Kairo – der Kampf geht weiter

Kentucky Fried Revolution

Die ägyptische Demokratiebewegung gibt ihren Kampf nicht auf. Millionen von Menschen beteiligen sich an Demonstrationen, Tausende besetzten wieder die zen­tralen Plätze der ägyptischen Städte. Eindrücke vom Camp der »zweiten Revo­lution« auf dem Tahrir-Platz in Kairo

Revolution heißt Warten. Rauchen, Reden, Umherstreunen, Leute treffen, die man schon kennt und neue kennenlernen. Warten auf einen mög­lichen Angriff oder auf eine Reaktion der Regierung. Die »zweite Revolution«, so hat die ägyptische Demokratiebewegung die seit Ende Juni anhaltenden Proteste gegen die Militärregierung genannt, hat Hunderttausende wieder auf die Straßen und auf die Plätze gebracht. Der Tahrir-Platz ist voller Menschen, bei Tag und bei Nacht. Auch gibt es wieder mehrere Camps an den Rändern und im Zentrum des weiläufigen Platzes im Zentrum Kairos. Das Camp mit den spitzen, weißen Zelten, die ordentlich aneinander gereiht sind, befindet sich auf dem Rasen vor dem wuchtigen Zentralverwaltungsgebäude, dem Mugamma. Hier wird nur nach strengen Kontrollen Einlass gewährt. Junge Männer und Frauen sitzen im engen Kreis auf dem Rasen und singen islamische Lieder. Bunt gemischte Campingzelte stehen einige hundert Meter weiter auf dem Beton- und Sandboden des schmalen Parks in Richtung Qasr-al-Nil-Brücke.

Das wichtigste Camp wurde auf der inneren »Insel« des Tahrir-Platzes errichtet. Dort hatte das Militär noch im Mai neuen Rasen gepflanzt, davon ist mittlerweile nur staubiger Sandboden geblieben. Die Zelte stehen dicht aneinander, viele sind mit Transparenten behängt. Neben den großen weißen Zelten gibt es auch Campingzelte, in manchen Bereichen liegen schlicht Teppiche oder Planen auf den Boden, auf denen Tag und Nacht die Menschen in Reihen schlafen. Es ist über 40 Grad heiß, und über der »Insel« schwebt ein großes Sonnensegel aus feinem weißen Stoff, das sich im leichten Wind hebt und senkt und das Camp von weitem wie eine silberne Festung schimmern lässt.
Alle sieben Zugänge zum Platz sind mit Barrikaden gesichert. Ordner in leuchtenden Westen kontrollieren Ausweise und tasten Männer und Frauen ab, immer wieder wird auf dem Platz nach Freiwilligen für den Sicherheitsdienst gesucht. Einige unermüdliche Aktivisten organisieren Projekte: Im Tahrir-Kino werden nachts Filme auf eine Leinwand projiziert. Zwei Frauen betreiben die »Tahrir-Schule«, ein Zelt, in das Kinder zum Malen, Basteln oder Schreiben kommen können. Die Blogger und Bloggerinnen organisieren über Twitter regelmäßig die »Tweetnadna«, halb virtuelle, halb reale Treffen, auf denen über Themen wie Islamismus oder soziale Gerechtigkeit diskutiert wird. Doch abgesehen von diesen kleinen Aktionen gibt es wenig »Programm«, keine Workshops, keine Vorträge oder fest angesetzte Treffen. Die meisten Menschen, die an dieser »zweiten Revolution« teilnehmen, sind einfach nur da. Hier sein und hier bleiben, darin besteht der Protest. Bleiben und die langen Stunden herumbringen, warten, rauchen, reden. Manchmal finden sich die Menschen spontan zu Gruppen zusammen, singen, trommeln und klatschen gemeinsam.
Revolution ist keine Zeit des Mangels, sondern eine Zeit des Überflusses, zumindest jetzt, da die Organisation des Camps reibungslos funktioniert und alle Teilnehmenden noch auf die Erfahrungen der Platzbesetzungen der vergangenen Wochen und Monate zurückgreifen können. Immer gibt es jemand, der oder die große Tüten mit Falafel, Bohnen und Brot mitbringt, immer ist genügend frisches Wasser da. Als ein »Revolutionspärchen« heiratet, gibt es die Anweisung, das Hochzeitsbuffet zum Tahrir-Platz zu bringen und das Essen an die Menschen dort zu verteilen.

