Golf-Monarchien im Umbruch

Der unsichtbare Aufstand

Noch erscheint die Herrschaft des saudischen Königshauses stabil. Doch die Jugend interessiert sich mehr für HipHop als für die islamistische Staatsdoktrin, und die Protestbewegung fordert nun offen Demokratisierung.

Zu einem König gehört eine Königin. Abdullah von Saudi-Arabien kann nach Angaben der meisten Experten vier Königinnen vorweisen, andere Schätzungen sprechen ihm sogar 30 Gemahlinnen zu. Genau weiß das außerhalb des Königshauses kaum jemand, denn saudische Monarchen legen Wert auf Diskretion. Die Frage, ob bei einem Staatsbankett im Ausland vier oder 30 Plätze für die First Ladies freigehalten werden müssen, stellt sich ohnehin nicht, weil die Damen zu Hause bleiben müssen.
Anonym bleiben auch Dina, LaMars und Dareen aus der Hafenstadt Jeddah, die andere Vorstellungen von höfischen Umgangsformen haben. »The Accolade« (der Ritterschlag), die von ihnen gegründete erste Frauenband Saudi-Arabiens, hat mehrere Songs im Internet veröffentlicht, doch die Musikerinnen müssen unsichtbar bleiben. Die Band wurde nach einem Gemälde Edmund Blair Leightons benannt, das einen knienden Krieger zeigt, der von einer gekrönten Dame den Ritterschlag erhält. »Ich mochte das Gemälde, weil es eine Frau zeigt, die mit einem Mann zufrieden ist«, sagte Dina der New York Times. In Saudi-Arabien haben die meisten Frauen dazu wenig Anlass. Wenn sie Glück haben, ermöglicht ihnen ihr Mahram, der männliche Vormund, der sie in der Öffentlichkeit begleiten muss, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.
Es ist daher allzu schmeichelhaft, wenn das saudische System als mittelalterlich bezeichnet wird. Viemehr kann der Rückgriff auf Mittelalterliches – wie im Iran, wo Dissidenten sich der mehr als 600 Jahre alten Poesie von Hafez bedienen – eine subversive Herausforderung für ein Regime sein, das seinen Untertanen strengere Vorschriften macht als die Kalifen der Vergangenheit und diese Regeln mit den Mitteln eines modernen Überwachungs- und Polizeistaats durchsetzen kann.
Der Wahhabismus, die saudische Staatsdoktin, war ursprünglich die Ideologie einer vorkolonialen fundamentalistischen Bewegung, die gegen alle angeblichen Abweichungen vom Islam kämpfte. Der Prediger Mohammed Ibn Abd al-Wahhab verbündete sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Mohammed Ibn Saud, der die Stadt Diriyya beherrschte. Nach zahlreichen Kämpfen konnten die Sauds den größten Teil der Arabischen Halbinsel erobern, 1932 wurde das Königreich Saudi-Arabien ausgerufen.
Die religiöse Legitimation ist essentiell für den König, dessen wichtigster Titel »Hüter der beiden heiligen Stätten« (nämlich der Pilgerorte Mekka und Medina) ist. Die Staatsdoktrin bewahrt die wahhabitische Intoleranz, die sich ebenso gegen die diskriminierte schiitische Minderheit wie gegen die Nachlässigkeit sunnitischer Saudis bei der Erfüllung religiöser Pflichten richtet. Als unentbehrliche Verbündete der Monarchie genießen die Geistlichen Privilegien, sie bilden die einzige relativ unabhängige institutionalisierte Gruppe in Saudi-Arabien. Doch die politische und ökonomische Macht monopolisiert das Königshaus.
Dessen innere Struktur ist ein gut gehütetes Geheimnis. Etwa 100 der schätzungswesie 7 000 Prinzen gelten als Angehörige eines »inneren Kreises« der Mächtigen. Dank Wikileaks weiß man zwar, dass bei Partys der Prinzen oft ein selbstgebrannter, Sadiqi (mein Freund) genannter Schnaps gereicht wird, doch wie politische Entscheidungen getroffen werden, ist nicht bekannt. Ebenso geheimnisvoll ist die Ökonomie. Mit einem Staatsanteil von schätzungsweise 70 Prozent dürfte Saudi-Arabien nach Nordkorea und Kuba am weitesten von den Idealen des Wirtschaftsliberalismus entfernt sein, doch da die Monarchie den Ölreichtum im Einklang mit westlichen Interessen verwaltet, gilt dies als eine zu respektierende kulturelle Eigenart.
Eine Trennung zwischen dem Staatsbudget und dem Vermögen der Sauds gibt es nicht. Über den Staatskonzern Aramco kontrolliert das Königshaus die Öleinnahmen, im Rahmen einer Untersuchung des Internationalen Währungsfonds stellte sich heraus, dass etwa 20 Prozent des Profits dem Haushalt vorenthalten werden. Dieses Geld dient dem Unterhalt der Prinzen, aber auch der Finanzierung außenpolitischer Projekte (siehe Seite 5). Rechenschaft muss der König nicht ablegen, es gibt kein Parlament, und die Sharia gilt als Ersatz für eine Verfassung.
Die saudische Monarchie präsentiert sich mit folkloristischen Darbietungen wie dem Säbeltanz der Prinzen bewusst traditionalistisch. Doch das Regime ähnelt eher modernen Diktaturen wie dem poststalinistischen Regime Nordkoreas, das ebenfalls dem Prinzip der Erbfolge huldigt. Bereits der ursprüngliche Wahhabismus war anti­tradi­tio­nalistisch, er wendete sich auch gegen den »Volksglauben« der Beduinen. Die heute gültige Staatsdoktrin dient, ähnlich der nordkoreanischen Juche-Ideologie, der Kontrolle der Bevölkerung, sie soll Uniformität erzwingen. Die Religionspolizei jeden Verstoß gegen Kleidungsvorschriften und andere Regeln ahnden zu lassen, ist keine Schrulle eines wunderlichen Monarchen, sondern eine notwendige Maßnahme zur Einschüchterung der Bevölkerung.

