Der Aufstieg der Rothemden in Thailand

Glück für Yingluck

Thailands Rothemden sorgten für den Wahlsieg von Yingluck Shinawatra, der jüngeren Schwester des 2006 gestürzten Premierministers Thaksin. Davon profitiert die Bewegung, sie muss sich langfristig aber auch gegen die eigene Führung ­behaupten.

Der überwältigende Sieg Yingluck Shinawatras und ihrer Partei Phuea Thai (Für Thailand) bei den Parlamentswahlen am 3. Juli ist auch ein Sieg für die Demokratie und insbesondere für die Bewegung der Rothemden. Die Proteste der Rot­hemden waren im Mai vergangenen Jahres in Bangkok brutal niedergeschlagen worden, die Führung wurde kriminalisiert und verhaftet, ihre Medien und Radiostationen wurden bekämpft. Die Abwahl der »Demokraten« ist ein klares Votum gegen den bisherigen Premierminister Abhisit Vejjajiva, dessen Saubermann-Image durch seine Verantwortung für den Tod zahlreicher Demons­tranten Schaden erlitten hat. Mit ihrer Stimme für Phuea Thai (PT), die zweite Nachfolgepartei der verbotenen Partei Thai Rak Thai des ehemaligen Premierministers Thaksin Shinawatra, konnten die Rothemden ein deutliches Zeichen gegen den Putsch und die antidemokratischen Machenschaften des Establishments setzen. Dass viele Thais ausgerechnet die jüngste Schwester des als »Terrorist« gesuchten Thaksin gewählt haben, ist eine Abstrafung des Militärs und des hinter ihm stehenden royalistischen Netzwerkes.
Mit 262 der 500 Parlamentssitze hat die PT nun eine stabile Mehrheit, die Yingluck durch Beteiligung kleinerer Parteien an der Regierung noch ausbauen möchte. Vor allem im ärmeren Norden und Nordosten des Landes konnte sie wieder fast alle Sitze gewinnen. Obwohl die Demokraten in Bangkok die Oberhand behielten, mussten sie auch hier Sitze an die PT abgeben. Viele ihrer Sitze konnten die Demokraten indes nur knapp gewinnen, daher müssen etwa 40 Prozent der Bevölkerung Bangkoks für die PT gestimmt haben. Nimmt man den Vorwurf des Wahlbetrugs ernst – nach Angaben von internationalen Beobachtern sind sieben Millionen zusätzliche Wahlzettel gedruckt und zwei Millionen Stimmen für ungültig erklärt worden –, könnte es, auch in Bangkok, wie bei früheren Wahlen sogar die Mehrheit gewesen sein, die für die PT gestimmt hat. Die Stimmenverteilung zeigt, dass der politischen Polarisierung kein Gegensatz zwischen Stadt und Land zugrunde liegt. Vielmehr gewann die PT in Gegenden, in denen die Rothemden und die in dieser Bewegung zum ersten Mal seit langem aktiv gewordenen ärmeren Schichten organisiert waren.
Die politische Bedeutung dieser Wahl ist enorm. Die Mehrheit der angeblich so königstreuen Thais stimmte für eine Partei, die kollektiv unter dem Vorwurf der Majestätsbeleidigung steht. Die vom Militär und vom royalistischen Netzwerk nach dem Putsch gegründeten Parteien wurden abgestraft. So gewann beispielsweise die Partei des Putschistenführers Sonthi Boonyaratklin gerade einmal zwei Sitze. Den Prognosen zufolge hätte sie zehn Sitze gewinnen sollen, da behauptet wurde, die meisten Thailänder unterstützten den Putsch. Die »Gelbhemden« der königstreuen Volksallianz für Demokratie (PAD) waren gespalten zwischen einer ineffektiven Boykottkampagne und der Wahlbeteiligung ihrer New Politics Party, die nicht einmal einen Sitz gewinnen konnte. Der Rot­hemdführer Jatuporn Prompan hingegen, der wegen »Terrorismus« angeklagt ist und im Gefängnis sitzt, wurde ins Parlament gewählt. Der Schock sitzt tief.
Yingluck weiß, dass sie ihren Wahlsieg den po­litisch aktiv gewordenen Unterklassen Thailands verdankt. Das Wahlprogramm von PT verspricht keynesianistische Maßnahmen wie die Verdoppelung des Mindestlohns auf acht Euro pro Tag oder das Verschenken von Tablet-PC an Schulkinder. Damit knüpfte Yingluck an die Sozialpolitik Thaksins an, die die Kaufkraft im Inland und vor allem die der Masse der ärmeren Thailänder kräftig erhöhte. Dabei ist Phuea Thai nicht besonders progressiv oder gar links. Die zukünftige Premierministerin Yingluck ist die Schwester des Milliardärs und im Exil lebenden ehemaligen Premierministers Thaksin Shinawatra und gehört selbst zu den Superreichen. Die Fortsetzung der »Thaksinomics«, der Erhöhung der Kaufkraft, soll den thailändischen Kapitalismus modernisieren. Führende Politiker der PT sind eher reaktionär, wie der stellvertretende Vorsitzende Plodprasop Suraswadi. Als Chef der Forstverwaltung ließ er Indigene aus den Wäldern vertreiben. Doch seit die Fraktion Thaksins im offenen Konflikt mit dem royalistischen Netzwerk steht, ist sie auf die Rothemden angewiesen. Nur die politisierte und aktive Basis bietet die Garantie für eine von König und Militär unabhängige politische Kraft, die nötig ist, um Wahlen zu gewinnen und die Staatsmacht zurückzuerobern.