Dieses Camp ist nicht spontan entstanden wie das erste im Januar. »Inzwischen gibt es viele Gruppen, die Zelte aufgebaut haben und helfen, das Camp zu organisieren«, erzählt der Aktivist Ramy. Aber auch dieses Mal ist es kein reines Aktivistencamp. Das Leben vieler, die hier ihre Tage verbringen, spielt sich fern von Blogs und Politforen ab. Manche gehen morgens zur Arbeit und kehren abends zum Platz zurück. Manche bringen gleich ihre ganze Familie mit. Unzählige Kinder rennen zwischen den Zelten umher, springen über die Seile und schlafen nachts irgendwo in einer Zeltecke auf einer Plane tief und fest. Einige Frauen, die eine Burqa tragen, hocken auf Stühlen vor den Zelten, neben ihnen sitzen junge Aktivistinnen in kurzen Tops und rauchen.
Die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Protestierenden sind gewaltig, auch ihre Meinungen über die Revolution und ihre Erwartungen divergieren erheblich. »Natürlich haben wir verschiedene Meinungen«, sagt Ramy, »das ist doch das Wunderbare! 30 Jahre lang durften wir keine Meinung haben oder mussten alle die gleiche haben, nun dürfen wir selbst denken, etwas äußern und darüber diskutieren«.
Revolutionsmenüs werden im Kentucky Fried Chicken (KFC) noch nicht angeboten. Ein gutes Geschäft wäre es bestimmt, seit der Revolution im Januar ist die Filiale am Tahrir-Platz wohl die berühmteste nicht nur in Ägypten, sondern in der ganzen Welt. Nicht ganz freiwillig ist die US-ame­rikanische Schnellimbiss-Kette zum Symbol für die jungen Revolutionäre geworden. In einer Rede vor seinem Rücktritt hatte der damalige Präsident Hosni Mubarak nämlich behauptet, die Demonstranten und Demonstrantinnen auf dem Tahrir-Platz würden jeden Tag 200 Euro »aus dem Ausland« bekommen und dazu noch gratis Essen von KFC.
Der junge Aktivist Salim lacht noch heute darüber: »Was für ein Blödsinn! Während der Proteste im Januar waren alle KFC-Filialen in der ganzen Innenstadt geschlossen!« Trotzdem galten nach dieser Äußerung von Mubarak die frittierten Hähnchenteile von KFC als »das Essen der Revolution« – auch wenn sich in Wirklichkeit kaum einer der Protestierenden ein Menu dort leisten konnte. Bis heute witzeln Jugendliche, wenn sie auf ihre politische Haltung zur Revolution angesprochen werden: »Isst du bei McDonald’s oder bei KFC?«

Um die Filiale am Rande des Platzes ranken sich viele Geschichten. Man erzählt sich etwa, dass sich vor diesem Laden immer die radikalsten unter den Demonstrierenden versammelten. Oder dass sich vor der Revolution die Schwulenszene dort zu treffen pflegte. Nun, in der »zweiten Revolution«, ist sich die Kentucky-Filiale ihrer Rolle bewusst geworden. Anders als die anderen Fastfood-Restaurants in der Gegend ist der Laden nicht geschlossen, und die Aktivisten auf der Suche nach einer Toilette werden dort nicht harsch abgewiesen. Nur der obere Teil der Glasfassade ist mit weißlackierten Brettern verbarrikadiert. Mit stolzem Lächeln hält der Angestellte in der rot-weißen Weste jeder Person, die hereinkommt, freundlich die Tür auf. Drinnen krallt sich die auf 15 Grad gekühlte Luft in die durchschwitzten ­T-Shirts und Blusen. Männer im Anzug und Gruppen von Mädchen sitzen an den Vierertischen, vor ihnen türmen sich die Pappschachteln mit frittiertem Huhn. Protestierende sind unter den Gästen kaum zu sehen. Sie warten vor den Toiletten, wo sich lange Schlangen bilden. Wenn der Laden um vier Uhr morgens seine Glastüren schließt, bleibt nur die Toilette der Moschee am anderen Ende des Platzes. Aber dort muss man über Dutzende Schlafende stapfen, um die Toiletten zu erreichen.