Auch die Entrechtung der Frauen ist das Produkt einer modernen Diktatur. »Unsere Omas durften auch Kamele reiten«, sagte Wajeha al-Huwaider (Jungle World 39/07), die im Jahr 2007 zu den Initiatorinnen einer Protestkampagne gegen das Fahrverbot für Frauen gehörte. Das ist keine romantisierende Nostalgie, denn nomadische Stammesgesellschaften sind zwar patriarchal, aber wegen der langen Abwesenheit der das Vieh hütenden oder Handel treibenden Männer gezwungen, den Frauen eine gewisse Selbständigkeit zuzugestehen. In der nun überwiegend urbanen saudischen Gesellschaft hingegen gilt es als ihre Aufgabe, die Männer zu versorgen und die Kinder im Geiste der wahhabitischen Staatsdoktrin zu erziehen. Als Dienstkleidung ist die Abaya vorgeschrieben, ein schwarzer Umhang mit Gesichtsschleier, der die regional unterschiedlichen Trachten ablöste. Die Religionspolizei achtet darauf, dass die Uniformität nicht durch Stickereien oder andere Verzierungen durchbrochen wird.

Viele Frauen vor allem aus den ärmeren Bevölkerungsschichten sind werktätig, mit kaum mehr als zehn Prozent ist die Frauenerwerbsquote jedoch weiterhin sehr niedrig. Es gibt auch Unternehmerinnen, der United Nation Development Report schätzte im Jahr 2005 ihre Zahl auf 20 000 bis 40 000. Einige wurden sogar in repräsentative Gremien der Geschäftswelt gewählt, selbst zur Arbeit fahren dürfen auch sie nicht.
Insbesondere die Situation der Frauen zeigt, dass die Monarchie zum Hindernis nicht nur für die gesellschaftliche Modernisierung, sondern auch für die Entfaltung der Produktivkräfte geworden ist. Das klientelistische Regime behindert den sozialen Aufstieg, vor allem für Angehörige der schiitischen Minderheit, letztlich aber für jeden, der keine guten Verbindungen zum Königshaus hat. Es geht für viele Saudis dabei nicht um die Frage, ob man sich eine weitere Yacht leisten kann. Der »reiche Ölscheich« ist ein Klischee. Es gibt auch Slums in Saudi-Arabien, die Arbeitslosigkeit wird auf mehr als 20 Prozent geschätzt, und Hatoon al-Fasi von der King Saud University errechnete im Jahr 2008, dass 30 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben.
Wie in anderen arabischen Staaten ist es derzeit jedoch vor allem die politische Unterdrückung, die Unmut erregt, und die einst auch in Saudi-Arabien einflussreiche islamistische Bewegung scheint keine bedeutende Rolle mehr zu spielen. Immer weniger sind die Saudis bereit, den erzwungenen Stumpfsinn zu ertragen. In der vergleichsweise liberal regierten Hafenstadt Jeddah gibt es neben »The Accolade« zahleiche Hip-Hopper und Graffiti-Künstler. Wer das Pech hat, anderswo zu leben, behilft sich mit dem Internet und den ins Land geschmuggelten Kulturgütern. Dazu gehören auch Romane, häufig von saudischen Frauen verfasst, aber wegen der Zensur im Ausland gedruckt. Verbotene Liebe und häusliche Gewalt sind die populärsten Themen.
