Hat sich die Sozialproteste in Israel angesehen

Friede dem Hüttenkäse

In den vergangenen zwei Jahren stiegen die Mieten in allen größeren israelischen Städten um 15 bis 25 Prozent. Sie gleichen damit mehr und mehr den Mieten in New York oder London. Das Lohnniveau in Israel bleibt jedoch niedrig. Die am 14. Juli begonnene Besetzung der Rothschild Avenue, der Hauptstraße in einem der teuersten Wohngebiete Tel Avivs, richtete sich zunächst gegen steigende Mieten. Inzwischen entstand eine breite Protestbewegung mit weitergehenden Forderungen. Die Proteste ergriffen auch Jerusalem und Haifa. Die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, genannt »Bibi«, steht unter Druck. Am Samstag demons­trier­ten landesweit 120 ooo bis 150 ooo Israelis gegen soziale Ungleichheit und steigende Lebenshaltungskosten. Weitere Proteste sollen folgen.

»Ich habe hier zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, frei zu sein«, fasst Roy Chicky Arad, kurz »Chicky«, rund zwei Wochen nach Beginn des Protestcamps in Tel Avivs Nobelviertel seine Eindrücke zusammen. Der etwa 30 Jahre alte Dichter ist Mitglied der Gruppe »Culture guerilla« und Herausgeber der Zeitschrift Maayan, die 2007 die vielgelesene »Red Anthology« veröffentlichte. »Unser Kampf hier ist ein Generationenkonflikt, vergleichbar mit der Revolution auf dem Tahrir-Platz. Es gibt zwei Redetribünen, eine für Lesungen, eine Küche, ein Medizinzelt, ein Public-Viewing-Kino, ein Büro für Offizielles. Wir sind eine Art alternative Regierung«, erläutert er die Funktionsweise des Protestcamps. Chicky ist ein kleiner Star unter den Protestierenden. Auf dem Weg zu unserem Gespräch klatscht er lässig Bekannte ab, gerät von einem Smalltalk in den nächsten.

Der Weg zur »alternativen Regierung« begann mit der frustrierenden Wohnungssuche einer Studentin. Anfang Juli muss Daphne Leef ihre Wohnung im Zentrum von Tel Aviv verlassen. Die Suche nach einer neuen Wohnung lässt sie verzweifeln, denn die Mieten im Stadtkern sind nahezu unbezahlbar. Um ihrem Ärger Luft zu machen, schlägt die 25jährige Filmstudentin am 14. Juli am Habima Theatre Square am Ende der Rothschild Avenue ihr Zelt auf und ruft per Facebook zum wilden urbanen Camping auf. Was innerhalb der nächsten zwei Wochen geschieht, ist für viele bereits Legende. Daphne ist mit ihrem Problem nicht allein. Innerhalb von Tagen entsteht eine engagierte Community von Aktivisten, inzwischen demons­trieren Tausende ihren Veränderungswillen. Hinzu kommen Massen an Sympathisanten, die Medienresonanz ist gewaltig. Was wie eine spiegelverkehrte Variante der Erzählung vom Tellerwäscher klingt, der Millionär wird, nämlich dass eine eigentlich gut situierte Studentin schlagartig zur Protestikone aufsteigt und dafür auch Entsagungen in Kauf nimmt, ist rund um die Rothschild Avenue zum Gründungsmythos einer Bewegung geworden.
