Adorno und die Kritik der politischen Ökonomie

Adornos Marx

Dirk Braunstein zeigt in einer Studie auf, dass die Kritische Theorie auf der Kritik der politischen Ökonomie gründet.

In einem ihrer seltenen lichten Momente bescheinigte die RAF der akademischen Linken in der BRD, dass sie aus Leuten bestehe, denen »es wichtig ist, mit Lukács langfristig zu promovieren, aber suspekt, sich von Blanqui kurzfristig agitieren zu lassen«. Umso bemerkenswerter, dass bis zum heutigen Tag Dissertationen erscheinen, denen deutlich anzumerken ist, dass es ihren Autoren um mehr geht als universitäre Reputation. Obwohl in das Korsett einer wissenschaftlichen Arbeit gezwängt, begnügt sich Dirk Braunstein in seiner Auseinandersetzung mit Adornos und Marx’ Kritik der politischen Ökonomie nicht mit akademischer Gedankenverwaltung, sondern ist von der »Utopie einer Menschheit, die dem ökonomischen Zwang nicht länger schicksalhaft verfallen wäre«, motiviert. Er kann sich dabei auf den ­antiakademischen Impetus des jungen Adorno beziehen, der 1931 an Siegfried Kracauer schrieb: »Ich will keine Wissenschaft machen und keine Weltanschauung, sondern eben was prinzipiell anderes, was zu den akademischen Kategorien ganz disparat steht und was die Leute erbittert.«
Jürgen Habermas hatte Ende der achtziger Jahre verkündet: »Mit politischer Ökonomie hat sich Adorno nie befasst.« Braunstein zeigt auf über 400 Seiten, dass »das Gegenteil wahr ist«. Er will seine Arbeit nicht als Darstellung von Adornos Marxrezeption verstanden wissen, sondern als Entfaltung der »genuin Adornoschen Fassung einer Kritik der politischen Ökonomie«. Braunstein wendet sich dagegen, Adornos ökonomiekritische Ausführungen stets nur an Marx zu messen, Abweichungen »lehrerhaft als falsch oder zumindest als grobes Missverständnis« einzustufen, um Adorno »schließlich von oben herab die Milchmädchenrechnung zu präsentieren«. Der Verfasser interessiert sich nicht sonderlich dafür, dass Adorno, wie schon oft konstatiert wurde, hinter Marx’ »ökonomischer Sachkenntnis zurückbleibt«, sondern konzentriert sich auf das Neue, das sich Adorno gerade aufgrund seiner mitunter eigenwilligen und widersprüchliche Rezeption der Marxschen Kategorien zu erschließen vermag. Dabei verschweigt Braunstein keineswegs die Probleme, die beispielsweise aus Adornos »überhistorischem« Begriff vom Gebrauchswert resultieren.
Braunstein zeigt, dass die Auseinandersetzung mit Georg Lukács, Walter Benjamin und Alfred Sohn-Rethel wichtige Anregungen für ­Adornos Kritik der politischen Ökonomie geliefert hat. Die Studie zeichnet die Diskussionen über den Begriff des »Staatskapitalismus« nach, die im Institut für Sozialforschung und in seinem Umfeld geführt wurden, und dokumentiert ausführlich Adornos Auseinandersetzung mit dem Marxschen Tauschbegriff. Das ist alles nicht neu, aber wohl noch nie so detailliert anhand von Adornos Schriften, insbesondere der bisher kaum rezipierten Seminarprotokolle und Vorlesungen, nachgezeichnet worden.
Anhand von Adornos Überlegungen zum musikalischen und ästhetischen Fetischismus zeigt Braunstein, wie Adorno »in produktivem Missverständnis« den Marxschen Fetischbegriff zur Kritik der Rezeption von Kunstwerken in der kapitalistischen Gesellschaft in Anschlag bringt. Zu Recht wendet sich Braunstein gegen eine Inflationierung des Fetischbegriffs zum, wie Eckhard Henscheid es einmal genannt hat, »linken Allzweck-Nobelschimpfwort«, und doch legt er dar, wie Adorno gerade hinsichtlich des Fetischismus über die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie hinausweist. Die instruktivsten Passagen der Studie rufen in Erinnerung, dass Adornos negative Dialektik das Gegenteil von blindwütiger Abschaffung intendiert. Nicht Tabula rasa wie bei dem häufig mit Adorno verglichenen Guy Debord ist das Programm, sondern bestimmte Negation. Braunstein zeigt das hinsichtlich Tausch, Fetischismus und Verdinglichung ebenso wie bezüglich der Menschenrechte oder der Begriffe von Gerechtigkeit und Freiheit. In Anlehnung an Adornos Zurückhaltung und Zartheit, die Bestimmtheit und Entschlossenheit keineswegs ausschließen, schreibt er: »Die Überwindung des Ganzen muss nicht mit gewaltigem Lärm vonstatten gehen (…); die Revolution käme auf Samtpfoten daher.«
