Ein Besuch bei Helmut Kohl

Ein Lebensabend am Wurstspeicher

Zahlreiche Veröffentlichungen haben in den vergangenen Wochen und Monaten das Privatleben Helmut Kohls auf unangemessene und verzerrte Weise dargestellt. Um sich Gehör zu verschaffen, hat der Elder Statesman die Jungle World in seinem Haus empfangen.

Die Geschichte habe ihm Recht gegeben, sagt der noch immer stattliche Mann, während er behutsam sein Besteck auf den Fußboden gleiten lässt. Es rutscht ihm sanft aus den Händen. Denn mit seinen Fingerspitzen erreicht er seit einiger Zeit die Tischkante nicht mehr. Seither legt er sein Besteck nach dem Gebrauch auf den Boden, von wo es von einem der zahlreichen Lakaien geräuschlos weggeräumt wird. Seine Arme sind das Problem. »Sie sind in den letzten Monaten kürzer geworden, und ich kann nichts dagegen tun«, sagt Helmut Kohl verbittert. Auch die vielen Magenvergrößerungen der vergangenen Jahre machen ihm immer noch zu schaffen.
Den tragischen Tod seiner Ehefrau Hannelore, die er, als ihre Lichtallergie schlimmer wurde und nicht mehr auf medizinische Weise behandelbar war, zu ihrem eigenen Wohlergehen während der letzten Wochen ihres Lebens in den Kohlenkeller sperrte, hat der Koloss aus der Pfalz bis heute nicht verwunden. »Sie wollte es nicht verstehen, dabei war es doch nur zu ihrem Besten.« Noch heute, sagt er schnaufend, während er sich nachdenklich ein lachsfarbenes Zuckertörtchen in die Öffnung schiebt, die wohl sein Mund sein muss, liege ihm der Tod seiner geliebten Hannelore schwer im Magen. »Sie war mir zeitlebens eine gute Gefährtin. Im Esszimmer haben wir die beste Zeit unseres Lebens verbracht. Bis der ganze Scheißdreck passierte«, schluchzt er.
»Die Kochbücher. Sie konnte irgendwann die Kochbücher nicht mehr lesen. Was sollte ich denn machen? Ich hatte ja keine Wahl. Ich musste so handeln.« Entmutigt lässt Kohl sein Kinn auf den Latz sinken, der ihm seit einigen Jahren gute Dienste leistet und der das Konterfei von Konrad Adenauer zeigt.
Im Grunde will er nicht über die ganze »scheißverfickte Angelegenheit«, wie er sie nennt, sprechen. Davon zu erzählen, schwemmt zu viele Erinnerungen an die Oberfläche. Aus Gram hat er vor einigen Jahren in seinem Bungalow sämtliche Wände einreißen lassen und alles zu ­einem gewaltigen »Arbeits- und Esszimmer« umgestaltet.
Über die 16 Jahre seiner Herrschaft zu sprechen, »die schönste Zeit meines Lebens«, wie er sie liebevoll nennt, fällt ihm erheblich leichter. »Die Wiedervereinigung«, lacht er, und seine bis dahin stumpfen Eichhörnchenaugen beginnen plötzlich zu glänzen bzw. zu strahlen bzw. zu leuchten. Ja, das sei noch eine mopsfidele Zeit gewesen. Die Wirtschaft habe ordentlich gebrummt. »Und die törichten Zonendeppen«, schwärmt Kohl, »haben mir seinerzeit nur so aus der Hand gefressen. Da hat es gereicht, wenn ich ›Deutschland‹ gesagt habe, da lief denen schon das ­Wasser im Mund zusammen. Ich war ziemlich ausgekocht und habe die ordentlich in die Pfanne gehauen«.
Bei den letzten Sätzen verzieht sich seine Miene zu einem schmerzlichen Gesichtsausdruck. Es ist offenbar so weit: Er scheint Hunger zu bekommen. Und tatsächlich: Durch das Fenster von Kohls Arbeitszimmer kann man beobachten, wie geschäftig es um diese Zeit im Nachbargebäude zugeht, in und unter dem sich die Küche, die Speisekammer, die Räume des Personals, der Weinkeller, die Metzgerei, die Kühlräume, das Mehlspeisensilo, der Wurstspeicher und das Zwischenlager für Zwischenmahlzeiten befinden.
Kohls exzellentes Pfälzisch ist leider nicht immer zu verstehen, wohl auch deshalb nicht, weil der Kanzler a. D. praktisch keinen Hals mehr hat. »Das hat mit meinen kürzer gewordenen Armen zu tun«, erklärt der Altkanzler, sichtlich stolz auf den medizinischen Sachverstand, den er sich zugutehält.
»Die Leute, auch mein Personal«, hätten »noch gehorcht« in jener Zeit der Einheit, nimmt Kohl den Gesprächsfaden wieder auf. Und die gebratenen Wachteln und der gute Pfälzerwein seien für gewöhnlich bereits auf dem Frühstückstisch gestanden, noch bevor er die morgendlichen Züchtigungen im Familienkreis hätte vornehmen können.
Beim Wort »Frühstückstisch« macht Kohl eine knappe Geste mit seinem kleinen Finger – dem einzigen, den er noch bewegen kann – in Richtung eines Tisches im Nebenraum, der aussieht wie eine Art tischtennisplattengroßer Teller aus leicht abwaschbarem Spezialkunststoff. Es ist Zeit für das zweite Frühstück. Vor dem Mittagessen, so heißt es, legt der berühmte Staatsmann sich dann gerne noch mal hin.