Meine erste Begegnung mit dem Zeltcamp ergibt sich zufällig, vier Tage, nachdem Daphne ihr Zelt aufgebaut hatte. Nach ein, zwei Drinks in der an den Berliner Stadtteil Kreuzberg erinnernden Allenby Street zeigt Nurit Davidovitz, eine befreundete Abteilungsleiterin einer Übersetzungsagentur, mir das Camp. Die Allenby Street führt auf die Rothschild Avenue. Von der Straßenecke zum ersten Zelt lief man 20 Minuten, nun ist die Strecke Teil des Camps geworden. Nurit sagt, sie finde das Projekt toll, auch weil es apolitisch und unvoreingenommen sei. Sie ist Anfang 30 und wohnt im angrenzenden Ramat-Gan. Von ihrer letzten Berlin-Reise war Nurit so inspiriert, dass sie überlegt, ihren inzwischen langweiligen Job zu wechseln. Ich bin skeptisch, auch wenn mich der Schauplatz fasziniert. Die Zelte sind entlang eines zehn Meter breiten, alleeartigen Fußwegs aufgebaut, umgeben von zwei je zweispurigen Straßen. Es ist Montagnacht gegen ein Uhr, hier zu schlafen, erscheint angesichts des Autolärms und der schwülen Hitze ein Ding der Unmöglichkeit. Sanitäre Anlagen gibt es bis auf ein paar Dixi-ähnliche Sanitärcontainer keine. »Viele hier benutzen die Duschen der nahegelegenen Sporthalle oder die der Anwohner. Die Leute in der Umgebung sind extrem hilfsbereit. Sie verstehen, dass es auch um ihre eigene Sache geht«, erklärt mir Dana, eine 27jährige Wirtschaftsstudentin von der National Union of Israeli Students. An einem Stand, wo Flyer und Broschüren ausliegen, lese ich im Vorbeigehen das Wort »Flotill«, durch das Anarcho-A zu »Flotilla« ergänzt. Es geht wohl um die »Freedom Flotilla« und ihren Weg nach Gaza. Das spielt meinem bis dato noch konturlosen Vorurteil in die Hände, entkräftet aber auch die Kritik, die insbesondere seitens der Ha’aretz an der symbolischen Besetzung geäußert wird: dass es den Demons­tranten an politischer Positionierung fehle. Der Großteil der Menschen hier wirkt keineswegs apolitisch. Die Protestcamper beschränken sich zwar oft auf eine Kritik an den Auswirkungen des freien Marktes oder der Privatisierungen. Fest steht aber, dass der Protest sich binnen kürzester Zeit zu einer Plattform von Individuen und Gruppen verschiedenster politischer Richtungen entwickelt hat. Zur politischen Einordnung der Protestierenden erklärt Chicky später: »Bestimmt sind die meisten hier Linke, viele wählen aber auch rechts. Rechts und links ist in Israel nicht das Gleiche wie in anderen Ländern, es bezieht sich fast ausschließlich auf Außenpolitisches, die Linken sind für Aussöhnung mit den Palästinensern, die Rechten weniger. Das drängt das Soziale in der Politik aus dem Blickfeld.«
Das vielleicht wichtigste Merkmal des Protests ist, dass er nichts Exklusives hat. Hier wird kaum jemand wegen der Herkunft, des Geschlechts, der Klassenzugehörigkeit oder des ­Alters ausgeschlossen. Sharon, eine 26jährige Filmstudentin, sieht die protestierende Masse dennoch mit Skepsis. Sie habe versucht, hier zu schlafen, die Gitarrenmusik sei ihr aber bald auf die Nerven gegangen. »Sicher, das ist wie ein Karneval an Positionen, ein Happening im doppelten Wortsinn.« Den Protest einfach sarkastisch als romantisierte Hippiezusammenkunft abzutun, sei aber kurzschlüssig: »Fuck Liebe und das Hippiegetue, hier geht es um Geld. Tel Aviv ist nicht wie Berlin, wir sind hier im Konkurrenzkampf. Es gibt schlicht keinen Mieterschutz, meine Miete wurde vor zwei Wochen von 4 000 auf 7 000 Schekel (von ca. 800 auf ca. 1 400 Euro, Anm. d. Autors) angehoben. Ich bin natürlich ausgezogen und komme jetzt bei einer Freundin unter. Ich hoffe, mein Vermieter stirbt. Schreib das!« meint sie lachend. Auf unserem Weg zurück fährt der quietschbunte Kleinbus der Rabbi-Nachman-Gruppe vorbei. Die chassidischen Blumenkinder, die ich in den folgenden Tagen noch häufiger zu Gesicht bekomme, tanzen in religiösen Gewändern zu trancigem Techno, wollen Autos und Fußgänger umarmen und Lebensfreude verbreiten. »Meine Familie ist hier«, begründet ein Chassid seine Teilnahme am Protest. Auf die Frage, ob er oder die Nachmans ein konkretes Ziel verfolgen, antwortet er knapp: »Zusammensein.«