Adorno, der schon bei Marx und Engels »ein Moment der Rebarbarisierung« sah und ihnen ein Denken bescheinigte, das verdinglichter sei »als im fortgeschrittensten bürgerlichen Bewusstsein«, wendet sich gegen jede zynische Geringschätzung jener minimalen Verbesserungen, die im schlechten Bestehenden möglich sind: »Wenn tatsächlich die Arbeiter mehr zu verlieren haben als ihre Ketten, dann mag das zwar für die Theorie peinlich sein, aber für die Arbeiter ist es zunächst einmal etwas sehr Gutes.« Ähnlich verhält es sich mit jenem Minimum an Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft, das in entscheidenden Situationen den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmacht: Kritik an der spätkapitalistischen Gesellschaft ist für die Kritische Theorie nur möglich, »wenn man die Momente, durch die man im Westen noch leben kann, auch erwähnt«, wie Horkheimer es in den fünfziger Jahren in einem Gespräch mit Adorno formulierte. Doch das bedeutete keineswegs die Aufgabe der Kritik am Westen: Braunstein ruft dankenswerterweise in Erinnerung, dass die nach Frankfurt Zurückgekehrten 1956 ihre Diskussion über ein zu schreibendes »Kommunistisches Manifest« wieder aufnahmen; und 1966 hatte Adorno den Plan, in Anlehnung an Marx’ »Kritik des Gothaer Programms« eine »Kritik des Godesberger Programms« zu schreiben und die sozialdemokra­tische Versöhnung mit der falschen Gesellschaft ins Visier zu nehmen.
Bei der Lektüre der Studie wird nochmals deutlich, wie viele ihrer ebenso langwierigen wie nutzlosen Debatten die Linke sich hätte ersparen können, hätte sie Adorno nicht entweder zum anbetungswürdigen, aber irgendwie überempfindlichen Genie verklärt oder aber als »blutleeren« und »praxisfeindlichen« Großbürger bekämpft. Schon Jahre bevor sich die später an die Spitze der Grünen strebenden K-Gruppen-Mitglieder für Mao begeisterten, hatte ­Adorno Sohn-Rethel mitgeteilt, dass er angesichts der Entwicklungen in China nur »Grauen« empfinde. Während sich Generationen von Marx-Exegeten und »Kapital«-Rekonstrukteuren mit der Diskussion abmühten, ob und wie der Staat aus der Ökonomie abzuleiten sei, wandte sich Adorno schlicht gegen die Fragestellung, »ob Herrschaft oder Ökonomie das Ursprüngliche sei«, in der er bereits den Systematisierungsdrang einer unkritischen Theorie erkannte. Während Sozialdemokraten und Leninisten »die Arbeit hochleben« ließen, setzte Adorno gegen den linken Arbeitsfetischismus auf den Begriff der Muße und die Vorstellung von »wahrhaftem Luxus«. Während sich Graswurzelanarchisten, Anarchafeministinnen und alternative Ökonomen in utopischen Spinnereien verloren, formulierte Adorno immer neue Begründungen für das Bilderverbot und gegen die »unvermittelte Aussage des Positiven«. Und doch ist, anders als bei den Reformisten und Opportunisten jeglicher Couleur, die Möglichkeit des ganz Anderen bei ihm stets anwesend, etwa wenn er von einem »Zustand der Fülle« spricht, in dem es »repressiv wäre, die Beefsteaks zu zählen, die jeder isst«.
Während heute postoperaistische Marxologen Adorno zum »Gründungsvater« eines von ihnen erfundenen »Zirkulationsmarxismus« erklären, weist Braunstein nach, wie intensiv ­Adorno sich über Herrschaft in der Produktion und die Bedeutung von Klassen Gedanken gemacht hat. Und doch war es Adorno, der ein für alle Mal Schluss gemacht hat mit der Anbetung des Proletariats als überhistorischer Geheimwaffe der Emanzipation. Merkwürdigerweise spielt der Nationalsozialismus in diesem Zusammenhang bei Braunstein kaum eine Rolle. Er zitiert zwar die »Möglichkeit der totalen Katastrophe«, spricht von der Auflösung der Klassen in Rackets und der »klassenlosen Klassengesellschaft«, aber die Volksgemeinschaft, die Deutsche Arbeitsfront und die proletarische Integration in das Vernichtungswerk sind keine Themen, und die ökonomiekritischen Elemente der Antisemitismuskritik der Kritischen Theorie wurden in eine Fußnote verbannt.
Die Klassen- und Revolutionstheorie des traditionellen Marxismus hätte aber auch ohne die Erfahrung des Nationalsozialismus bei ­Adorno keine Chance gehabt. »Wäre Kritik der Gesellschaft nur das Interesse einer Klasse und nicht das konkrete der Menschheit, so wäre sie keinen Schuss Pulver wert«, zitiert Braunstein aus Adornos Stichworten und Entwürfen zu seinen Vorlesungen der Jahre 1949/50. Dass sich das Interesse an allgemeiner Emanzipation heute kaum artikuliert, ist weder für Adorno noch für Braunstein ein Grund, sich resigniert zurückzuziehen: »Mitmachen ist Verrat; aber wer nichts tut, flüchtet sich in den ihm von allen Seiten nahegelegten Quietismus. Adornos Bemühungen gingen dahin, das Schlimmste zu verhindern und das Beste zu hoffen.«

Dirk Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie. Transcript, Bielefeld 2011, 440 Seiten, 36,80 Euro