Maria Ludassy im Gespräch über den nationalkonservativen ungarischen Premierminister Viktor Orbán

»Das Gegenteil einer Revolution«

Die in Budapest lehrende Philosophie-Professorin Maria Ludassy vergleicht die politische Situation in Ungarn mit der im Frankreich der Dreyfus-Affäre.

Der nationalkonservative ungarische Premierminister Viktor Orbán will die sozialistischen Vorrgängerregierungen strafrechtlich belangen und ihre Schuldenpolitik zum Verbrechen erklären lassen. Zu diesem Zweck sollen rückwirkend die Gesetze geändert werden. Bereits kurz nach ihrem Regierungsantritt im April hat die rechte Fidesz-Partei unter Orbán die ungarische Verfassung geändert. Der Premierminister versteht die Verfassungsänderung als Teil einer »nationalen Revolution«.

An welche geschichtliche Periode erinnert Sie die gegenwärtige Situation in Ungarn?
Viele nennen spontan die Horthy-Periode. Mich hingegen erinnert diese tiefe Spaltung der Gesellschaft an das Frankreich des Dreyfus-Prozesses im Jahr 1894. Damals standen die Anhänger des weißen Jakobinismus, des Chauvinismus – von ihnen haben wir das Wort –, auf der einen Seite, und auf der anderen unsere Vorgänger, Émile Zola und Jean Jaurès, die ein Bündnis von bürgerlich Radikalen und Sozialdemokraten bildeten.
Welche Positionen vertraten die Anhänger des weißen Jakobinismus?
Diese, ihrer eigenen Terminologie zufolge,­ Ultranationalisten und ultramontanen Katholiken wollten genauso viel Terror wie einst die roten Jakobiner, diesmal allerdings– wie Charles Maurras forderte – gegen »die jüdisch-freimaurerischen Verschwörer«, die die französische Nation angreifen würden. Der gegenwärtig in Ungarn häufig gebrauchte Satz »Die Verteidigung der Menschenrechte ist Landesverrat« stammt von Charles Maurras und wurde gegen diejenigen verwendet, die den offensichtlich unschuldigen jüdischen Hauptmann Dreyfus verteidigten und sich an die Nation oder an die Öffentlichkeit in Europa wandten.
Zählte es gar nicht, ob Dreyfus wirklich spioniert hatte oder ob er unschuldig war?
Nein, Maurras, der Chefredakteur von Action Française, war nicht daran interessiert oder auch nur bereit, darüber zu diskutieren, ob Dreyfus unschuldig war. Seiner Meinung nach hatten diejenigen, die sagten, der jüdische Hauptmann sei unschuldig, damit die französische Nation selbst angegriffen. Das ist der Geist der deux Frances, der zwei Frankreichs, der das Land in zwei feindliche Lager teilte, wo nur das eine die gute Seite vertreten konnte und das zweite, auch dann, wenn es die Mehrheit vertrat, nur die Verkörperung des Bösen sein konnte. Von Maurras stammen der Satz »Frankreich den Franzosen« und andere Parolen. Jeder, der nicht bedingungslos Anhänger der allein selig machenden und national deklarierten klerikalen, nationalistischen Macht ist, der ist fremd.
Ähnliche Formulierungen höre ich von Viktor Orbán. Auf die Kritik des Europäischen Par­laments an der neuen ungarischen Verfassung entgegnete er: »Es gibt einen Widerspruch zwischen der ungarischen und der linken Auffassung.«
Ich mag das Wort »links« nicht, denn im klassischen Sinn gilt der Liberalismus nur im Verhältnis zur nationalistischen, klerikalen Rechten als »links«. Aber wenn heute in Ungarn diejenigen, die die Regierung im Namen der Menschenrechte kritisieren, als »links« und als nicht mehr zu Ungarn gehörig bezeichnet werden, dann ist es wirklich besser, zu jenen zu gehören, die die französischen Protofaschisten der Action Française »Landesverräter« genannt hätten.
