Der Streit um die Staatsschulden in den USA

Tee trinken bis zum Bankrott

In den USA widersetzen sich rechte Republikaner der Erhöhung der Schuldenobergrenze, linke Demokraten hingegen protestieren gegen die vorgesehene Kürzung der Sozialausgaben.

Zu Beginn jeden Monats stellt die US-Regierung etwa 70 Millionen Schecks aus, bezahlt werden damit vor allem Sozialleistungen für Rentner, Veteranen, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger sowie Löhne und Gehälter für Staatsbedienstete und Militärangehörige. Doch im August, so warnte US-Präsident Barack Obama jüngst, könnten diese – und wohl auch viele weitere – Schecks ausbleiben oder mit erheblicher Verspätung ausgestellt werden, sofern der Kongress die gesetzliche Obergrenze der Staatschulden von 14,3 Billionen Dollar nicht in den nächsten Tagen anheben sollte. Weil die Einnahmen lediglich 55 Prozent der anfallenden Ausgaben im kommenden Monat decken, muss das Finanzministerium neue Staatsanleihen verkaufen. Damit würde jedoch die Schuldenobergrenze überschritten.
Die Regierung wäre dann zum ersten Mal zahlungsunfähig. Für die US- und die Weltwirtschaft hätte dies verheerende Auswirkungen, nicht zuletzt weil die US-Staatsanleihen als eine der sichersten Anlagen der Welt gelten und in mannigfaltiger Weise im Kapitalverkehr und im Handel verwendet werden. Somit drohe, darin stimmen Finanzminister Timothy Geithner und die meisten Analysten der Wall Street überein, ein Kollaps des Anleihenmarktes, der auch erhebliche Verluste auf dem Aktienmarkt zur Folge hätte.

Bei einer tatsächlichen Zahlungsunfähigkeit wären die Ratingagenturen praktisch gezwungen, die Einstufung der US-Staatsanleihen von AAA auf D für default (Ausfall) zu senken. Doch die Agenturen drohten bereits mit einer geringfügigeren Herabstufung, sofern der Kongress nicht bald handeln sollte. Einerseits erscheint dies als eine leere Drohung, denn die Konsequenz wäre, dass die Ratingagenturen eigentlich auch viele vom Status der Staatsanleihen abhängige Anlageformen und Unternehmen schlechter bewerten müssten, unter anderem Investment- und Pensionsfonds sowie die Aktien vieler Banken, Versicherungen und Konzerne. Andererseits zeigt diese Drohung, wie nervös die Investoren sind. Wie die New York Times berichtet, herrscht auf den Finanzmärkten zwar noch keine Panik, doch die Wall Street stellt sich auf eine eventuelle Zahlungsfähigkeit und auch auf die in den Tagen vor dem Ablauf der Frist möglichen Reaktionen der Anleger ein.
Die Zahlungsunfähigkeit würde überdies das Ende der labilen Erholung der US-Wirtschaft bedeuten, nicht zuletzt wegen der fehlenden 70 Millionen Schecks, die unmittelbar zu einer Senkung der Binnennachfrage führen würden. In den Medien ist bereits von einer neuen Großen Depression die Rede. Larry Summers, Finanzminister unter Präsident Bill Clinton und ehemaliger Wirtschaftsberater Obamas, warnte Ende vergangener Woche, dass die Auswirkungen einer Staatspleite weitaus schlimmer wären als die Folgen der Insolvenz der Bank Lehmann Brothers im September 2008, die die schwerste Rezession seit den siebziger Jahren einleitete.