Als ich fünf Tage später gegen 21 Uhr zur Samstags-Demonstration wiederkomme, hat sich die Größe des Camps bereits verdoppelt. Rund um die Rothschild Avenue haben sich Zehntausende Menschen versammelt. Die offiziellen Schätzungen schwanken zwischen 20 000 und 40 000 Teilnehmern. Es ist laut und es herrscht eine karnevalsartige Stimmung. Dazu gibt es Revolutionspathos und Sprechchöre: »Bibi, wach auf – die Frauen sind mehr wert!« und »Die Antwort auf die Privatisierung? Revolution!«, wie Gal Hertz übersetzt, der inzwischen vom Zentrum Tel Avivs in die angrenzende Vorstadt Giv’atayim gezogen ist. Der Mitarbeiter des Minerva Humanities Center der Universität von Tel Aviv ist Anfang 40 und bezeichnet sich als bourgeoisen Marxisten. »Das fing hier alles mit dem Hüttenkäse-Boykott an«, erklärt er weiter. »Zehntausende weigerten sich, den beliebtesten Käse des Landes zu kaufen, bis die drei größten Molkereiunternehmen die Preise senken mussten.« Das Lieblingsmilchprodukt als Projektionsfläche der Frustration? Yochai Taran bestätigt das. Er ist Anfang 20, zieht in den nächsten Wochen von seiner kibbuz­artigen Community in Galiläa im Norden nach Tel Aviv und ist eigens für die Demonstration angereist. Am Freitag vergangener Woche sei das Hauptquartier des Likud, des größten rechtskonservativen Parteienbündnisses in Israel, mit Käsebehältern beworfen worden, sagt er.
Verschiedenste Forderungen mischen sich also bereits und weisen über den anfänglichen Protest gegen unbezahlbare Mieten hinaus. »Durch den Protest beginnt ein Großteil der Menschen in Israel, staatliche Souveränität in Frage zu stellen. Die Tatsache, dass die Jüngeren endlich da­rüber nachdenken, wie sie leben und das Land unabhängig gestalten wollen, ist viel bedeutender als Mietpreissenkungen um ein paar hundert Schekel«, beurteilt Chicky, der seit ein paar Tagen täglich beim Zeltcamp dabei ist, die sich ausweitenden Proteste. Der erfolgreiche Hüttenkäseboykott kann als Vorläufer der aktuellen Entwicklungen angesehen werden. Er begann bereits im Juni, ebenfalls mit einem Aufruf über Facebook.
Die Demonstrierenden bewegen sich langsam von der Rothschild Avenue in die Marmorek-Straße. In die übergroße Israel-Flagge, die gegenüber dem Habima-Theater angebracht ist, hat jemand drei Löcher in Form von Tränen unter den Davidstern geschnitten. Auch der Teil des Demonstrationszugs, in dem ich mich befinde, ist voll von Nationalfahnen und roten Flaggen. Als ich, von der Kulisse beeindruckt, gegenüber Eran, einem bodenständigen Kommunisten der Chadasch, einer Wahlvereinigung sozialistischer Parteien, erwähne, dass so ein Bild in Berlin-Kreuzberg kaum möglich wäre, erwidert er: »Ich wünschte, es wäre hier auch nicht möglich!«

Die Mehrheit der Demonstranten ist energisch, laut und schnell. Ausschreitungen scheint es kaum zu geben. In Zeitungsberichten ist jedoch später von Polizeiblockaden und insgesamt 43 Verhaftungen die Rede. Die mobilen Polizisten auf Inline-Skates geben aber eher ein unfreiwil­lig komisches Bild ab, und auch die mit Maschinenpistolen ausgerüsteten Soldaten haben nichts wirklich Bedrohliches, da sie im militarisierten Alltag in Israel ohnehin stets präsent sind. Am Ziel der Demonstration, dem Kunstmuseumsplatz, warten die meisten gespannt auf Daphnes Redebeitrag. Versammelt haben sich hier verschiedenste gesellschaftliche und politische Gruppen: Interessenverbände von Medizinern, Lehrern, Sozialarbeitern und sogar geschiedenen Vätern, feministische und anarchistische Gruppen und sehr viele Familien. Einige distinktionsgeschulte Hipster halten Schilder mit Sprüchen wie »Meine Message ist hierfür zu inhaltsleer«.