Meiner Meinung nach sind Regierungen und Verfassungen, was die Menschenrechte anbelangt, rechenschaftspflichtig, und wenn die Europäische Union etwas bedeutet, dann ist nicht der Neigungswinkel der Gurke wichtig, sondern die auch über den nationalen Verfassungen stehende Erklärung der Menschenrechte.
Wie kann das sich in Ungarn entwickelnde neue System charakterisiert werden?
Insofern es auch totalitäre Demokratien geben kann, kann Ungarn weiterhin als Demokratie bezeichnet werden. Zweifellos beruht die Macht der Regierung auf einer legitimen Wahl. Ihre Funktion hingegen ist die, die Tocqueville die »Tyrannei der Mehrheit« genannt hat. Unbestritten liegt der Ursprung der Macht innerhalb des parlamentarischen Systems. Aber die Verfassung verletzt die Grundlagen der Menschenrechte, indem sie Minderheitenrechte angreift, beginnend bei den kleinen Religionsgemeinschaften (Das neue Gesetz über die Religionsgemeinschaften erkennt nur 13 Religionsgemeinschaften an. Die Methodisten – obgleich in der Sozialarbeit sehr engagiert – wurden vom Staat nicht anerkannt; K.P.) über die sexuellen Minderheiten bis zu den Freidenkern. Wo Menschenrechte in Frage gestellt oder nur bedingt gewährt werden, dort existiert in meinen Augen kein Rechtsstaat.
Wann war der Wendepunkt?
Viktor Orbán erklärte mehr als einmal, dass jede Regierung, die er nicht selbst stellt, fremd sei. Eine derartige Qualifizierung der politischen Kräfte ist nicht legitim. Man kann sagen, Gyula Horn, ungarischer Ministerpräsident von 1994 bis 1998, sei postkádáristisch, populistisch, nur nicht, dass seine Regierung fremdartig sei. Denn das war eine legitim gewählte ungarische Regierung. Wenn jedoch eine an die Macht gelangte Regierung diejenigen aus der Nation herausdefiniert, die mit dieser Regierung nicht einverstanden sind, bedeutet dies das Ende des Rechtsstaats und des parlamentarischen Systems.
Warum? Wir haben doch ein Parlament, das mit ganzer Kraft arbeitet.
Als er mit seinen Gegnern abrechnete, sagte Robespierre im Jakobinerclub: »In Frankreich gibt es nur zwei Parteien, das Volk und die Feinde des Volkes.« Daraus folgt eindeutig, den Feinden des Volkes könne man nicht die Macht übergeben, denn sie seien Volksfeinde.
Und umgekehrt: »Die Heimat kann nicht in der Opposition sein«, wie Orbán in seiner Rede am 7. Mai 2002 erklärte.
Das ist das Gleiche. »Die Heimat, das bin ich« sagte Robespierre, als die Volkssektionen gegen ihn rebellierten. Zu seiner Ehre sei gesagt: Er hat ganz offen das parlamentarische System des englischen Typs abgelehnt, denn in England sei die Tugend in der Opposition, weil im Land die Sünde herrsche. Hingegen herrsche die Tugend in Frankreich – das heißt Robespierre, daher kann sich in der Opposition nur die Sünde befinden, deren Machtergreifung mit jedem Mittel verhindert werden muss. Man dürfe ihn nicht hindern, weil das Beihilfe zu einem Verbrechen sei. Man konnte ihn auch nicht niederstimmen, nur köpfen.
Zusammenfassend: Der rote und der weiße Jakobinismus verachten gleichermaßen die Demokratie, den Parlamentarismus und den demokratischen Wechsel. Für sie ist es ein »Kampf zwischen Gut und Böse«, der eben auch damit enden kann, dass das »Böse« an die Macht gelangt.
