Über den Piraterie-Prozess in Hamburg

Lieber nicht nach Somalia

Die Verteidigung im Hamburger Piraterie-Prozess fordert die Einstellung des Verfahrens gegen einige der zehn Angeklagten.

Man könne viel über die Ursachen der Piraterie spekulieren, es könne aber angesichts der Situ­ation in Somalia kein Zweifel daran bestehen, dass dieses Strafverfahren – und seien die zu erwartenden Strafen noch so drakonisch – nicht geeignet sei, Piraterie und Piraten zu bekämpfen, sagte die Anwältin Gabriele Heinecke Mitte Juli im Piraterie-Prozess vor dem Hamburger Land­gericht (s. Jungle World 6/11) vor einer längeren Verhandlungspause. »Wenn täglich die Millionenwerte der reichen Industrienationen an einem in der Apokalypse untergehenden Land vorbeischwimmen, liegt für keinen Menschen in solch existentieller Lage der Gedanke fern, sich aus dieser unerträglichen Lage zu befreien. Eine andere Argumentation ist ein Luxus derer, die es im Leben warm und weich haben«, so Heinecke.
Seit Herbst 2010 stehen zehn Angeklagte aus Somalia wegen des Vorwurfs des erpresserischen Menschenraubs und des Angriffs auf den Seeverkehr vor Gericht. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft. Sie sollen im April 2010 das deutsche Containerschiff »Taipan« gekapert haben. Die 15 Seeleute aus Deutschland, der Ukraine und Sri Lanka hatten sich vor ihrer Rettung durch die niederländische Marine in einem sicheren Bereich verschanzt und dann einen Notruf gesendet.

Die Angeklagten, darunter auch Jugendliche und ein nach eigenen Angaben zur Tatzeit strafunmündiger 13jähriger, sitzen bald anderthalb Jahre in Untersuchungshaft. Besuche von Familie und Freunden aus Somalia sind nicht möglich. Ab und zu kommt ein Anwalt in die Zelle, alle paar Wochen gibt es eine knappe Stunde Deutschunterricht.
An 39 Tagen saßen die Beschuldigten mit je zwei Verteidigern und drei Dolmetschern im Gerichtssaal des Hamburger Landgerichts. Seit Mitte Juli ist Verhandlungspause, weitere Termine sind bis November angesetzt. In vielen Sitzungen zeigte sich, dass die Angeklagten sehr unter der Isolation leiden. Manche können sich im Gefängnisalltag nicht verständigen, weil sie kein Englisch sprechen. Vor allem die jüngsten Angeklagten haben entwürdigende medizinische ­Altersuntersuchungen ohne Dolmetscher über sich ergehen lassen müssen. »Ich hatte große Angst, dass ich umgebracht werde, denn in meiner Heimat sind die Richter Scharfrichter«, berichtet einer der jungen Angeklagten im Gerichtssaal. Mehrmals fielen die Verhandlungen aus oder mussten unterbrochen werden, weil Angeklagte verhandlungsunfähig waren. »Die Haft macht die Angeklagten unglücklich und krank«, sagte Heinecke, als sie in der letzten Sitzung be­antragte, den Haftbefehl gegen ihren Mandanten aufzuheben. Bislang sei dies wegen Fluchtgefahr abgelehnt worden, da ihr Mandant – so die Begründung des Gerichts – aus Somalia stamme und sich mit Booten über größere Entfernungen im Seegebiet zwischen Somalia und Jemen bewege. Aber es bestehe keine Fluchtgefahr. Selbst die Aussicht auf eine hohe Strafe würde ihren Mandanten derzeit nicht dazu bringen, nach Somalia zurückzukehren. »Es dürfte kaum etwas geben, was so abschreckend ist wie die aktuelle Situation in Somalia«, so Heinecke mit Verweis auf die Hungersnot und den Abbruch des Kontakts des Angeklagten zu seiner Familie, die sich auf der Flucht befände.

