Geld und Geschmack und eine Ausstellung dazu in Baden-Baden

Puschel im Hintern

Baden-Baden ist genau der richtige Ort, um das Verhältnis von Geld und ­Geschmack zum Thema einer großen Ausstellung zu machen.

Wie teuer ist das Bild?« fragt mich Tatjana, eine russische Immobilienunternehmerin, mit der ich die Vernissage der Ausstellung »Geschmack – der gute, der schlechte und der wirklich teure« in der Baden-Badener Kunsthalle besuche. Wir stehen vor einem 2,25  Meter mal 2,75 Meter großen »Malen-nach-Zahlen«-Bild von Anselm Reyle. Das Motiv, ein Pferd, könnte auch den Bilderbüchern meiner dreijährigen Tochter entnommen sein. Einige Felder sind mit violetter, grüner oder blauer Farbe ausgemalt, andere mit silberglänzendem Lack, einige sind noch leer. »Weideglück« heißt die Arbeit, und natürlich hätte ich auch gerne gewusst, was der Sammler für das Werk bezahlt hat. Neben uns stehen zwei Kritiker, die über die künstlerischen Verweise auf Andy Warhol und Jeff Koons sprechen und über die Signatur Reyles, die sehr sorgfältig von Hand gemalt sei.
Baden-Baden ist der richtige Ort, um in einer Ausstellung der Frage nachzugehen, was das heute überhaupt ist: guter, schlechter, teurer Geschmack, wie sich die ästhetischen Imperative in der Kunstgeschichte herausgebildet haben und wie sie noch heute auf dem Kunstmarkt wirken. Neben der Staatlichen Kunsthalle liegt das private Museum Frieder Burda; die beiden Häuser sind durch einen gläsernen Steg verbunden, und doch haben sie nur wenig miteinander zu tun. Als Burda 2004 sein schönes und gewiss schön teures Museum eröffnete, war die Begeisterung groß über einen Sammler, der so viel Geld aufbrachte, um Stadt und Land mit einem Prachtbau des Überallbaumeisters Richard Meier und mit Ausstellungen zu beschenken, die sich am Geschmack des Besitzers orientieren, also an den Meistern der klassischen Moderne und den Größen des zeitgenössischen Kunstmarkts. Burda zeigt derzeit Werke von Neo Rauch. In den Jahren davor wurden Georg Baselitz, Gerhard Richter, Anselm Kiefer, Chagall und Miró ausgestellt. Die Ausstellungen waren so erfolgreich, dass im erfolgsorientierten Baden-Württemberg gefragt wurde: Wozu überhaupt noch Steuergelder für ambitionierte Projekte in der benachbarten Kunsthalle ausgeben, wenn sich verhältnismäßig wenig Leute dafür interessieren?
Johan Holten, der neue Direktor des Staatsbetriebs, beantwortet die Frage mit seiner ersten Ausstellung auf charmante und kluge Weise, indem er das Selbstverständnis der staatlichen Museumskultur befragt und den Zusammenhang von Geschmack und Geld zum Thema macht. Holten lässt keine Kunstrüpel auftreten, sondern gibt sich geschichtsbewusst. Wird man im Raum mit der Landschaftsmalerei aus dem 18. Jahrhundert noch einmal daran erinnert, dass sich in der Entwicklung ästhetischer Maßgaben auch die Hoffnung auf das Schöne und Gute in der Gesellschaft ausdrückt, so ist die ideologische Erstarrung in den Bildwelten trotzdem nicht zu übersehen. Tatjana sagt: »Ich kenne einen Mann in St. Petersburg, der malt dir diese Gemälde ab, da kannst du nicht mehr erkennen, was das Original und was die Kopie ist.«
Wir gehen weiter zu den floralen Muster-Bildern des Dänen Poul Gernes, der mit seiner Kunst die Welt verbessern wollte. Er gestaltete Schulen, Kinos, Hotels, Gefängnisse. Mit den klaren Formen und weichen Farben glaubte er, den »Seelenzustand des Betrachters« zu verbessern, »Dänemark zu einem lebenswerteren Ort« zu machen. Tatjana fühlt sich an Sowjetkunst erinnert, ich mag mich über den vielleicht naiv-pädagogischen Impetus, der mir doch sympathisch ist, nicht erheben. Richtig teuer ist diese Kunst nicht, auch wenn sie auf der Documenta XII zu sehen war.