Ja, interessanterweise haben die weißen Jakobiner, die sich selbst Konterrevolutionäre nannten, das Gleiche gesagt wie Robespierre: dass die Geschichte gleichzusetzen sei mit dem Kampf des Guten gegen das Böse und dass die Restauration, als sie den Thron und die Macht des katholischen Klerus wiederherstellte, den Guten wieder zur Macht verholfen habe. Einer Oppo­sition, die das Böse verkörpert, kann man konsequenterweise keine Rechte geben. Deswegen endet logischerweise der Rechtsstaat, wenn in der Politik die Dichotomie des Guten und des Bösen erscheint. Um ein Beispiel zu nennen: Für Carl Schmitt, den Rechtsphilosophen des Dritten Reichs, war es das Freund-Feind-Schema, das alles Politische präge. Ähnliches geschieht bei uns in den öffentlichen Medien und auch im Philosophie-Institut, wo die regierende Partei sich natürlich auf ihre Freunde stützt und bemüht ist, den »Feind« zu verdrängen. Laut Carl Schmitt ist das die Quintessenz der Macht. Da­zu muss man nicht Rassist sein, jeder kann Feind sein, das Wichtigste ist, dass das Gegenüberstellen von »wir« und »sie« das Entscheidende wird in der Gesellschaft. Und diese Logik, wie immer wir das definieren, schließt den parlamentarischen Wechsel aus.
Erklären Sie bitte, weshalb die liberale Demokratie besser ist als andere Systeme.
Auch wenn in Ungarn der Begriff »liberal« zum Schimpfwort wurde, bekenne ich mich als liberal. Ich gehe davon aus, dass alle Menschen die Freiheit haben müssen, ihre Weltanschauung und Lebensform selbst zu wählen, solange dies nicht die Freiheit anderer beeinträchtigt. Diesem Geist der Moderne widerspricht, was in der Präambel der neuen Verfassung steht: dass meine Freiheit von meiner Pflicht zur Kooperation abhängt. Die ganze Theorie des Gesellschaftsvertrages gründet darauf, dass freie Menschen sich zusammentun, um eine Gesellschaft zu bilden. Das ist das Wesen und die Logik der Moderne, dass das Individuum nicht in eine Kaste, Klasse, Religion geboren wird, sondern dass ich mir eine Staatsform und eine Gemeinschaft wähle, zwischen den Gemeinschaften eine Re­ligion oder den Laizismus, oder dass ich weder das eine noch das andere wähle. Condorcet, ­einer der systematischsten Theoretiker der Menschenrechte, ein klassischer Denker des Libe­ralismus, meinte, dass es das unveräußerliche Recht eines jeden Menschen sei, dass er die ihm passende Einrichtung und Weltanschauung wählen könne. Als Pädagogin ist das auch für mich ein Modell. Auch die Menschen- und Bürgerrechte darf man Kindern nicht so lehren, als ob jene die Steintafeln von Moses wären. Man muss auch darüber diskutieren können. Wenn ich sie überzeuge, dann ist das gut, aber wenn nicht – und ich denke, ich kann Jobbik-Anhänger nicht überzeugen –, dann muss ich das zur Kenntnis nehmen. Auch im Namen der heiligsten Werte ist Indoktrination verboten.
Hier ein etwas grobes Beispiel: Wann immer ich in Kommentaren der Regierungspartei zur neuen Verfassung lese, dass dies alles der Wunsch der Nation sei, kommt mir Scarpia aus »Tosca« in den Sinn, der singt: Als ich jung war, habe ich den Frauen noch den Hof gemacht und sie erobert, jetzt aber genieße ich es mehr, wenn in den Augen der Frauen Ekel und Hass ist. Mir kommt immer diese Arie in den Sinn: Mein Gott, die genießen es, wenn ihre »Umarmung« von einem Teil der Nation mit Ekel und Hass empfangen wird. Nun gibt es eine Situation gemäß der jakobinisch-bolschewistischen Logik ­– die nicht von Rechten erfunden wurde –­, wonach die Beschlagnahmung der Güter einer Minderheit dem Gemeinwohl dienen kann. Condorcet bezog als Atheist gegen die Beschlagnahmung des kirchlichen Eigentums – eine damals populäre Maßnahme – Stellung. In dieser Frage unterscheidet sich der ­liberale nicht vom Standpunkt des klassischen Konservatismus. Das Eigentum ist heilig, man darf es wegen politischer Interessen nicht verletzen, und wenn es schon geschieht, dann nur gegen entsprechende Entschädigung. Die ganze Rhetorik, mit der die Regierung die Privatversicherungen verstaatlicht hat, wo sie als Zugabe noch diejenigen, die sie ausgeraubt hat, erniedrigt, das dreht mir den Magen um. So begann die Atmosphäre der Einschüchterung,.