Zu hitzigen Diskussionen unter den Protestierenden führt das Thema, ob Männer und Frauen gemeinsam in einem Zelt schlafen dürfen. Am ersten Abend des neuen Protests – die große Demonstration am 8. Juli hat noch nicht begonnen – sitzen in einem Zelt am Rande des Camps eine Handvoll junge Männer und Frauen. Das Zelt wurde aus riesigen Flaggen errichtet, die ein Freund der Gruppe gespendet hat: Die jordanische, die brasilianische, die chinesische, die italienische und die europäische Flagge sind zu sehen. Durch die Stoffbahnen dringt das Licht gedämpft herein. Es ist eng im Zelt, die jungen Menschen sitzen mit angezogenen Beinen da, lachen, spielen Musik auf ihren Handys und unterhalten sich. Vor dem Zelt, das auf einer Seite offen ist – geschlossene Zelte erregen sofort Misstrauen –, bildet sich nach und nach eine Gruppe von Männern, die teils neugierig, teils feindselig in das Zelt hineinstarren. »Könnt Ihr bitte  … «, sagt schließlich einer der Organisatoren, der das Zelt mit aufgebaut hat. Seufzend kriechen die Jungs aus dem Zelt, nur die Frauen bleiben drin. »Es ist nur für heute abend. Ihr wisst, die Proteste haben noch nicht begonnen, und viele Medien warten nur darauf zu ­schreiben, da haben Protestierende Sex im Zelt«, sagt er.
Alaa streckt sich vor dem Zelt aus, die Schaulustigen ziehen allmählich ab. »Wir haben immer diese Probleme«, sagt Alaa. »Aber das ist nur am Anfang so. Nach ein paar Tagen haben sich die Leute daran gewöhnt oder haben Wichtigeres zu tun.« So ist es. Als das Camp einmal etabliert ist und die erste Großdemonstration stattgefunden hat, schlafen Frauen und Männer in manchen Ecken gar im gleichen Zelt, wenn auch mit wohl eingehaltenem Abstand zueinander.
Sofern sie schlafen können. Abgesehen von den Morgenstunden ist es auf dem Platz permanent laut und heiß. Von drei bis fünf Bühnen kreischen und dröhnen vollkommen übersteuert die politischen Reden. Auf einer Bühne läuft jeden Tag in Endlosschleife das Lied »Ibladi« (Mein Land).
Am frühen Morgen, als gerade alle eingedöst sind, hallt das Klirren von Metall über den Platz, jemand schlägt auf Absperrgitter – Alarm! »Militär und Polizei! Militär und Polizei!« hallen Rufe. Sofort sind viele auf den Beinen, aus den Zelten kriechen verschlafene Gestalten heraus. »Die Kinder in die Mitte des Platzes, alle Männer hierher!« ruft ein älterer Mann, doch bevor jemand etwas erwidern kann, kommt die Entwarnung: Fehl­alarm. Mal wieder. Die Kontrollpersonen an den Eingängen haben nur Pfeifen geübt, das hat jemand falsch interpretiert.

Die meisten Protestierenden schlafen, wenn überhaupt, in den Mittagsstunden. Dann ist es nur heiß. In den Zelten summen die Ventilatoren. Die Aktivisten dösen und nippen an den Wasserflaschen. Irgendwo spielt leise Musik, aus der Ferne spricht eine Frauenstimme von der Bühne.
»Das ist eine beschissene Idee«, sagt der junge Aktivist Khaled, und seine Stimme schwankt zwischen Ungläubigkeit und Ärger. »Was, wenn der Platz angegriffen wird? Wie wollt ihr ihn denn so verteidigen? Das schwächt uns nur!« Sara und Nabil hocken im hintersten Teil eines Zeltes, die Augen tief eingefallen. »Sie haben seit zwei Tagen nichts gegessen«, sagt Nabil und zuckt hilflos die Schultern. Die Idee eines Hungerstreiks kam aus Alexandria und Suez, dort entschlossen sich schon kurz nach den Großdemonstrationen am 8. Juli einige Aktivistinnen und Aktivisten für diese Protestform. Am nächsten Tag gibt es auch auf dem Tahrir-Platz unzählige Hungerstreikende, viele werden bereits nach einigen Stunden von den Krankenwagen weggebracht. Nach heftigen Diskussionen geben schließlich die meisten nach zwei Tagen den Hungerstreik wieder auf. Vier derer, die ihn fortsetzen, sind zehn Tage später im kritischem Zustand im Krankenhaus, einer liegt im Koma. Der Aktivist Mohammed Fawzy verlangt, als er weggefahren wird, nach Sharm al-Sheik gebracht »und behandelt wie Mubarak« zu werden.
Am Abend kommen die Massen. Dann ist es kühler, und die, die feste Jobs haben, strömen nach Feierabend auf den Tahrir-Platz. Die fliegenden Händler schieben sich zwischen den Menschen hindurch, bald gibt es neben Nahrungsmitteln auch die ersten Stände, an denen man Taschen oder T-Shirts kaufen kann. Auf dem Platz riecht es jetzt nach gebratenem Mais, nach dem Puderzucker, der auf das Couscous gestreut wird, und den Limetten, die die Händler über den Tüten mit den gekochten Lupinensamen auspressen.