Die kulturelle Dissidenz ist nicht das einzige Anzeichen für den wachsenden Unmut. Bei einer von Mansoor Moaddel geleiteten Untersuchung über die Wertvorstellungen im Nahen Osten stellte sich im Jahr 2003 heraus, dass mehr als zwei Drittel der Saudis die Demokratie für die beste Regierungsform halten und nur 28 Prozent wöchentlich einen Gottesdienst besuchen – ein weit geringerer Prozentsatz als in den USA oder Ägypten. Bereits damals verfassten saudische Intellektuelle Petitionen an den König, die Reformforderungen wurden jedoch vorsichtig formuliert.

Das hat sich seit den Revolutionen in Tunesien und Ägypten geändert. So fordert die Facebook-Gruppe »The people want to reform the government« unter anderem freie Wahlen, die Ausarbeitung einer Verfassung, die Menschen- und Bürgerrechte garantiert, sowie explizit auch die Gleichberechtigung der Frauen. Einige Gruppen der Demokratiebewegung riefen auch zu Protesten auf. Abgesehen von kleineren Demonstrationen in schiitischen Gebieten blieb es jedoch ruhig. Die Saudis müssen mit ähnlich harter Repression rechnen wie Syrer und Libyer, nicht umsonst hat der König in Deutschland nicht irgendwelche Leopard-Panzer, sondern das für die Aufstandsbekämpfung ausgerüstete Modell 2A7+ bestellt.
Bei der von Saudi-Arabien geführten Militärintervention des Golfkooperationsrats (GCC) zur Niederschlagung der Revolte im Bahrain begnügte man sich mit der Entsendung von gepanzerten Mannschaftswagen, für die Bekämpfung unbewaffneter Demonstranten genügt auch ein schweres Maschinengewehr. In einigen der kleineren Golfmonarchien mussten die Herrscher bereits Zugeständnisse machen, die Aufständischen in Bahrain etwa konnten an die Erfolge der Proteste in den neunziger Jahren anknüpfen, bei denen einige Reformen erkämpft wurden. Abdulrahman bin Hamad al-Attiyah, der Generalsekretär des GCC, begründete die Intervention in Bahrain mit dem »gemeinsamen Schicksals, das die Mitgliedsstaaten verbindet«.
Eine Demokratisierung in den kleineren Golfmonarchien würde die Macht des saudischen Königshauses bedrohen. Sollte andererseits die saudische Monarchie stürzen, würden die anderen Golfmonarchen sich nicht mehr lange auf dem Thron halten können. Auch den säkularen Demokratiebewegungen in anderen arabischen Ländern würde es helfen, wenn die saudische Unterstützung für ihre islamistischen Gegner entfiele.
An Überraschungen hat es in der arabischen Welt in den vergangenen Monaten nicht gemangelt. Noch aber beschränken sich die Proteste in Saudi-Arabien auf kleinere Aktionen. Im Juni begann die Kampagne »Women2Drive«, Frauen widersetzen sich dem Fahrverbot. Das klingt harmlos, ist aber ebenso revolutionär wie das Handeln von Rosa Parks, als sie sich am 1. Dezember 1955 in Montgomery, Alabama, in den für Weiße reservierten Teil eines Busses setzte. Derzeit bilden Frauen am Steuer und an der Gitarre die Avantgarde der Protestbewegung. Die Männer müssen sich ihren Ritterschlag erst noch verdienen.