Aber die Regierung behauptet doch, von der »Wahlkabinenrevolution« dazu ermächtigt worden zu sein?
Kann die Mehrheit die Ermächtigung dazu geben, die Menschenrechte niederzustimmen? Seit Tocqueville lehrt jeder seriöse europäische Denker, dass man die Menschenrechte auch in einer auf die Mehrheit gegründeten Demokratie nicht niederstimmen darf. Was kann man gegen die Tyrannei einer solchen Mehrheit tun? Ich kann es nicht akzeptieren, dass in Weltanschauungs- und grundlegenden Menschenrechtsfragen die Mehrheit das Recht hat, die Minderheit gänzlich zu entrechten. Das Gleiche gilt für die rückwirkende Gesetzgebung, das wurde schon im römischen Recht verboten. Haben unsere Juristen, die uns regieren, nicht die Geschichte des römischen Rechts studiert? Ha­ben die nie davon gehört, dass ohne Gesetz nicht ­gestraft werden kann? Dieses älteste Rechts­prinzip galt nur im asiatischen Despotismus und in den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts nicht. Man schämt sich, darauf hinweisen zu müssen.
Die Regierung erwähnt ständig die Heimat, mit der sie sich selbst identifiziert. Aber gehören nicht der ganze ungarische Liberalismus, die ungarische Aufklärung und Politiker des Reform, sogar der liberale Katholizismus zur Heimat? Warum sind diese bürgerlichen Tra­ditionen nicht Teil der Heimat?
Kehren wir zum Anfang zurück, als Sie von der Action Française als Vorbild des Orbán-Systems sprachen. Viele erwähnen auch das Rákosi-System.
Wenn ich von dem sehr alten Gefühl gepackt werde, »die können alles machen, und es ist schrecklich, dass sie das tun dürfen«, dann erinnere ich mich an ein Erlebnis als kleines Mädchen: 1949 wurde mein Vater verhaftet, 1950 wurde das Geschäft verstaatlicht, und 1952 wurden wir aus unserer Wohnung ausgesiedelt. Und bei älteren Freunden kommen schreckliche Erinnerungen an das Jahr 1944 auf. Welchen politischen Interessen dient die Rhetorik der Macht, die bei ihrer pathologischen Suche und Schaffung von Feinden die schrecklichsten Ängste des 20. Jahrhunderts wiedererweckt? Besonders traurig ist es, dass einer der Protagonisten des Systemwechsels dafür verantwortlich ist. Ich habe eine Chance gesehen, dass Orbán nicht wiederholt, was er während seiner ersten Ministerpräsidentschaft getan hat. Doch die erste Enttäuschung stellte sich ein, als er versuchte, das Institut zur Erforschung der Revolution von 1956 zu liquidieren.
Als Orbán 1989 den Abzug der sowjetischen Truppen am Heldenplatz forderte, war er ein junger Revolutionär. Seitdem hat er sich sehr verändert.
De Maistre, der ein ordentlicher Konterrevolutionär war, sagte, sie wollen keine Konterrevolution, sondern das Gegenteil einer Revolution. Orbáns Wahlkabinenrevolution ist in Wirklichkeit das Gegenteil einer Revolution, denn die Revolution bedeutet mehr Freiheiten, jene aber eine Politik der Einschränkung von Freiheiten. Und besonders traurig und tragisch ist es, dass beides von derselben Person gemacht wird.

Übersetzung aus dem Ungarischen: Karl Pfeifer

Das Interview erschien zuerst in der Budapester Wochenzeitung »Élet és Irodalom«. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.