Ganz anders die Fotografien von Martin Parr aus der Serie »Luxury«. Parr war in den Refugien der Oberklasse unterwegs, auf Pferderennbahnen, Kunst- und Millionärsmessen in London, Miami Beach, Dubai und Moskau. Er fotografierte, was er vorfand: Reiche inszenieren ihren Reichtum mit Hüten und mit Pelzschal, mit dicken Zigarren und mit Klunkern. Bad taste? Ich frage mich: Wo beginnt der schlechte Geschmack überhaupt? Tatsächlich wirkt die Ausstellungseröffnung in Baden-Baden wie eine etwas biedere Fortsetzung der Fotoserie von Martin Parr in der Realität der westdeutschen Vernissagekultur. Tatjana steht vor der Aufnahme einer Zigarre rauchenden Frau. Darunter steht: »Russland, Moskau, Millionärsmesse«. Erst diese Erklärung macht die Aufnahme zum Klischeebild. Die Dame schaut mit glasigen Augen zum Nachbartisch – wie der tote Zobel, der ihr um den Hals hängt. Zwei Cocktails stehen vor ihr auf dem Tisch. Ist die Frau gierig? Sucht sie einen Mann? Klischeephantasien. »Das Bild macht mich traurig«, sagt Tatjana. Für das Publikum und die diskutierende Presseschar zeigt sich in dem Foto vor allem die Geschmacklosigkeit der Abgebildeten. Geschmacksurteile, auch das lernt man hier, sind kulturelle Waffen, mit denen man das eigene Ressentiment verteidigt.
Die Ausstellung endet mit der Dokumentation einer Performance von John Bock. Unter dem bestimmt ironisch gemeinten Titel »Die abgeschmierte Knicklenkung im Gepäck verheddert sich im weißen Hemd und die abgeschmierte Knicklenkung im Backstagehemd« hatte Bock 2009 im Berliner Haus der Kulturen der Welt eine irgendwie auch kritisch gemeinte Haute-Couture-Schau simuliert, in deren Verlauf nicht nur Models mit schrillen Entwürfen über den Catwalk stolzierten, sondern auch Tiere. Ein Hund, ein Pferd und schließlich auch ein Lama wurden zwar nicht in Designer-, dafür aber in Künstler-Klamotten gesteckt, was das Berliner Publikum genauso amüsierte wie die Besucher der Vernissage in Baden-Baden, die sich mit den Kostümen und dem Video der Berliner Show begnügen müssen. Ja, die Mode ist schon ziemlich abgedreht, und teuer ist sie, manchmal auch geschmacklos … puh! Bei Bock verbindet sich die Supermarktironie des Kunstbetriebs mit dem Ressentiment des Spießers, der sich meist nach dem modischen Gleichschritt sehnt, nach dem H & M-Einheitslook. Tatjana schaut auf ihre leuchtend rote Versace-Tasche, inspiziert die Stoffe der Künstlerkostümierung und lächelt. Keine gute Qualität, sagt sie. Würde ich mir nicht kaufen.
Wir gehen zurück in den Hauptsaal der Kunsthalle. Hier hängen an der Seitenwand 160 kleinformatige Leinwände, die der chinesische Künstler Zhou Tiehai mit Motiven aus dem europäischen Bilderfundus bemalen ließ. Die »Qualität« der kleinen Gemälde, die von Tiehais Assistenten angefertigt wurden, ist nicht entscheidend. Was guter oder schlechter Geschmack ist, kann hier nicht mehr entschieden werden. In dem Sammelsurium werden, wie es so schön im Katalog heißt, die »Geschmackskategorien, an die sich ein europäisches Publikum bereits gewöhnt hatte, auseinandergenommen«. Und was bleibt? Ästhetische Beliebigkeit? Die feuilletonistische Rezeption der Ausstellung beweist das Gegenteil. Kaum ein Kritiker, der nicht genau anzugeben wusste, was nun geschmacklos und was große Kunst sei. Vorneweg natürlich die Frankfurter Allgemeine, sozusagen führend in Geschmacksfragen. Ihr Autor Dirk Schümer beschimpfte die Filmvorführung von Andy Warhols »Camp« in der Ausstellung als »rührend langweilig«, amüsierte sich über die von Martin Parr fotografierten »Geschmacksverirrungen« und schüttelt über die »subtilen Geschmacklosigkeiten Madonnas« den Kopf. Der altväterliche Blick bleibt uns erhalten, die Stilkritik, welche die feinen Unterschiede im gesellschaftlichen Gefüge bestimmen will, die reaktionäre Sucht nach dem Urteil.
Es ist ein lauer Sommerabend, wir stehen auf der massiven Eingangstreppe, und Tatjana meint: »Lass uns doch mal wieder so richtig geschmacklos sein!« Sie lacht. Wir verlassen die Kunsthallenparty und gehen ins »Medici«, ein Lokal, dessen opulent-durchgedrehtes Interieur unser sonst auf Reduktion getrimmtes Stilempfinden herausfordert. Hier hat schon Bill Clinton gegessen und Jassir Arafat seinen Palischal ausgeführt. Geschmacklos? Wir bestellen mehrere Cocktails auf einmal, rauchen Zigarren und befragen einander, welches Werk uns am besten gefallen hat. Wir entscheiden uns beide für ein Bild, das einen entblößten Hintern zeigt, Tiehais Miniatur mit dem Puschel im Po.

Geschmack – der gute, der schlechte und der wirklich teure. Baden-Badener Kunsthalle. Bis 9. Oktober