Judit Geller im Gespräch über Antiziganismus in Ungarn

»Wir hoffen, dass die Situation nicht eskaliert«

Im Frühjahr patrouillierten im ungarischen Gyöngyöspata wochenlang Bürgerwehren und andere rechtsextreme Gruppierungen (Jungle World 14/11 und 18/11). Von der Polizei ungestört, bedrohten sie die lokale Roma-Minderheit, bis Evakuierungen nötig wurden. Der amtierende Bürgermeister trat zurück. Bei den Neuwahlen wurde am 17. Juli Oszkár Juhász, der Kandidat der rechtsextremen Partei Jobbik, zum Bürgermeister gewählt. Gyöngyöspata ist nun der vierte Ort, der von Jobbik regiert wird. Jungle World sprach mit Judit Geller vom European Roma Rights Center (ERRC) in Budapest. Sie arbeitet seit 2007 für diese NGO, die die Situation der Roma in Europa beobachtet.

Die Einwohner von Gyöngyöspata haben Oszkár Juhász, den Kandidaten der rechtsextremen Jobbik-Partei, zum Bürgermeister gewählt. Was heißt das für das Leben im Dorf?
Jobbik hat es geschafft, noch mehr Unterstützung im Dorf zu bekommen. Und so ein Erfolg einer extrem rechten Partei ist sehr beunruhigend, da Jobbik Anti-Roma-Rhetorik und Begriffe wie »Zigeunerkriminalität« in den Mittelpunkt ihres politischen Programms stellt. Wir machen uns Sorgen wegen dieser Ergebnisse.
Jetzt gibt es einen rechtsextremen Bürgermeister. Werden die paramilitärischen Gruppierungen nun Teil der Kommunalpolitik?
Wir sind darüber besorgt, aber im Moment können wir nichts vorhersagen. Juhász hat bekräftigt, irgendeine Art von Garde aufstellen zu wollen. Ein Vorbild dafür gibt es im Ort Tiszvasvári, wo Jobbik bereits den Bürgermeister stellt. Aber noch ist nicht klar, wie sie das anstellen wollen. Wichtig ist, dass die Roma-Community beschützt wird. Vorfälle, wie es sie in Gyöngyöspata im März gab, dürfen sich nicht wiederholen. Damals forderten wir die Regierung auf, zu handeln und damit sicherzustellen, dass die Rechte der lokalen Roma auf Freiheit und die Unversehrtheit der Person sowie der Schutz des Familienlebens garantiert werden. Für uns ist grundlegend, dass die Minderheit vor der Tyrannei der Mehrheit geschützt wird. Also muss der Staat unmittelbar handeln und nicht erst verspätet, wie unter anderem in Gyöngyöspata. Nun gibt es schärfere Gesetze hinsichtlich der Bürgerwehren, die in Ungarn unter bestimmten Umständen legal sind. Die Gesetze sollen ihr Auftreten regulieren, sie hindern aber lokale Regierungen nicht daran, paramilitärische Gruppen oder Bürgerwehren auf­zustellen, die Roma einschüchtern oder schikanieren. Unsere Befürchtung ist, dass Jobbik-Bürgermeister solche Gruppierungen, die die Rechte der Roma verletzen, rechtlich absichern.
Aber ist die Lage der lokalen Roma nicht bereits schlecht?
Nach den Vorfällen im Frühjahr lebten die Leute in Angst, und das ist noch immer so. Sie sind in großer Sorge. Kürzlich sagten sie, dass sie überlegen, das Dorf zu verlassen, wenn der Jobbik-Kandidat gewählt wird. Es ist besorgniserregend, dass Leute darüber nachdenken, ihr Zuhause zu verlassen. Daher betonen wir, dass der Staat sich an die Vorschriften halten muss, die Minderheiten zu schützen wie auch die lokale Community. Wir hoffen, dass die Situation nicht eskaliert. Auch wenn wir wissen, dass die Spannungen zwischen Roma und Nicht-Roma schon jetzt sehr groß sind.
Bei der Bürgermeisterwahl im vergangenen Oktober kam Jobbik nur auf 5,8 Prozent. Am 17. Juli waren es 33,8 Prozent. Wie ist ein solcher Stimmenzuwachs zu erklären?
Das ist ein alarmierender Umstand, und leider unterstützt die Mehrheit der Leute tatsächlich das Auftreten der Paramilitärs und der Bürgerwehren. Sie halten sie für die Lösung. Alle demokratischen Akteure sollten die Situation analysieren und sehen, was passiert. Menschenrechtsgruppen erachten die Lage als äußerst bedenklich. Was Jobbik aus unserer Perspektive macht, ist, mit Anti-Rhetorik, mit Ausdrücken wie »Zigeunerkriminalität«, schon bestehende Differenzen zwischen den Gruppen zu verstärken, Öl in das Feuer zu gießen. Und damit erlangen sie noch mehr Stimmen und mehr Unterstützung. Wir sind skeptisch, wenn der neue Bürgermeister von Lösungen spricht und davon, dass Garden aufmarschieren. Wir hoffen, auch wenn wir ihm skeptisch gegenüberstehen, dass er ermöglicht, dass die Leute im Dorf in Harmonie leben, und dass er nicht die Spannungen noch weiter verschärft.
Neben dem Jobbik-Kandidaten trat auch Tamás Eszes an. Er tritt als Anführer der Neonazi-Gruppe Vederö (Schutztruppe) auf, deren paramilitärisches Übungscamp dafür sorgte, dass Roma über Ostern evakuiert wurden. Machen sich die beiden tatsächlich Konkurrenz?
