Über Homophobie in der Türkei

»Wir schweigen nicht mehr«

Die türkische Regierung muss mehr tun, um die LGBT-Community vor Hassverbrechen, institutioneller Gewalt und Diskriminierung in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt zu schützen. Das stellt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in einem kürzlich veröffentlichten Bericht fest und fordert, einen Artikel gegen die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung in die Verfassung aufzunehmen. Insbesondere Transpersonen sind von Gewalt und Vorurteilen betroffen.

Özge Karatas sitzt an einem der Tische des Teehauses im Istanbuler Stadtteil Tarlabası, mit den Männern, die in umliegenden Werkstätten arbeiten. Sie spielen Karten. Wie für die meisten transsexuellen Sexarbeiterinnen in diesem Viertel beginnt der Arbeitstag auch für sie nicht vor 16 Uhr. »Ich habe mir diesen Job nicht ausgesucht. Aber ich habe gar keine andere Möglichkeit. Niemand sonst gibt mir in diesem Land Arbeit, wovon soll ich meine Miete denn bezahlen?« Eine Kollegin kommt herein, sie bestellt einen Tee und zieht vor einem Spiegel ihre Lippen mit einem Lippenstift nach. »Freundinnen, die in den Niederlanden wohnen, erzählen mir, dass dort Transsexuelle ganz normalen Jobs nachgehen. Sie werden Kellnerin oder arbeiten in Büros. Kannst du dir das vorstellen?« Einer der Männer am Tisch lacht. »Bist du EU-Botschafterin geworden oder was?«
Eine Gruppe transsexueller Frauen teilt sich die Miete für das Gebäude nebenan, die Sexarbeiterinnen haben dort ein eigenes Zimmer, jede arbeitet für sich allein. Tarlabası ist einer der wenigen Orte in Istanbul, an dem sich die Frauen sicher fühlen. »Überall in der Stadt werden wir diskriminiert, die Polizei verteilt willkürlich Geldstrafen.« Sie faltet ein Dokument auseinander: »69 Lira für ›Störung der öffentlichen Ordnung!‹ Einfach nur, weil ich eine Straße entlanggelaufen bin.« Özge ist wütend. »Sie versuchen, uns zu vertreiben. Früher haben sie uns verprügelt und willkürlich verhaftet. Das trauen sie sich nicht mehr. Aber 70 Lira hier, 60 Lira da – viele transsexuelle Frauen haben riesige Schulden.«
Jetzt droht ein Stadterneuerungsprojekt mit dem Abriss des Teehauses, des Bordells. »Wo sollen wir hin?«, fragt Özge, »an den äußeren Stadtrand, in eine der Hochhaussiedlungen, die die Regierung bauen lässt? Wo soll ich dort arbeiten?«

