen, die die Piraterie lediglich als eine Form von Kriminalität betrachteten. Für den britischen Kulturwissenschaftler Chris Land steht fest, dass Piraten am Ende des 17. und im beginnenden 18. Jahrhundert »einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung radikalen, antikapitalistischen und anarchistischen Widerstands« geleistet haben.
Einflussreich war insbesondere die Studie von Marcus Rediker mit dem Titel »Villains of all Nations. Atlantic Pirates in the Golden Age« und mehr noch das von ihm gemeinsam mit Peter Linebaugh verfasste Buch »Die vielköpfige Hydra« über die »verborgene Geschichte des revolutionären Atlantik«, das die Geschichte der verarmten Massen, der Seeleute und Sklaven, der Schuldknechte des 16. bis 19. Jahrhunderts schildert. Für die beiden vom Operaismus beeinflussten Historiker repräsentieren die Piraten nicht nur ein Leben in »Freiheit, Gleichheit, Einigkeit und Fülle«, sondern stellen auch eine Art frühe revolutionär-sozialistische und »internationalistische« Bewegung dar. »Sie hatten mit vollem Bewusstsein ihre eigene autonome, demokratische, egalitäre Gesellschaftsordnung aufgebaut, die den auf Handels-, Marine- und Kaperschiffen allgemein üblichen Methoden eine subversive Alternative entgegensetzte, und eine Gegenkultur entwickelt, die sich der Zivilisation des atlantischen Kapitalismus mit ihrer Enteignung und Ausbeutung, Schreckensherrschaft und Sklaverei entgegenstellte«, so das euphorische Fazit der Historiker.
Während in der Vergangenheit also die Regel galt, dass konservative Historiker wie David Cordingly ein negatives Bild der Piraterie zeichneten, wohingegen Linke die emanzipatorischen Elemente der Freibeuterei hervorhoben, hat sich nun mit Gabriel Kuhn ein bekennender Linker daran gemacht, in seinem Buch »Unter dem Jolly Roger« die Geschichte der Piraterie von ihrer sozialrevolutionären Romantisierung zu befreien. In gewisser Weise kann seine im Verlag Assoziation A publizierte Studie, in dem auch das Buch »Die vielköpfige Hydra« erschienen ist, als »Anti-Rediker« gelesen werden. Kuhn beschäftigt sich mit den Piraten des Goldenen Zeitalters, die von 1690 bis 1725 die Gewässer zwischen der Karibik und dem Indischen Ozean befahren haben. Ihre Entmystifizierung erfolgt gleich auf mehreren Ebenen. Zum einen widerspricht Kuhn der These, dass die Gemeinschaften der Piraten multiethnisch organisiert waren, zum anderen kritisiert er Darstellungen, wonach die frühen Bukaniere und späteren Piraten Abolitionisten waren. Nach einem intensiven Studium der Quellen kommt Kuhn zu dem Schluss, dass die überwiegend aus England, Frankreich sowie anderen europäischen Staaten stammenden Seeleute sich intensiv am Sklavenhandel beteiligten. Sklaven und Sklavenarbeit waren ein gängiges Zahlungsmittel der Piraten. Der immer wieder gerühmte Egalitarismus und die Solidarität unter den »Gaunern der Meere« sind Organisationsmodelle, die innerhalb der Crews Gültigkeit hatten, allerdings, so Kuhn, blieben »ihre Prinzipien doch auf die eigenen Kreise beschränkt«. Außerhalb der piratischen Gemeinschaft hätten diese Ideale keine Rolle gespielt. Vielmehr gingen die Freibeuter mit äußerster Brutalität gegen ihre Opfer vor, zu denen oftmals die entrechteten indigenen Bevölkerungsgruppen in der Karibik zählten.
Dieses Verhalten leitete sich vor allem aus dem Charakter der »piratischen Ökonomie« ab, die zwar die Weigerung ausdrückte, »einen unterprivilegierten gesellschaftlichen Status zu akzeptieren«, dies aber auf Kosten anderer tat. Die Piraten nahmen »idealiter von den Reichen und Herrschenden, realiter jedoch meist von allen, die in ihre Hinterhalte segelten«, wie Kuhn feststellt. Der Vergleich mit den Bewegungen der ländlichen »Sozialrebellen«, von denen Eric Hobsbawm sagte, dass sie unfähig seien, »eine Welt der Gleichheit« zu schaffen, weil sie lediglich bewiesen hätten, »dass Unterdrückung manchmal umgedreht werden kann«, drängt sich ebenso auf wie der zur organisierten Kriminalität.
Zu betonen ist in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass weder Bukaniere noch Piraten »Feinde aller Nationen« waren. Im Gegenteil: Zumeist im Bündnis mit einer der imperialen Mächte Spanien, Frankreich oder England segelnd und von diesen mit Kaperbriefen ausgestattet, stellten die Seeräuber auch im Goldenen Zeitalter zumeist ein »nützliches Söldnerheer« dar. Erst die britische Hegemonie über die Weltmeere machte große Teile der mehrere Tausend Mann umfassenden Crews überflüssig und ließ aus Bundesgenossen Outlaws werden. In den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts begann vor allem die britische Marine ihren Feldzug gegen die Piraterie, und der »Schrecken des Welthandels« schien bald der Vergangenheit anzugehören.
Analogien zu gegenwärtigen nationalen »Befreiungsbewegungen«, Söldnergruppen oder dem politischen Islamismus, die allesamt ihre ursprüngliche Stärke aus ihrer Verortung in den innerimperialistischen Konflikten bezogen und später in Ungnade fielen, drängen sich auf. Interessant ist vor allem eine insbesondere vom Operaismus aufgeworfene Frage: Inwieweit können Rebellen ohne explizit politisches Bewusstsein, welches es bei den Piraten nach Kuhn »schlicht nicht gab«, als Teil eines revolutionären Prozesses betrachtet werden? Zuletzt stellte man sich diese Frage, als das postsituationistische »Unsichtbare Komitee« den Gangs der französischen Banlieues ein Widerstands­potential attestierte. Auch die gelegentliche Gleichsetzung von Kleinkriminalität – wie nachvollziehbar sie angesichts der Lebensumstände auch immer sein mag – mit der »Expropriation der Expropriateure« (Marx) hat insbesondere in der autonomen Bewegung eine bizarre Tradition. Kuhn bleibt hier die angesichts seiner Argumente naheliegende Zurückweisung der von Rediker ins Feld geführten unterirdischen »Tradition des maritimen Radikalismus« schuldig. Auch Linke könnten vor allem in Hinsicht auf das Erkämpfen gesellschaftlicher Freiräume »den Jolly Roger immer noch stolz wehen lassen«. Hobsbawm war da konsequenter: »Je erfolgreicher ein Bandit ist, desto mehr wird er zum Helden der Armen und zu einem Partner der Reichen«, warnte er vor jeglichen Illusionen, die derzeitig offensichtlich besonders der Piraterie gelten.

Gabriel Kuhn: Unter dem Jolly Roger. Piraten im Goldenen Zeitalter. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2011, 230 S., 18 Euro