Es behagt mir nicht, einen Vergleich zwischen den beiden politischen Akteuren vorzunehmen.
Gyöngyöspata ist der vierte Ort mit einem Jobbik-Bürgermeister. Wie wird in Ungarn darüber diskutiert, dass Jobbik bei Lokalwahlen Mehrheiten gewinnt?
Die Diskussion scheint sich darauf zu beschränken, wie und warum es zu den Wahlergebnissen kam und wie Jobbik seine Unterstützung ausbaute. Ich kann nur unser Anliegen anbringen und nicht das anderer. Wahlen sind die fundamentale Säule der Demokratie. Deshalb muss das Ergebnis respektiert werden. Aber in einer echten Demokratie kann die Mehrheit nicht ihren po­litischen Einfluss dazu nutzen, die Rechte der Minderheiten zu verletzen. Der Schutz der Rechte verletzbarer Gruppen und Garantien für ihre ­Sicherheit und ihr Wohlergehen sind die grundlegenden Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft. Wenn wir aber sehen, wie die extreme Rechte Feindseligkeit und explizit rassistische Einstellungen in ihrer politischen Praxis gegenüber Minderheitengruppen propagiert, ist das ein großes Risiko für die Demokratie.
Aber ist es grundsätzlich ein Thema, mit dem sich die Leute auseinandersetzen?
Die Leute sollten sich damit beschäftigen, weil die Zukunft der ungarischen Demokratie und der Gesellschaft auf die Kooperation zwischen Mehrheiten und Minderheiten angewiesen ist. Aber das ist eine andere Frage. Wenn die Medien Interesse daran finden, wird überall darüber diskutiert. Gegenwärtig wird zum Teil darüber berichtet, aber ich würde nicht sagen, dass viel darüber debattiert wird. Einer aktuellen Studie zufolge ist die ungarische Gesellschaft von starken Vorurteilen gegenüber Roma gekennzeichnet.
Gyöngyöspata kann als Erfolg der Rechtsex­tremen gesehen werden. Steht hinter den Ereignissen eine neue politische Strategie?
Zu der Zeit, als sie in Gyöngyöspata und auch Haj­dúhadház aufmarschiert sind, kündigten sie an, dass sie in anderen Dörfern weitermachen würden und dass es Teil ihres Projekts sei. Ich halte das für eine Art von Strategie.
Das heißt, dass ähnliche Aktivitäten in anderen Dörfern zu erwarten sind?
Wir hoffen, dass es nicht so weit kommen wird. Aber es kann leider passieren. Die paramilitärischen Gruppen kündigten es an, und sie werden von Jobbik unterstützt. Aber das ist eine Frage an sie, nicht an uns.
Jobbik spricht nicht mehr von »Zigeunerkriminalität«, sondern von »Zigeunerterror«. Wandelt sich da nur die Rhetorik oder ändert sich auch das Handeln der Rechten?
Das ist eine Eskalation in der Rhetorik, um mit weitverbreiteter Angst zu spielen. »Zigeuner­terror« ist eine rassistische Phantasie, wie auch die Idee der »Zigeunerkriminalität«. Man sieht, wie Jobbik explizit diese verschiedenen paramilitärischen Gruppierungen unterstützt. Letztlich manifestiert sich ihre Rhetorik in Handlungen. Und es wird sichtbar, wie die Jobbik-Partei ihr Konzept von »law and order« durchsetzt, um die Gemeinde vor »Zigeunerterror« zu »beschützen«. Dafür benutzt sie beide Phrasen. Rhetorik und Handeln sind aneinander gekoppelt.
Wird die ungarische Provinz zu einem Terrain für antiziganistische Paramilitärs?
Ich will nicht generalisieren. Der Nordosten Ungarns ist eine Region, die für Roma und Nicht-Roma von einer exorbitant hohen Arbeitslosenrate und von Armut geprägt ist. Die lokalen Roma sind darüber hinaus auch sozial-ökonomisch ausgeschlossen. Das alles sind Probleme, für die die Leute gerne eine Lösung fänden. Es sollte eine Diskussion über die Ursachen dieser Konflikte geben. Und auch die Regierung sollte die Ursachen dieser Probleme richtig angehen, statt nur Gesetze zu erlassen. Es muss dringend eine Lösung gegen soziale und ökonomische Diskriminierung gefunden werden.
Neben vielen anderen umstrittenen Maßnahmen äußerte die ungarische Regierung unter der rechtspopulistischen Fidesz die Absicht, den Ombudsmann für nationale und ethnische Minderheiten abzuschaffen. Ist es unter diesen Umständen überhaupt möglich, auf die Regierung zu setzen?
Wir müssen versuchen, mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Das ERRC äußert seine Bedenken und stellt sich als Anwalt für Roma zur Verfügung – immer dann, wenn es nötig ist, dass der Staat interveniert oder seine Maßnahmen erweitert. Wir bleiben dabei, unsere Forderungen an die ungarische Regierung zu adressieren. Dabei ist auch wichtig, dass es weiterhin einen eigenständigen Ombudsmann für die Belange der nationalen und ethnischen Minderheiten gibt.