Über die Freaks von Venice Beach, Los Angeles

Freaks on the beach

Venice Beach, Los Angeles, ist das Zuhause von Hippies, Freaks und Lifestylesportarten aller Art. Zwei Straßenmusiker und ein visionärer Showman besinnen sich hier auf die Kultur aus den Zeiten der Great Depression und beschwören an diesem symbolträchtigen Ort einen amerikanischen Mythos.

»This land is your land, this land is my land, from California to the New York Island.« Danny spielt sein Banjo, während er den Folk-Klassiker von Woodie Guthrie aus dem Jahr 1940 singt, den Bruce Springsteen einst als »das schönste Lied« bezeichnete, »das je über Amerika geschrieben wurde«. Danny und seine Freundin Katey verdienen das wenige, was sie zum Leben benötigen, mit Straßenmusik am Ocean Front Walk von Venice Beach, auf der Westside von Los Angeles.

Nachts schlafen die beiden sonnengebräunten Hippies unter den Palmen, die sich an der viereinhalb Kilometer langen Promenade entlang ziehen, mit anderen beach bums, wie man die Obdachlosen hier nennt. Wenn sie mal ihre Eltern in Cleveland, Ohio, besuchen wollen, springen sie auf einen Güterzug auf, wie einst Woodie Guthrie und Hunderttausende von arbeitsuchenden Amerikanern während der Great Depression. Heute ist das »Trainhopping« so gefährlich und verboten wie damals und kann doch zugleich so berauschend sein wie der ganz offenkundig in einem solchen Rausch entstandene Song, den Danny gerade intoniert.
Venice Beach ist ein amerikanischer Mythos ganz eigener Art und bildet in der endlosen urbanen Ödnis von Los Angeles so etwas wie einen seltenen öffentlichen Raum. Die Los Angelisten unterschiedlichster sozialer Schichten und Herkunft treffen sich hier auf einem Gebiet, das im Vergleich mit der Weite Kaliforniens geradezu eng erscheint. Das ganze Jahr über schlendern sie hier in Flip-Flops und Hawaii-Hemden oder knappen Tops über die Promenade.
Aus einem azurblauen Gebäude mit korinthischer Säulenfront, in dem heute billiger Ramsch und »medizinisches Marihuana« angeboten werden, haucht die Stimme von Jim Morrison sein »Baby« an, sein Feuer anzuzünden. Der Mann mit der Pomadenfrisur aus dem extravaganten Hut­laden ein paar Häuser weiter ist ein echtes Verkaufsgenie. »Die gleiche Schiebermütze habe ich vor ein paar Tagen auch Brad Pitt empfohlen, und du bist ja wohl eher der Brad-Pitt-Typ«, sagt er. Zu dumm, dass mein Bankkonto nicht unbedingt der Brad-Pitt-Typ ist. 40 Dollar soll die Mütze kosten.
In Venice treffen nicht nur obdachlose Hippies auf millionenschwere Hollywoodstars, von denen sich einige hier ganz gerne beim Flanieren mal blicken lassen. Der Ort ist auch die Geburtsstätte allerlei kalifornischer Lifestyle-Sportarten. Tagtäglich kommen Surfer, Skateboarder, Inline-Skater, Kyte-Skater und auch ganz klassische Rollschuhfahrer hierher. Sogar Rennradfahrer gibt es hier, vor denen man sich besonders in Acht nehmen muss.
Und natürlich ist da noch der sogenannte ­Muscle Beach, die berühmteste Freiluft-Hanteltrainingsanlage der Welt. Ein T-Shirt im Ramschladen gegenüber mit der Aufschrift »My Governor Kicks Your Governor’s Ass« erinnert daran, dass dort auch die Karriere Arnold Schwarzeneggers begann. An diesem Morgen soll Schwarzenegger hier sogar bei einer Body-Builder-Show gewesen sein und Autogramme und Preise an einige monströs überzüchtete Anabolika-Junkies vergeben haben.
»Hereinspaziert, hereinspaziert!« dröhnt mikrophonverstärkt die Stimme von Todd Ray über die Promenade. »Sehen Sie für nur fünf Dollar den fünfbeinigen Hund, die doppelköpfige Ziege! Bewundern Sie das Rubber Girl, den Zyklopenhund und den Wolfsmenschen aus Mexiko!« Ray stellt sich als ehemaliger Musikproduzent vor, der unter anderen mit Mick Jagger, Helmet, Santana und den Beastie Boys gearbeitet habe. Der Mittvierziger ist Träger von drei Grammy-Preisen. Sie bilden die finanzielle Grundlage seines Unternehmens.
Seit seiner Kindheit in South Carolina hat sich Ray für die aussterbende Wanderzirkus-Kultur begeistert. Vor allem habe ihm die »menschliche Zigarettenfabrik« imponiert, ein Mann ohne Beine und Arme, der nur mit seiner Zunge Zigaretten drehen konnte. Vor fünf Jahren hat Ray nun das Musikbusiness verlassen, die »Venice Beach Freakshow« eröffnet und sich seinen Traum vom »Showbiz« verwirklicht – ganz klassisch als Familienunternehmen. Sein 15jähriger Sohn Phoenix ist »Teilhaber« und arbeitet an der Kasse. Die 18jährige Tochter Asia lässt als »Rubber Girl« elektrischen Strom durch sich leiten, während Rays Frau Danielle mit dem fünfbeinigen Hund Rocky im Arm an den Glasvitrinen den Gästen leben­dige doppelköpfige Schlangen, Eidechsen und sogar eine dreiköpfige Schildkröte zeigt.
Letztere hört auf den Namen »Myrtle, Squirtle and Thirdle«, Todd Ray hat sie eigens aus Peru eingeführt. Über 20 lebendige mehrgliedrige oder mehrköpfige Tiere gehören zur Show, weitere eingelegte und ausgestopfte Exemplare sind in Glasvitrinen ausgestellt. Darunter befindet sich auch das Skelett eines menschlichen Kindes mit zwei Köpfen – oder zwei Kindern mit einem Körper? Ein kleines Vermögen hat Ray für diese Sammlung an ehemalige Showmen und bei Ebay-Auktionen bezahlt.