LGBT- und Menschenrechtsorganisationen fordern die türkische Regierung auf, der allumfassenden Diskriminierung von Homo-, Bi- und Transsexuellen ein Ende zu setzen – und die »sexuelle Orientierung und Identität« endlich in den Antidiskriminierungsartikel der Verfassung aufzunehmen. Bereits vor seinem Wahlsieg im Jahr 2007 hatte Premierminister Recep Tayyip Erdogan versprochen, die 1982 von den Putschgenerälen entworfene und in ihren wesentlichen Punkten immer noch gültige Militärverfassung durch eine demokratische, zivile Verfassung zu ersetzen. Doch viele bezweifeln, dass Erdogans auch im diesjährigen Wahlkampf erneuertes Versprechen einer »Verfassung für alle« die Rechte von Homo-, Bi- und Transsexuelle berücksichtigen wird. »Homosexuelle haben (während der Verhandlungen zu Verfassungsänderungen, Anm.d.A.) Forderungen nach Gleichheit und der Möglichkeit zu heiraten gestellt. Werden wir diesen Forderungen stattgeben, nur weil sie das wollen? Die Öffentlichkeit ist dazu nicht bereit«, beschrieb Burhan Kuzu, der Vorsitzende der Verfassungskommission, die Linie der AKP im Jahr 2008.
Die Türkei ist eines der wenigen islamischen Länder, wo Homosexualität nicht verboten ist und auch nie, wie zum Beispiel in Großbritannien oder Deutschland, verboten war. Trotzdem sind Homo-, Bi- und Transsexuelle im täglichen Leben immer noch mit massiver Diskriminierung, Vorurteilen und Gewalt konfrontiert. Als einziges Nato-Mitglied definiert das türkische Militär etwa Homosexualität immer noch als »Perversion« und »fortgeschrittene psychosexuelle Störung«.
In einem kürzlich veröffentlichten Bericht zu Lage und Rechten von LGBTs in der Türkei kritisiert Amnesty International, dass Diskriminierung aufgrund sexueller Identität noch immer die Norm ist und dass der türkische Staat diese Diskriminierung in vielen Fällen nicht nur nicht bestraft, sondern oft auch fördert. Der Bericht stellt gravierende legislative Mängel fest. Dazu gehören die Anwesenheit von homo- und transphoben Beamten in den Gerichten und bei der Polizei, eine fehlende Sensibilisierung und vor allem eine generelle Homo-und Transphobie in der türkischen Gesellschaft, am Arbeitsplatz und in den Medien.
»Eine vollständige Antidiskriminierungs-Gesetzgebung, die auch die sexuelle Orientierung einschließt, ist dringend notwendig, um die Rechte von LGBTs zu garantieren. Eine neue Verfassung muss die Klausel, die Diskriminierung aufgrund von sexueller Identität und Orientierung verbietet, unbedingt beinhalten«, sagt Andrew Gardner, der bei Amnesty International für die Türkei zuständig ist. »Es ist offensichtlich, dass die derzeitige Politik der Regierung nicht in der Lage ist, Hassmorde zu verhindern. Amnesty International fordert die türkische Regierung auf, diesen Morden ein Ende zu setzen.«

Doch bis jetzt hat die regierende AKP, die am 12. Juni mit fast 50 Prozent der Wählerstimmen zum dritten Mal wiedergewählt wurde, die Rechte von LGBTs in der Türkei ignoriert. Im vergangenen Jahr ließ sich Aliye Kavaf, die damals amtierende Ministerin für Frauen- und Familienpolitik, zu der Bemerkung hinreißen, Homosexualität sei eine Krankheit, die behandelt werden müsse, und illustrierte damit auch die generelle Haltung der türkischen Regierung, die von Amnesty International als »feindselig gegenüber LGBTs« beschrieben wird. Ein Sprecher von Premierminister Erdogan ließ 2003 verlauten, Homosexuelle könnten nicht Mitglied der AKP werden und sollten auch keine eigene Partei gründen. Als die AKP-Regierung im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen im Jahr 2004 massive juristische Reformen durchführte, wurde der Diskriminierungssatz zu Artikel 10, der die Gleichheit vor dem Gesetz regelt, in die Verfassung aufgenommen – doch die entscheidende Klausel, die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und Identität regelt, fehlte. Als im Mai 2010 Änderungen an Artikel 10 vorgenommen wurden, verpasste die Regierung erneut ihre Chance, den Forderungen von LGBTs nachzukommen.
Aus dem Entwurf für ein erstes Antidiskriminierungsgesetz im türkischen Strafgesetzbuch entfernte der damalige Justizminister Cemil Çiçek im Juni 2005 den bereits von der Justizkommission abgesegneten Zusatz »sexuelle Orientierung« mit der Begründung, die Klausel gegen Diskriminierung decke mit dem Wort »Geschlecht« (cinsiyet) auch die »sexuelle Orientierung« (cinsel yönelim) ab, weshalb eine neue, ausdrückliche Erwähnung überflüssig sei. Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten kritisierten, dass die türkische Regierung die Diskriminierung von LGBTs damit de facto legalisiere. Geändert hat sich seitdem nichts. Aus einem überarbeiteten Gesetzesentwurf von 2011 wurde der entscheidende Zusatz der sexuellen Orientierung und Identität erneut entfernt.
»Das einzige, was ich von dieser Regierung erwarte ist, dass sie den Hassmorden ein Ende setzt«, sagt Özge. »Und der erste Schritt in diese Richtung ist die entsprechende Gesetzgebung.« Als sichtbarste Gruppe sind Transpersonen häufig Zielscheibe von Schikanen und Gewalt. Alle Frauen im Kaffeehaus kennen mindestens eine Kollegin, die ermordet wurde. Özge zündet sich eine Zigarette an: »Ich wurde entführt, vergewaltigt, geschlagen und gefoltert, sowohl von Kunden als auch von der Polizei. Nicht ein einziges Mal sind die Täter bestraft worden.«
Allein im vergangenen Jahr wurden 16 homo- und transsexuelle Menschen Opfer von mutmaßlichen Hassmorden.

