Über Mauern und Brücken

Die Mauer muss weg!

Unter der Brücke zu liegen, gilt als Metapher des Scheiterns. Doch in Wirklichkeit ist so manche Brücke vor allem eine Hommage an das Darunterliegende.

In einer Diskussion »Brücke versus Mauer« pro Brücke zu schreiben, erscheint leicht. Brücken verbinden, Mauern trennen. Brücken sind elegant, Mauern hässlich. Also: Brücke gut, alles gut.
Aber so einfach sind die Dinge nicht. Die Vorstellung, an beiden Enden einer Brücke ständen immer vereinigungsbereite Menschenmassen, die sich kurz darauf in der Mitte mit glühenden Wangen um die Hälse fallen, müssen Propagandisten des Prinzips Brücke modifizieren. Sie sollten mal Teilnehmer der Gemüse- und Wasserschlachten befragen, die sich Kreuzberger und Friedrichshainer alle paar Jahre auf der Berliner Oberbaumbrücke liefern (am 28. August ist es offenbar wieder so weit). Und anstatt Sommer für Sommer gefühlsduselig auf der Prager Karlsbrücke zu sitzen und »Imagine there’s no heaven« zu singen, empfiehlt sich die Rückkehr ins Hotelzimmer und die Betrachtung eines der oft spät laufenden Kriegsfilme. In diesen spielen Brücken meist eher, nun ja, Aggressivität fördernde Rollen. Also: Mehr Realismus bitte. Brücken verbinden, aber dieses Verbindende ist zugleich auch immer das Konfrontative. Brücken erzeugen Culture Clashes.

Während ich dies schreibe, sitze ich in einem Café in Williamsburg, New York. Vor mir sehe ich die Ausläufer der Williamsburg Bridge, die Brooklyn mit Manhattan verbindet. 1903 fertiggestellt, war sie mit über zwei Kilometer Länge eine Zeit lang die größte Hängebrücke der Welt. Ein stählerner Mastkoloss. Und Ort eines sehr symbolträchtigen Clash of Cultures. Hier Brooklyn, oft schäbiger, heterogener Ort voller urbaner Vitalität. Dort das cleane, post-Giuliani-gesäuberte Manhattan. Wenn in Westdeutschland unsympathische Zeitgenossen gerne mal fordern, die Mauer wieder aufzubauen, würden viele Brooklyner womöglich mit einfallen: »Reißt die Brücke wieder ab!«
Aber natürlich würde das längst nicht mehr helfen. Die Tsunami-Welle der Gentrifizierung ist ja bereits über die Brücke nach Brooklyn geschwappt, und mit ihr die Freunde des schönen, heiter konsumierenden, aber leider auch teureren Lebens. Klar ist jedenfalls: Selbsthilfegruppen, die sich gerne »Die Brücke« nennen, missverstehen den wahren Geist des Prinzips Brücke. Ebenso wie Bundespräsidenten in spe, die, wenn ihnen gar nichts Inhaltliches einfallen will, mit feuchtem Blick beteuern, sie wollten »Brücken bauen«.
Doch zurück nach Williamsburg. Brillant literarisiert hat den Kulturclash dort der Schriftsteller Richard Price. Sein Roman »Cash« liefert ein lebenssattes Bild des New York beiderseits des East River. Er ist auch eine vergiftete Ode an die Williamsburg Bridge in all ihrer Widersprüchlichkeit. Price beschreibt sie als Schatten spendendes Monstrum. In seinem Roman ist sie dunkler Unheilsverkünder, architektonische Triebfeder urbaner Konfrontationen, die meist ernüchternd enden und gerne mal tödlich.
Aber lassen Sie mich die Dinge weiter verkomplizieren. Manchmal, so meine These, ist die Hauptdimension einer Brücke nämlich gar nicht die Horizontale. Gelegentlich wollen die Erbauer eher betonen, was unter der Brücke liegt. Zum Beispiel in Madrid. Durch ein paar ambitionierte Infrastrukturprojekte haben die Madrilenen diverse Autobahnen und Schnellstraßen unter die Erde gelegt. Dies verschafft ihnen jetzt Zugang zum Manzanares, dem Flüsschen westlich des Stadtzentrums.

Die neue städtebauliche Lage würde Planer anderswo grämen, muss den Madrilenen aber wie der blanke Luxus vorkommen: Sie müssen nun Stadtteile beiderseits des Flusses verbinden. Die Fußgängerbrücke, die der Pariser Architekt Dominique Perrault gerade fertiggestellt hat, ist insofern ein Fest zugunsten des unter ihr Liegenden, des kleinen Manzanares eben.
Perraults Brücke hat die Form eines gigantischen Korkenziehers. Eine metallene Gitterwand zieht sich spiralförmig an der gesamten Brücke entlang. Könnte sein, dass der Architekt hier an die Arbeiten erinnern will, die nötig sind, um Autobahnen ex post unter die Erde zu verlagern. In jedem Fall führt Perraults Korkenzieher vor, dass Brücken auch trennen – die darauf von denen darunter. Insofern wäre die Brücke auch für Walter »Niemand hat die Absicht« Ulbricht das viel geeignetere Bauwerk gewesen. Auf einer Brücke hätte er seinen Arbeiter- und Bauernstaat errichten sollen. Unten die finsteren Kapitalisten, oben die DDR. Das Problem der Republikflucht hätte sich damit zwar nicht erledigt, aber viel von seiner emotionalen Aufgeladenheit verloren. Ein Sprung über eine Mauer ist nun mal symbolträchtiger als das Abseilen von einer Brücke.

Der Autor ist Chefredakteur des Architekturmagazins »Baumeister«.