Auch Itay wartet auf Daphnes Rede. Er ist etwa 30 Jahre alt und Mitglied der zionistischen Jugendorganisation Dror-Israel. Seine Organisation engagiere sich für die Qualität menschlichen Lebens, für Zionismus, Humanismus und chevruta, was etwa geschwisterliche Solidarität bedeute, erklärt er. Trotz der sozialistischen Ideale gehe es in der jetzigen Situation um sozialdemokratische Ziele. Auf die Frage, ob es Probleme mit antizionistischen Gruppen am Platz gebe, antwortet er, nach einer Woche in der Rothschild Avenue hätten die Gruppen gemeinsam beschlossen, das Thema Zionismus ruhen zu lassen. »Klar, generell ist es schwer, Zionist zu sein, ohne die Politik der Regierung gutzuheißen, auch was die Siedlungspolitik angeht«, merkt er an. Gegen 23 Uhr beendet Itay das Gespräch, Daphnes Rede beginnt. Zwei Leinwände projizieren ihr Gesicht über den Museumsplatz. Wie ich später von Neomi erfahre, ging es in der Rede in erster Linie um den »Aufschrei der israelischen Gesellschaft«. Die 25jäh­rige Modedesignstudentin sieht den Protest eher abgeklärt, sie wohnt im Zentrum, in der Nähe der Allenby Street.
In den folgenden Tagen sind die Aktivisten sichtlich selbstbewusster. Einer Umfrage der Ha’aretz zufolge unterstützen seit der großen Demonstration am Samstag 87 Prozent der israelischen Bevölkerung den Protest. »Ich finde es sehr gut, sowas gab es seit über 15 Jahren nicht mehr, genau genommen seit der Ermordung Yitzhak Rabins. Israel bewegt sich«, meint Renan, ein etwa 40 Jahre alter Dekorateur, der in Campnähe wohnt. Ob er sich durch die Aufregung und die ganzen Camper nicht auch bedrängt fühle? »Nein, prinzipiell unterstütze ich den Protest, auch wenn er etwas Luxuriöses hat: besetzen, ohne über die Besetzung zu sprechen.«
Dass über die »Besetzung« sehr viel gesprochen wird, hat Renan offenbar nicht bemerkt. Es gibt eine professionelle Art der Selbstorganisation und eine äußerst ausgeprägte Rede- und Diskussionskultur. Der Sender Channel 2 möchte an diesem Abend filmen. Ein Interview wird jedoch von einer etwa 50jährigen Frau unterbunden, sie schreit den Filmenden so laut entgegen, dass das Gespräch verschoben wird. Auf meine Frage deutet sie, da sie kaum Englisch spricht, gesti­kulierend auf das Senderpersonal und wiederholt: »Bibi.« Anscheinend geht es um Kritik am Premierminister. Während ich noch zu verstehen versuche, spricht mich jemand in nahezu perfektem Deutsch an: »Es geht ihr um den Integritätsverlust der Medien. José Rennert mein Name.« Er erzählt Teile seiner Lebensgeschichte. Angehörige seiner Familie wurden in Theresienstadt ermordet. »Mein Vater aber war ein Schlaukopf, er ist in den dreißiger Jahren emigriert. Ich bin 1942 hier geboren, noch unter britischem Mandat. Hier war alles sehr unsicher, und wenn ich zurückdenke, nein, so etwas wie hier wäre unter Ben Gurion nie möglich gewesen.« Ob er den Protest denn schätze? »Natürlich, es geht um Meinungsfreiheit!«
Die allgemeine Kritik an der Regierung und am Regierungsstil Benjamin Netanyahus scheint immer mehr in den Mittelpunkt der Proteste zu rücken. Mit der Definition konkreterer Forderungen tut sich jedoch auch Chicky etwas schwer: »Wir haben uns noch nicht entschieden. Was zählt, ist die Gegenwart, der Prozess. Natürlich, Bibi handelt wie Berlusconi und muss abgesetzt werden, das ist das vordergründige Thema. Dafür muss aber viel passieren. Vielleicht müssen wir daran arbeiten, dass die Arbeiterpartei sozialistischer wird. Ich denke, wir sollten uns mehr an sozialistische Ideen wagen.« Ich verabschiede mich von Chicky und laufe über den Zeltplatz zum Bus, vorbei an der unvermeidlichen Ska-Combo und der Menschenmenge. Daphne, die ich gern interviewt hätte, ist für mich ein Phantom geblieben. Ob die von vielen erhoffte Veränderung in Israel genauso ungreifbar bleibt, oder die durch den Protest angeregte Debatte politische Folgen haben wird, ist noch unklar.