In Washington ist von Panik noch nicht die Rede, obgleich der Streit über das Budget und die Schuldenpolitik seit mehreren Wochen das einzige Thema ist und ein Kompromiss noch nicht erzielt wurde. Zwar wird in den Medien täglich über neue mögliche Lösungen berichtet, doch eine Mehrheit im Kongress scheint es für keinen Vorschlag zu geben.
Als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur Erhöhung der Schuldenobergrenze verlangen die Republikaner eine drastische Kürzung der Ausgaben. Ihre Verhandlungsführer fordern Einsparungen in Höhe von 4,3 Billionen Dollar in den kommenden zehn Jahren. Präsident Obama ist bereit, in diesem Zeitraum den Etat um etwa 3,7 Billionen Dollar zu kürzen, jedoch nur, wenn auch zahlreiche Steuervergünstigungen vor allem für die reichsten Amerikaner aufgehoben würden. Dies würde dem Staat etwa eine Billion Dollar an zusätzlichen Einnahmen bescheren. Für die Mehrheit der Republikaner im Kongress ist dieser von Obama als »großer Kompromiss« bezeichnete Vorschlag noch inakzeptabel. Die einfachste Lösung, die Schuldenobergrenze wie in den vergangenen Jahrzehnten ohne Bedingungen zu erhöhen, lehnen die Republikaner ebenso ab.
Eigentlich war die 1917 beim Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg eingeführte Schuldenobergrenze als temporäre Maßnahme gedacht. Zuvor musste der Kongress jede Aufnahme von Staatsschulden einzeln beschließen, was bei den erheblich höheren Ausgaben während des Kriegs als unpraktikabel galt. Seither wurde die Schulden­ober­grenze insgesamt mehr als 80 Mal angehoben. In der Regel passierten die Gesetzesänderungen den Kongress mit wenigen Gegenstimmen. Schließlich verabschiedet der Kongress den Staatshaushalt, legt also bei defizitären Etats die Neuverschuldung fest, aus der sich ergibt, in welchem Ausmaß neue Staatsanleihen verkauft werden müssen.
Obgleich die Erhöhung der Schuldenobergrenze hin und wieder umstritten war, ist es bislang nur ein einziges Mal zu einer ähnlichen Situation wie der nun drohenden Zahlungsunfähigkeit gekommen. 1979, als der Kongress zu spät zu einer Einigung gelangte, waren die USA für einige Stunden zahlungsunfähig. Wie die Washington Post berichtete, führte allein diese Verzögerung zu einem Anstieg des Zinssatzes für die Staatsanleihen um ein halbes Prozent. Dies kostete die US-Regierung einige Milliarden Dollar zusätzlich und schwächte die Wirtschaft einige Monate lang. Damals betrug die Schuldenobergrenze lediglich 830 Milliarden Dollar, die Auswirkungen einer Zahlungsunfähigkeit wären nun weitaus schlimmer.
Vor allem die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus sträubt sich gegen einen Kompromiss. In dieser Fraktion gehört etwa ein Drittel der Abgeordneten zur Tea-Party-Bewegung. Die rechtslibertären Republikaner lehnen Steuererhöhungen strikt ab, sie fordern nicht nur, 4,3 Billionen Dollar einzusparen, sondern auch ein striktes Verbot, in Zukunft neue Schulden aufzunehmen. So weit will John Boehner, der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, nicht gehen. Um die Mehrheit für einen Kompromiss zu gewinnen, wäre er auf die Stimmen von Demokraten angewiesen. Doch wenn Boehner sich darauf einlässt, muss er mit einer Meuterei in seiner Fraktion rechnen. Eric Cantor, der zu einem Wortführer der Tea Party geworden ist, scheint auf Boehners Position erpicht zu sein und dürfte eine solche Gelegenheit nutzen. Im Senat haben weiterhin die Demokraten die Mehrheit, doch für einen Kompromiss müssten auch Republikaner gewonnen werden.

Im politischen System der USA wird oft, insbesondere wenn die Zustimmung von Mitgliedern beider Parteien erforderlich ist, brinkmanship (etwa: waghalsige Politik) praktiziert. Bis zur letzten Minute wird um die Gestaltung eines Kompromisses gerungen. Aber die Grenzen der Waghalsigkeit werden dabei in der Regel akzeptiert, denn brinkmanship funktioniert nur, wenn die sich anbahnende Katastrophe abgewendet werden kann. 1979 rang sich der Kongress eigentlich noch rechtzeitig zu einer Einigung durch, doch technische Pannen verzögerten die Umsetzung.
Derzeit wird ein alternativer Plan diskutiert, der die kurzfristige Erhöhung der Schuldenobergrenze um einen relativ geringen Betrag vorsieht, verbunden mit der Absichtserklärung, innerhalb einer bestimmten Frist die Verhandlungen zum Haushaltsdefizit abzuschließen. Im Senat scheinen sich die Parteien schon weitgehend auf diese oder eine ähnliche Lösung geeinigt zu haben. Cantor und einige Dutzend Abgeordnete der Tea Party im Repräsentantenhaus haben jedoch unmissverständlich erklärt, dass auch diese Lösung für sie inakzeptabel sei. Boehner wird sich wohl entscheiden müssen, ob er einem Kompromiss zustimmt und damit seinen Posten als Sprecher riskiert, oder ob er die Zahlungsfähigkeit der USA in Kauf nimmt und riskiert, für die ökonomischen Folgen verantwortlich gemacht zu werden.
Bei allen zur Debatte stehenden Lösungen ist eine erhebliche Kürzung der Staatsausgaben vorgesehen. Wen die Einsparungen vornehmlich treffen werden, steht ebenfalls fest: die armen und alten Amerikaner. Die US-Regierung gibt jährlich etwa drei Billionen Dollar aus, in Zukunft sollen es rund 400 Milliarden Dollar weniger sein. Den Berichten über die Verhandlungen zufolge soll vor allem bei der staatlichen Renten- und Krankenversicherung gekürzt werden.
Für die linken Demokraten im Repräsentantenhaus um die Minderheitsführerin Nancy Pelosi ist dies inakzeptabel. Der sozialistische Senator Bernie Sanders bezeichnete die Kürzungen jüngst als ein »Desaster für die arbeitenden Familien des Landes, für die Senioren, die Kranken, die Kinder und die Geringverdienenden«. Auch die Gewerkschaften protestieren gegen die Haushaltskürzungen. Dass Obama und die konservativen Demokraten im Kongress auf Sanders und Pelosi hören werden, ist derzeit unwahrscheinlich.
Sich auf Kosten der ärmsten Bevölkerungsschichten zu einigen, wäre typisch für solche parteiübergreifenden Kompromisse in den USA – wie auch in anderen Staaten. Allerdings würde dies das ohnehin gestörte Verhältnis der US-Linken zu dem eher konservativ regierenden Präsidenten weiter verschlechtern. Da traditionell die linken Demokraten und die Gewerkschaften die aktivsten Wahlkampfhelfer sind, würde dies die Wiederwahl des Präsidenten im Jahr 2012 erheblich erschweren. So betrachtet, hat Obama derzeit ein ähnliches Problem wie Boehner.