Über Mauern und Brücken

Die Brücke muss weg!

Mauern sind gar nicht zu verachten. Vor Brückenbauern hingegen ist zu warnen.

Als es noch Städte gab, waren Brücken und Stadtmauern gleichermaßen Orte der Vermittlung. An beiden sammelten sich Händler und Künstler, Bettler und Prostituierte, Einreisende und Auswanderer, Gäste und Gesindel. An ihnen traf aufeinander, wer sich nicht kannte, und sie trennten, was einander doch verbunden blieb. Es waren Orte der Rast und der Durchreise, wo die Bürger einen Hauch jenes Glücks atmen konnten, dessen Versprechen ihr Leben ausmachte und das sie sich um des eigenen Selbsterhalts willen verbieten mussten, während die Vagabunden hier die Freiheit erfahren konnten, von der sie ausgeschlossen waren. Durch ein Tor oder über eine Brücke die Grenze zu einer Stadt zu passieren, erweckt deshalb heute noch in seltenen Augenblicken eine traurige Sehnsucht. Auf der anderen Seite der Grenze scheint immer noch die andere Welt zu liegen, von der längst jeder aus eigener Erfahrung weiß, dass es sie nicht gibt.

Heute führen die Brücken nirgendwohin, während die Mauern zu Ruinen verwittern. Sie wirken wie kuriose Überbleibsel einer verlorenen Epoche, die das Stadtbild eher stören als prägen und allenfalls Touristen faszinieren. Brücken dagegen kennzeichnen weniger die Städte als das Ödland zwischen ihnen. Hier überbrücken sie, als Straßen- und Autobahnbrücken, keine Flüsse, sondern Verkehrswege, zu denen die Flüsse selbst geworden sind. War die Stadtmauer einst eine Brücke zwischen Stadt und Land, so sind die Brücken ihrerseits zu Mauern geworden, graue Chiffren eines Austauschs, der den Individuen, denen er nützen soll, so feindlich ist wie die Brücken den Passanten, die vom Verkehrsstrom ans Geländer gedrückt werden wie Unrat an den Straßenrand.
»Brückenbauen« ist der harmoniesüchtige Marschbefehl, der in einer taubstummen Zeit von Bornierten an Autisten ergeht. Wie Menschen, zwischen denen nichts anderes mehr möglich ist als der endgültige Bruch, umso begieriger nach »Mediatoren« rufen, deren »Vermittlungsarbeit« endlich wieder einen »Draht« zur anderen Person herstellen soll, so gehört es zur Lieblingsbeschäftigung aller autoritären Verehrer kultureller Vielfalt, zum Brückenbau zwischen Religionen, Ethnien und Minoritäten aufzurufen.
Wer sich solchem Appell verweigert, sei es auch nur, weil das Leben zu kurz ist, um permanent mit Leuten zu reden, denen man nichts zu sagen hat, oder wer gar aus Einsicht in die Notwendigkeit des Selbstschutzes Grenzen zwischen sich und jenen errichtet, die das eigene Leben bedrohen, gilt den Brückenbauern bestenfalls als reaktionär, schlimmstenfalls als Gefahr für den Weltfrieden.
Den Weltfrieden können sich die Brückenbauer in bezeichnender Sprachverhunzung nur als weltweite »Befriedung« vorstellen. Die gänzlich befriedete Welt wäre eine, in der noch die letzte Erinnerung an jene Möglichkeit gelungener Vermittlung getilgt wäre, welche die Stadtmauern und Stadtbrücken einst wachhielten – eine Welt ohne Frieden, in der Schmerz und Gewalt ebenso stumm wie allumfassend wären. Erst wenn die Individuen nichts anderes mehr sind als hilflose, klägliche, isolierte Atome ohne Trauer und ohne Sehnsucht, wenn es nichts mehr zu vermitteln und nichts mehr zu bewahren gibt, werden die Brücken, an deren Bau täglich Millionen von Kommunikationsarbeitern werkeln, mit der Welt identisch geworden sein, zu der sie einst nur den Weg eröffnen sollten.

Eine Brücke ist ein Notbehelf, um zu verbinden, was voneinander getrennt und dennoch aufeinander verwiesen ist. Sie ruft in Erinnerung, dass die Vermittlung, die sie herstellt, in Wahrheit noch nicht gelang. Es gibt Brücken, die diese Vorläufigkeit in ihrer eigenen Gestalt zum Ausdruck bringen. Wie manche Mauern oder Zäune sind sie Bestandteil des Raums, den sie gliedern. Gleich den Stadtmauern sind sie zum Anachronismus geworden, der als kitschig verachtet oder als pittoresk gewürdigt wird, wie man »gute Gespräche« lobt, die sich kontrastreich vom sinntötenden Geschwätz abheben, das den Alltag aller grundiert. Man erinnert sich an sie wie an Denkmäler eines Glücks, das man allenfalls in seiner verkümmerten Erscheinungsform, als Zufriedenheit kennt: tote Abbilder eines Lebens, das es nie gegeben hat.
In einer Welt, die keiner Befriedung bedürfte, fielen die Brücken jenen zu, denen sie allein gehören, weil ihnen ohne Absicht gelingt, was die Brückenbauer am allermeisten hassen. Den zwecklos Verliebten, die von dort aus in die Dämmerung eines Morgens blicken, der zur Abwechslung wirklich ein neuer wäre.