Zum Datenskandal in Sachsen

Wenn die Mafia nach Sachsen kommt

Unter rund 40 000 Personen suchen sächsische Ermittler nach einer »kriminellen Vereinigung«, weil sie an Kundgebungen oder Blockaden gegen den Naziaufmarsch in Dresden teilgenommen haben – oder nur im Gebiet der Proteste wohnen.

Begonnen hat alles vermutlich am 13. Februar 2010. Damals gelang es einem Bündnis aus antifaschistischen Gruppen, Parteien und zivilgesellschaftlichen Initiativen, den jährlich stattfindenden Dresdner Naziaufmarsch zu blockieren. So viel Engagement gegen Rechts war den sächsischen Landesbehörden offenbar ein Dorn im Auge, denn bereits im Januar 2010 beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft wegen des vermeintlichen »Aufrufs zu Straftaten« vorsorglich Plakate des Bündnisses »Dresden nazifrei«. Dennoch blockierten am 13. Februar 2010 mehr als 10 000 Menschen den Aufmarsch der Nazis.
Bis zu diesem Zeitpunkt fehlte dem Landeskriminalamt (LKA) und der sächsischen Staatsanwaltschaft noch die rechtliche Grundlage dafür, um das Bündnis »Dresden nazifrei« gründlich überwachen zu können. Deshalb wurde ein Verfahren wegen der »Bildung einer kriminellen Vereinigung« gemäß § 129 StGB eingeleitet. Bei einer Reihe nicht aufgeklärter Delikte wie Körperverletzungen an Neonazis gehen Polizei und Staatsanwaltschaft bisher weitgehend unbegründet von einem immer gleichen Täterkreis aus, zu dessen Umfeld, so die Mutmaßung, auch Akteure von »Dresden nazifrei« gehören könnten. Steht dieser Anfangsverdacht erst einmal im Raum, sind den Ermittlern auf der Grundlage von § 129 StGB nur wenige Grenzen gesetzt: Überwachung von Telefonen und vom Internetverkehr, Einsatz von Peilsendern, Funkzellenabfrage und Rasterfahnung – all das ist auf der Basis ­eines solchen Anfangsverdachts möglich.

Im Dresdner Fall ermöglichten die Ermittlungen aufgrund von § 129 StGB umfangreiche Maßnahmen zur Telekommunikationsüberwachung bei gegenwärtig 22 Beschuldigten sowie in deren Umfeld. Auf dieser Grundlage konnten die linke Szene in Dresden und die Aktivitäten des Blockadebündnisses seit etwa Mitte des Jahres 2010 systematisch durchleuchtet werden. Vorläufige Höhepunkte dieser Ermittlungen waren die Durchsuchungen von Wohnungen, Partei-, Vereins- und Anwaltsbüros im Februar, April und Mai dieses Jahres. Begleitet wurden sie von der Propaganda zahlreicher Medien gegen »linke Gewalttäter«.

Im Juni wurde bekannt, dass im Zuge von Verfahren wegen schweren Landfriedensbruchs am 19. Februar in Dresden eine sogenannte Funkzellenabfrage durchgeführt worden war. Insgesamt wurden dabei 138 630 Verbindungsdaten von verschiedenen Mobilfunkbetreibern für verschiedene Orte innerhalb der Stadt angefordert. Publik wurde diese massenhafte Datenabfrage erst, als die Polizei die vorhanden Daten in rechtswidriger Weise auch im Rahmen von Ermittlungsverfahren wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz nutzen wollte. Vermeintliche Blockierer der Nazidemonstration sollten so anhand ihres Handystandortes überführt werden. Zudem hat das LKA auf Grundlage der Ermittlungen nach § 129 StGB noch umfangreichere Funkzellenabfragen sowohl am 18. als auch am 19. Februar durchgeführt. Davon ausgehend, dass die mutmaßliche »kriminelle Vereinigung« auch bei den Protesten gegen den größten Naziaufmarsch Deutschlands aktiv werden könnte, wurden weitere 896 072 Verbindungsdaten von 257 858 Telefonen abgefragt. Allein im Februar wurden auf diese Weise etwa eine Million Datensätze von Demonstranten, Anwohnern, Journalisten und Politikern gesammelt, die sich in den abgefragten Funkzellen aufhielten. Nachdem zuerst die »Bestandsdaten« zu einem Telefonanschluss – also Name, Adresse und Geburtsdatum – in 460 Fällen abgefragt wurden, folgten in einer zweiten Abfrage bereits 40 723 Datensätze. Damit sind mittlerweile doppelt so viele Personen von den Ermittlungen gegen die mutmaßliche »kriminelle Vereinigung« betroffen, wie überhaupt an den Protesten gegen den Naziaufmarsch teilgenommen haben.
Nur durch Kleine Anfragen von Landtagsab­geordneten und journalistische Recherchen ist das ganze Ausmaß der Datenabfragen überhaupt öffentlich geworden. Der sächsische Innenminister Stefan Ulbig (CDU) sowie Justizminister Jürgen Martens (FDP) geben lediglich zu, was sich nicht mehr leugnen lässt. Dass niemand von den Abfragen gewusst habe, scheint indessen unwahrscheinlich, wurden sie doch beinahe routinemäßig vorgenommen. So wurde in den vergangenen Tagen bekannt, dass bereits bei Ermittlungen zu einem Brandanschlag auf Bundeswehrfahrzeuge im Jahr 2009 eine Funkzellenabfrage mit weiteren 1,1 Millionen Verbindungs- und 80 000 Bestandsdaten durchgeführt wurde. Diese sind bis heute bei der Polizei gespeichert, wenngleich die Ermittlungen bislang zu keinem Ergebnis geführt haben.

Aber auch im Zuge der laufenden Ermittlungen gemäß § 129 StGB hat man sich in mindestens zwei weiteren Fällen der Funkzellenabfrage bedient: einmal am Rande einer Anti-Nazi-Demons­tration am 17. Juni 2010 wegen einer Sachbeschädigung an einem Thor-Steinar-Laden, ein weiteres Mal während eines Stadteilfestes im August 2010 wegen Körperverletzung. In welchem Umfang hierzu Daten gesammelt wurden, ist derzeit noch unklar. Die Vermutung liegt nahe, dass hier eine rechnergestützte Rasterfahndung betrieben wird. Der bekannt gewordene mehrtägige Einsatz eines IMSI-Catchers um den 19. Februar scheint insofern nur folgerichtig. Mit Hilfe dieses Geräts können Handystandorte festgestellt und Gespräche live abgehört und mitgeschnitten werden.
Die sächsische Polizei sieht sich bei der exzessiven Überwachungs- und Ausspähungspraxis gegen prospektive linke Kriminelle im Recht. Den Grund gab der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Lorenz Haase, der Taz zu Protokoll: »Wer in Palermo gegen die Mafia ermittelt, braucht eben einen breiten Ermittlungsansatz.« Das Vorgehen gegen Antifaschisten und Antifaschistinnen in Sachsen nimmt immer bedrohlichere Züge an.