Die Rothemden selbst sind eine komplexe und widersprüchliche Bewegung. Sie vereinen Thaksin-Anhänger und Parteifunktionäre mit Demokratieaktivisten, Sozialisten und ehemaligen Basisaktivisten des »Forums der Armen«. Die vielen selbstorganisierten Basisgruppen, die das neue politische Bewusstsein der Bauern und Arbeiter am besten ausdrücken, werden von einer effizienten Parteimaschinerie geleitet. So engagieren sich an der Basis viele Frauen, die Führung der Rothemden aber ist fast komplett männlich. Während sich bei den Rothemden eine republikanische Stimmung ausbreitet, die sich gegen »die da oben« richtet, beten die meisten nach wie vor Thaksin als ihren großen Retter an. Obwohl die Kombination aus sozialen Forderungen, dem Eintreten für demokratische Rechte und der Kritik an der alten royalistischen Oligarchie als sehr fortschrittlich für Thailand angesehen werden kann, wird für die Verwirklichung dieser politischen Forderungen zunächst noch die Unterstützung einer Fraktion der thailändischen Führungsschicht gesucht.
Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Rothemdbewegung und Phuea-Thai-Regierung wird die weitere Entwicklung bestimmen. Die neue Regierung muss ihre Wahlversprechen halten, will sie die Unterstützung der Rothemden nicht verlieren. Einen ungeheuren emotionalen und symbolischen Wert haben dabei die Untersuchung der blutigen Niederschlagung der Rot­hemdbewegung samt einer strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen sowie eine Amnestie für die politischen Gefangenen der Rothemden, inklusive Thaksin. Für viele wird erst dann wieder Gerechtigkeit herrschen, wenn Thaksin nach Thailand zurückkehren kann.
Doch gerade die letzte Forderung stößt auf den unerbittlichen Widerstand der Royalisten. Eine rechtsstaatliche Aufarbeitung des Putsches und der späteren Repressionskampagnen kommt für sie nicht in Frage. Dies würde ihr verdecktes Treiben offenlegen und sie empfindlich schwächen. Nur wenige Tage nachdem Abhisit und Befehlshaber der Armee das Wahlergebnis akzeptiert hatten und dafür allseits gelobt worden waren, warnte die Armee Yingluck davor, sich in ihre Zuständigkeitsbereiche einzumischen. Von allen Seiten wird die zukünftige Premierminis­terin belehrt, bedroht und angegriffen. Die Demokraten stellten offiziell bei der Wahlkommission den Antrag, Phuea Thai aufzulösen, weil Politiker, denen die politische Betätigung untersagt worden war, unter anderem Thaksin, am Wahlkampf beteiligt gewesen seien. Die Wahlkommission untersucht unterdessen, ob Yingluck selbst suspendiert werden kann. Sie hatte bei einer Wahlkampfveranstaltung Nudeln gebraten und verteilt, was als verbotenes Wahlgeschenk gedeutet wird.
Auch in Wirtschaftskreisen wird die neue Premierministerin nicht immer freundlich aufgenommen. Zwar begrüßten große thailändische Unternehmen und ausländische Investoren den Wahlsieg, denn das eindeutige Ergebnis könnte größere Stabilität bedeuten. Die Börsenkurse stiegen, denn Thaksins Politik war immer wirtschaftsfreundlich. Auf der anderen Seite wird aber vor zu großen »Wahlgeschenken«, Lohnerhöhungen und öffentlichen Investitionen gewarnt. Diese könnten zur Inflation führen und das Wachstum gefährden.