»Wir sind einzigartig«, davon ist Todd Ray fest überzeugt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reihte sich in Venice Beach eine Freakshow an die andere, heute dagegen sei die Venice Beach Freakshow »die letzte in Amerika«, sagt Ray mit wehmütigem Stolz. Es gebe zwar noch ein paar sogenannte Side Shows, in denen Burlesque- und Kleinkunst dargeboten werden, wie im Coney Island Museum. Aber eine solche Kombination von Groschenmuseum, Menschen und Tieren, »die anders geboren sind«, gebe es sonst nirgendwo mehr. »In der heutigen Zeit sind die Menschen wie Roboter. Früher war die Welt voller Zauber. Ich möchte, dass die Leute wieder das Staunen lernen.« Das Leuchten in den Augen, das Kinder angesichts der weird things bekommen, bedeute Ray »mehr als ­jeder Grammy-Preis«.
Zu Todd Rays kleinem Familienunternehmen gehört auch eine kleine Truppe menschlicher Darsteller. Larry, der ganzkörperbehaarte »Wolfsjunge aus Mexiko«, tritt nicht gerne vor die Tür, während der »Pretzel Boy« den ganzen Tag vor dem Eingang liegt und sich mit einer lebendigen Python um den Hals selbst verknotet. Sein von Kopf bis Fuß tätowierter und gepiercter Kol­lege nennt sich »The Creature«. Der schweigsame Mann im Lendenschurz wirkt ein wenig unheimlich, der redselige Schwertschlucker Brett Loudermilk dagegen sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher Nachbarsjunge.

Mit 22 sei Loudermilk »der jüngste Schwertschlucker der Welt«, weltweit gebe es nur etwa 50 davon. »Wir kennen uns alle untereinander und sind eine sehr eng verbundene Gruppe, die mehr von gegenseitiger Hilfe als von Konkurrenz geprägt ist«, sagt er. Schließlich sei beim Erlernen des Handwerks viel Vertrauen im Spiel, es handele sich immerhin um echte Schwerter. »Allerdings keine scharfen – ein scharfes Schwert schluckst du nur einmal«, sagt Loudermilk mit einem listigen Lachen. Er habe vor sieben Jahren mit Kleiderbügeln angefangen. Seine Eltern hätten seine Berufswahl inzwischen akzeptiert. Schon sein Großvater habe als professioneller Trickbetrüger und umherziehender Gesundbeter sein Brot verdient. Offenbar ist die Rebellion gegen den väterlichen Lebensentwurf in seiner Familie erblich: Sein Vater wurde Polizist.
Ein bisschen fühlt man sich in dieser Umgebung wie in der nach der zweiten Staffel eingestellten HBO-Serie »Carnivale« oder dem inzwischen verfilmten Bestseller »Water for Elephants« von Sara Gruen. In beiden Geschichten schließen sich die Protagonisten während der Dirty Thirties einem Wanderzirkus voller Tiere und Freaks an, um der wirtschaftlichen Not zu entgehen. Die Rays und ihre Truppe könnten problemlos in solchen Filmen auftreten, und den Soundtrack liefert nicht selten die Folkmusik der dreißiger Jahren. Warum gerade angesichts der Wirtschaftskrise von 2008 wieder eine Rückbesinnung auf diese Zeit stattfindet, liegt auf der Hand.
Die Great Depression hat nämlich auch eine besondere Bedeutung innerhalb der Zivilreligion des »Amerikanismus«, die sich nicht zuletzt aus einer biblischen Ikonographie speist. So enthält der Song von Woodie Guthrie, den die Hippies heute am Strand singen, im Grunde die säkularisierte Verheißung des »gelobten Landes«. Wanderzirkus und Freakshow dagegen symbolisieren eine Art Arche Noah, in der alle enger zusammenrücken und gemeinsam die harten Zeiten überstehen, bis »das Land, das für dich und mich gemacht wurde«, wieder stärker, selbstbewusster und geeinter als zuvor aus der Katastrophe hervorgeht.