Vor den Bühnen sammeln sich die Menschen. Ramy Essam, der revolutionäre Sänger, der im März vom Militär verhaftet und gefoltert wurde, und die Band Eskandrella spielen jeden Abend dieselben Lieder, bis sie wirklich jeder auswendig kann. Über der Moschee hinter der Bühne hängt ein riesiger Vollmond, und vor der Bühne klatschen, rufen und singen Zehntausende im Takt: »In jeder Straße des Landes, die Freiheit, Freiheit im ganzen Land!« Männer schwenken ihre Kinder, alle strahlen, als hätten sie nur darauf gewartet, nach so vielen Monaten wieder hier zu stehen und dieses Gefühl noch einmal zu verspüren.
Revolution heißt Warten. Warten auf die Reak­tion der Regierung, auf einen möglichen Angriff. Der bleibt lange aus. Die Regierung schweigt, dann tauscht sie 14 Minister aus. Polizisten sind zwei Wochen lang nicht zu sehen. Dann organisieren die Protestierenden einen großen Demonstrationszug nach Abbasiya, in den Kairoer Stadtteil, wo sich das Hauptquartier des Militärrats und das Verteidigungsministerium befinden. Es ist der 23. Juli, der Jahrestag des Putsches von 1952, mit dem Gamal Abd al-Nasser an die Macht kam, ein Feiertag des Militärs. Am Tag zuvor hat Militärpolizei die Camps in Alexandria und Suez angegriffen. »Schluss mit der Militärherrschaft«, rufen die Menschen. »Wir verlangen, dass General Tantawi geht!«
Um sieben Uhr stoppen Panzer und gepanzerte Fahrzeuge die Demonstration, Hunderte Soldaten stehen bereit, meterhohe Stacheldrahtrollen wurden verlegt. Sondereinheiten der Polizei schließen die Straße von der anderen Seite, und ehe die Demonstranten wissen, was geschieht, stürmen Männer aus den Seitenstraßen, greifen sie mit Messern, Stöcken, Steinen und Molotow-Cocktails an. Die Aktivistin Nazly Hussein erzählt, sie habe gesehen, wie Offiziere den Schlägern Anweisungen erteilen, wen sie gefangennehmen und schlagen sollen. Die Demonstranten fliehen in eine Moschee, in ein Gebäude der Ain-Shams-Universität, deren Leiter die Tore öffnen lässt, um ihnen einen Fluchtweg zu bieten. Die Polizei versucht, ihnen mit Tränengas den Weg abzuschneiden. Hunderte Verletzte treffen in den folgenden Stunden nach und nach auf dem Tahrir-Platz ein und werden in den mobilen Hospitälern versorgt, aus Furcht vor Verhaftungen haben sie keinen Krankenwagen gerufen. Der Menschenrechtsaktivist Amr Gharbeia wird von einem Schlägertrupp wegen seiner langen Haare als »Schwuler« aufgegriffen, schwer gefoltert und am nächsten Morgen freigelassen. Anwälten zufolge gab es zahlreiche Festnahmen.
Das Camp auf dem Tahrir-Platz besteht nun seit 20 Tagen. Die Kontrollen sind strenger als zuvor, oft kommt es zu Streit über den Einlass, von der Feierstimmung der ersten Tage ist nicht viel geblieben. »Wir müssen hierbleiben, bis zum letzten«, sagen die einen. »Wir sollten gehen, bevor eine Katastrophe passiert«, sagen die anderen. »Wem hilft es, wenn am Ende die Hälfte von uns tot oder verletzt ist?« In Suez und Alexan­dria haben die Protestierenden die Entscheidung schon getroffen und die Plätze geräumt. Dieje­nigen, die weiter protestieren wollen, sind nach Kairo gekommen. Der Tahrir-Platz ist die letzte Bastion der »zweiten Revolution«.