Ibrahim Can, dessen Verlobter Ahmet Yildiz vor drei Jahren auf offener Straße erschossen wurde (Jungle World, 36/09), klagt den türkischen Staat an, der die Mörder seines Lebensgefährten noch nicht bestraft hat. »Alle Indizien verweisen auf Ahmets Familie«, sagt er, »nachdem er sich vor seiner Familie geoutet hatte, erhielt er Morddrohungen von ihnen, sie sagten, er müsse sich heilen lassen.« Ibrahim schildert, wie sein Freund und er sich an die Staatsanwaltschaft wandten, um Schutz baten und ihnen dieser Schutz verweigert wurde. »Ich habe den Mord vom Fenster aus beobachtet. Ich habe mich so hilflos gefühlt. Ahmet liebte seine Familie, aber sie haben diese Liebe gegen ihn gewendet.« Wie oft bei sogenannten Ehrenmorden weigerte sich Ahmet Yildiz’ Familie, ihren Sohn zu beerdigen. »Gute Freunde von uns haben sich darum gekümmert«, erzählt Ibrahim, der deutscher Staatsbürger ist. »Ich habe das Land auf Rat der deutschen Botschaft erst einmal verlassen.« Obwohl der »erste schwule Ehrenmord der Türkei« große mediale Aufmerksamkeit erhielt, verläuft die Suche nach den Tätern erstaunlich zäh. Zwar weist vieles darauf hin, dass sich Ahmet Yildiz’ Vater, einer der Hauptverdächtigen der Anklage, im Irak aufhält, dennoch weigert sich die türkische Polizei weiterhin, einem von der Justiz ausgestellten internationalen Haftbefehl nachzukommen.
»Dieses Verhalten will uns sagen: ›Homosexuelle und Transsexuelle sind nichts wert‹«, sagt Ibrahim. Aber etwas hat sich doch geändert. »Es wird mehr Druck gemacht. Die LGBT-Community hat ein viel stärkeres Selbstwertgefühl als früher. Wir schweigen nicht mehr.« Am 26. Juni ging die Istanbuler Pride-Woche mit der Pride-Parade zu Ende, mehr als 5 000 Menschen beteiligten sich am Umzug entlang der zentralen Istiklal-Straße. »Die LGBT-Community in der Türkei hat angefangen, für ihre Rechte zu kämpfen«, sagt Ibrahim. 400 Regenbogenflaggen hat er aus eigener Tasche bezahlt und an Teilnehmer verteilt. »Wir sind hier, wir werden nicht gehen, gewöhnt euch dran!« und: »›Sexuelle Orientierung‹ muss in die Verfassung!« war auf den Plakaten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu lesen, auf Türkisch, Kurdisch und Armenisch. Auch die von der lokalen LGBT-Vereinigung Lambda Istanbul gegründete »Familiengruppe«, der Eltern von LGBTs angehören, war zahlreich vertreten – viele haben keine Lust mehr, sich zu schämen.
Özge bedauert, nicht an der Parade teilgenommen zu haben, sie musste arbeiten. Ihre Freundin Berna war jedoch dabei, eine Hand an der riesigen Regenbogenflagge, die vom Taksimplatz nach Tünel getragen wurde. »Tausende Homo-, Bi- und Transsexuelle haben in so einer großen Gruppe zusammen demonstriert«, sagt sie begeistert. »Sah das nicht wunderschön aus?«