Ermittlungsfehler im Fall einer ermordeten Journalistin in Russland

Auf der falschen Spur

Zwei Jahre nach dem ungeklärten Mord an Natalja Estemirowa werfen russische Menschenrechtler den Behörden Ermittlungsfehler vor.

Natalja Estemirowa wurde vor ihrem Wohnhaus in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny gewaltsam in ein Auto gezerrt. Wenige Stunden später fand man ihre Leiche jenseits der Grenze zum benachbarten Inguschetien. Am 15. Juli jährte sich zum zweiten Mal der Todestag der im Ausland mit Preisen ausgezeichneten Menschenrechtlerin und Journalistin, doch der Mord ist noch immer nicht aufgeklärt.
Die Schuldigen hätten längst gefunden werden können, darin sind sich ihre Kollegen vom Menschenrechtszentrum Memorial und der Zeitung Nowaja Gazeta einig. In ihrem vergangene Woche veröffentlichten, gemeinsam mit der Internationalen Liga für Menschenrechte erstellten Zwischenbericht weisen sie auf erhebliche Verfahrensmängel hin und kommen zu dem Schluss, dass sich die Sonderermittlungskommission auf einer falschen Fährte befindet.

Als Hauptverdächtiger gilt diese der im November 2009 während einer Militäroperation getötete ehemalige tschetschenische Kämpfer Alchazur Baschajew. In einem seiner Verstecke sei die Tatwaffe gefunden worden. In einem weißen Lada, der nach Angaben der Ermittler für die Entführung benutzt wurde, habe man weitere Gegenstände entdeckt, die auf eine Täterschaft Baschajews hindeuten. Estemirowas Kollegen, die die Ermittlungsakten einsehen konnten, betonen jedoch, dass in dem Wagen keine Spuren gefunden worden seien, die nahelegen, dass die Journalistin sich dort befunden hat. Unter ihren Fingernägeln gefundene Partikel, die darauf hinweisen, dass sie bei ihrer Entführung Widerstand geleistet hat, wurden im Laufe unvollständiger Laboruntersuchungen vernichtet, so dass eines der wichtigsten Beweismittel nicht mehr zur Verfügung steht.
Warum sollte ein Jihadist den Mord begangen haben? Die Ermittler nennen als Motiv, dass Estemirowa im Mai 2009 Alchazur Baschajew beschuldigt habe, Kämpfer angeworben zu haben. Das erscheint absurd, da die Sicherheitsdienste damals längst über Baschajews Funktion informiert waren. Dessen Bruder Anzor, der ebenfalls an dem Mord beteiligt gewesen sein soll, galt anfangs als unauffindbar. Doch Anzor war 2009 noch vor der Tat nach Frankreich geflüchtet und ließ auf Initiative der russischen Menschenrechtler seine DNS untersuchen, die Aufschluss über eventuelle Spuren seines Bruders auf der Bluse Estemirowas geben könnte. Weder von der Bluse noch an DNS-Proben des exhumierten Körpers von Alchazur Baschajew lassen sich Ähnlichkeiten mit den gewonnenen DNS-Sequenzen feststellen. Nur interessiert dies die Ermittler bislang wenig. Natalja Estemirowa war in Tschetschenien eine bekannte Persönlichkeit. Sie beschäftigte sich mit vielen Fällen zu Tode gefolterter, öffentlich hingerichteter und »verschwundener« Landsleute. Ohne ihre Recherchen wären viele Informationen über das Vorgehen der Repressionskräfte nie an die Öffentlichkeit gelangt.

Sie kritisierte sogar Ramzan Kadyrow, den mehr gefürchteten als verehrten Präsidenten Tschetscheniens und Statthalter der russischen Regierung. Wenige Tage vor ihrer Ermordung deckte Estemirowa eine öffentliche Hinrichtung in einem Dorf auf, was bei der tschetschenischen Führung erboste Reaktionen hervorrief. Der begründete Verdacht, die für die Hinrichtung Verantwortlichen aus dem Polizeiapparat hätten Estemirowa ermordet, wurde mit den Anschuldigungen gegen Baschajew im Januar 2010 aus der Welt geschafft.
Dass Kadyrow die politische Verantwortung für den Mord an seiner Kritikerin trägt, stand für Oleg Orlow, den Leiter des Menschenrechtszentrums von Memorial, bereits unmittelbar nach der Tat fest. Als er seinen Verdacht öffentlich machte, brachte ihm das einen Prozess wegen Verleumdung ein, der Mitte Juni überraschend mit einem Freispruch endete. Nur wenige Tage vor der Anklageerhebung nannte Kadyrow in einem Interview die Mitarbeiter von Memorial »Volksfeinde, Gesetzesfeinde und Staatsfeinde«. In einer Republik, in der allein das Wort des Präsidenten Gesetz ist, kommt eine solche Äußerung fast schon einem Todesurteil gleich.