Yingluck muss daher einen schwierigen Balanceakt vollbringen. Sie braucht die Rothemdbewegung und muss daher auf ihre Forderungen eingehen. Gleichzeitig muss sie versuchen, ein Friedensabkommen oder zumindest einen Waffenstillstand mit der alten Oligarchie auszuhandeln, damit nicht gegen sie geputscht wird. Seit den Wahlen tritt die Premierministerin entsprechend versöhnlich auf. Statt Gerechtigkeit oder Rache will sie Versöhnung. Sie gab bekannt, als erste Amtshandlungen die Arbeit der Versöhnungskommission fortsetzen zu wollen und den 84. Geburtstag des Königs vorzubereiten. Und sie erweitert ihre Regierungskoalition um erfahrene Politikberater, die einen Kompromiss mit den Royalisten aushandeln könnten. Unter diesen mehren sich die Zeichen für eine Spaltung zwischen Hardlinern um die Königin Sirikit sowie dem Kronrat auf der einen und dem Thaksin freundlicher gegenüberstehenden Thronfolger Kronprinz Maha Vajiralongkorn auf der anderen Seite. Um einen Kompromiss mit dem Königshaus zu erreichen, könnte sich die Fraktion Thaksins ­irgendwann des progressiveren und republikanischen Flügels der Rothemden entledigen, dem Beispiel der bürgerlichen Revolutionen in England und Frankreich folgend, in denen Cromwell die radikalen Levellers und Robespierre die proletarischen Sansculottes erst als militante Basis nutzten und später niederschlugen. Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass bekannte Rothemdführer aus dem Kabinett herausgedrängt werden sollen.
Nichtsdestotrotz haben sich die Kräfteverhältnisse mit der Wahl deutlich zugunsten der Rot­hemden verschoben. Als erstes dürfte die harte Repression gegen ihre Aktivisten aufhören, so dass sie aus dem Untergrund kommen und wieder offen politisch agieren könnten. Überdies sind im sozialen Bereich deutliche Verbesserungen zu erwarten. Am wichtigsten ist, dass eine neue Phase beginnt, in der die Rothemdbewegung als unabhängige Kraft unter »ihrer« Regierung operieren kann und muss. Die künftigen Auseinandersetzungen könnten die Politisierung und Radikalisierung vieler Aktivisten weiter vorantreiben. Dabei emanzipiert sich ein Teil der Basis nicht nur zunehmend von Thaksin, sondern begreift sich auch als Teil einer internationalen Demokratiebewegung. Diese Gruppen organisierten jüngst Solidaritätskundgebungen für die verbotenen Demonstrationen in Malaysia und sehen solche Proteste als Zeichen dafür, dass der arabische Frühling nach Asien kommt.