Mehrere Anwälte gehen davon aus, dass ihre Mandanten aus Somalia Verstörungen und Traumatisierungen mitgebracht haben. Das ostafrikanische Land zählt zu den ärmsten der Welt, große Regionen sind geplagt von Armut, Dürre, Krieg und islamistischer Gewalt.
Im sich lange hinziehenden Prozess befragte das Gericht bislang den Kapitän der Taipan, niederländische Soldaten des Kriegsschiffs »Tromp«, einen Beamten des Bundeskriminalamtes sowie verschiedene Wissenschaftler als Zeugen und Sachverständige. Drei Angeklagte haben eine Tatbeteiligung gestanden und sich beim Kapitän der »Taipan« entschuldigt. Manche haben ihr Leben in Somalia geschildert, andere machen von ihrem Schweigerecht Gebrauch.
Auch der Frankfurter Anwalt Oliver Wallasch forderte die Kammer auf, das Verfahren gegen seinen Mandanten einzustellen und ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Die Angeklagten seien nicht innerhalb von 48 Stunden einem Ermittlungsrichter vorgeführt worden, nachdem sie im April 2010 von niederländischen Marinesoldaten der »Tromp« festgenommen worden waren – das verstoße nicht nur gegen nationales niederländisches und deutsches Recht, sondern auch gegen das Völkerrecht. Es gelte der Grundsatz der Unverzüglichkeit. Außerdem müsse der Gefangene sofort einen Rechtsbeistand hinzuziehen können, Vertraute müssten informiert werden. Auch der Grund der Festnahme müsse unverzüglich genannt werden. Würden diese Grundsätze wie im Falle seines Mandanten nicht eingehalten, dann handele es sich um Freiheitsberaubung im Amt, so Wallasch.
Während er den ausführlichen Antrag verliest, die Dolmetscher konzentriert übersetzen, wird es immer ruhiger im Saal. Die Stimmung ist gespannt, die Gesichter der Richter regungslos. Wallasch zitiert aus einem Schreiben des Auswärtigen Amts, worin es die Militäraktion der Niederländer außerhalb der dem Kampf gegen die Pira­terie gewidmeten EU-Militärmission Atalanta billigte. Es habe eine Abstimmung gegeben, weil die Belange Deutschlands betroffen waren und klar gewesen sei, dass den Festgenommenen oder den »Festgesetzten«, wie die offizielle Sprach­regelung lautet, allein in Deutschland der Prozess gemacht werden könne. Die rechtswidrige Festnahme verantworte die Bundesregierung, so Wallasch. Der Festnahmevorgang sei mit drei Minis­terien besprochen worden, wegen der geschilderten Problematik suchte man einen Ausweg über ein Auslieferungsverfahren. Die Männer wurden von dem Marinekommando zunächst an die Niederlande übergeben und Monate später an Deutschland ausgeliefert. So könne die überschrittene Frist nur den Niederlanden vorgeworfen werden.
Wallasch geht nicht nur auf die Strafprozessordnung und das Grundgesetz ein, sondern zieht auch völkerrechtliche Abkommen heran, etwa das Seerechtsübereinkommen und die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zur Bekämpfung der Piraterie. Hier seien stets zwischenstaatliche Belange berührt, die Souveränitätsrechte seien zu beachten. Eine Einschränkung von individuellen Grundrechten, wie sie die Angeklagten erlitten hätten, sei aber nicht vorgesehen, so der Anwalt. Auch der EU-Ratsbeschluss zur Operation Atalanta schweige zu den Individualrechten, auch hier seien insbesondere zwischenstaatliche Belange betroffen. »Eine Ermächtigungsgrundlage für Festnahmen ergibt sich auch hier nicht«, sagt Wallasch.
Fast alle Verteidiger schlossen sich dem Antrag an. Sollte das Gericht das Verfahren gegen die zehn mutmaßlichen Piraten nicht einstellen, wollen die Anwälte hochrangige Politiker in den Zeugenstand laden. Außenminister Guido Westerwelle (FDP), der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sowie zwei Staatssekretäre sollen dann nach dem Willen der Anwälte befragt werden.

Es dürfte unwahrscheinlich sein, dass nun der Piraterie-Prozess platzt. Die Problematik war bekannt, das Gericht dürfte sich vorab mit der Frage beschäftigt und sich – wie auch immer – abge­sichert haben, worauf auch der Richter Bernd Steinmetz in einer kurzen Bemerkung verwies. Zum einen ist das im Völkerrecht geltende Prinzip der Unverzüglichkeit dehnbar, zum anderen behaupten die niederländischen Militärs dreisterweise, dass sie die Beschuldigten gar nicht festgenommen, sondern lediglich »von einem Vernehmungsort zum anderen gebracht« hätten.
Größere Chancen dürften mittlerweile – auch wenn die Staatsanwältin bereits mit dürren Worten kundtat, dass weiterhin Fluchtgefahr bestehe – die Anträge für die Jugendlichen und Heranwachsenden haben, die die Aufhebung der Haftbefehle fordern, da die jungen Angeklagten außergewöhnlich lange in U-Haft sitzen und keine erzieherischen Maßnahmen, wie im Jugendrecht vorgesehen, unternommen werden. Zumindest für einen jugendlichen Angeklagten steht endlich ein Zimmer in einer Jugendwohnung bereit.
Der Prozessbeobachter Abdulahi Mohamud Qalimow findet es zwar sehr interessant, dass die Probleme und Ursachen im Verfahren vertieft behandelt würden, denn das habe es in anderen Piraterie-Prozessen nicht gegeben. »Auf der anderen Seite sitzen diese jungen Leute mehr als ein Jahr in Haft – sie werden verheizt«, so der Politologe. Am 15. August geht der Prozess weiter.