Kommentiert den Fortgang der Krise

Das Löschfahrzeug als Brandherd

Mit der Krise der Finanzindustrie fing es 2008 an. Der Staat trat als Retter auf, nun befindet er sich selbst im Zentrum der Krise.

Dermaßen rasant sind die Aktienkurse seit der Pleite des Bankhauses Lehman Brothers im Herbst 2008 nicht mehr gefallen. Welt Online zufolge haben sich in der vergangen Woche weltweit Vermögenswerte von fünf Billionen Dollar in Luft aufgelöst. Nach der Herabstufung der Bonität von US-Staatsanleihen durch die Rating Agentur Standard & Poor’s dürfte es an den Finanzmärkten noch weiter bergab gehen.
Seit ihrem Aufstieg zur Basisindustrie des kapitalistischen Weltsystems in den achtziger Jahren musste die Finanzindustrie schon manchen herben Rückschlag hinnehmen. Das derzeitige Geschehen hat aber eine neue Qualität. Bei allen früheren Krisenschüben in den kapitalistischen Zentren übernahm der verschuldungsbereite Staat den Part des Löschfahrzeugs. Diesmal stellt das Löschfahrzeug von einst den Brandherd dar.

Diese Verschiebung des Ausgangspunkts der Krise kommt nicht von ungefähr, sondern ist das logische Resultat der früheren Krisenbewältigung. Ob New-Economy-Crash oder die große Finanzmarktkrise von 2008 – die Kapitalmärkte kamen ins Rutschen, weil sich die in ihren Renditeerwartungen enttäuschten Anleger massenhaft von zuvor hoch gehandelten privatwirtschaftlichen Hoffnungsträgern abwandten und aufhörten, die Aktien von »Zukunftsunternehmen« zu kaufen oder neue unsichere Hypothekenkredite zu gewähren. Es blieb den staatlichen Instanzen überlassen, eine drohende weltwirtschaftliche Abwärtsspirale zu verhindern. Die Zentralbanken stellten durch eine Politik des billigen Geldes die Voraussetzung für die Bildung neuer, noch größerer Finanzblasen her. Die öffentliche Hand bremste mit einer expansiven Ausgabenpolitik die Talfahrt der sogenannten Realwirtschaft und überbrückte durch die beschleunigte Ausweitung ihrer Verschuldung die Zeit, bis die Dynamik fiktiver Kapitalschöpfung mit einem neuen privatwirtschaftlichen Hoffnungsträger wieder auf Touren kam.
Nach dem Dot-Com-Crash von 2000 war dieser Vorgehensweise noch Erfolg beschieden. Zwei, drei Jahre schwächelte die Weltkonjunktur, dann waren Folgeblasen wie die US-Immobilien-Blase stark genug, um die Weltwirtschaft wieder wachsen zu lassen. Nach der Finanzmarktkrise von 2008 etablierten sich keine neuen privatwirtschaftlichen Hoffnungsträger mehr. Zwar ließ sich durch eine extreme Niedrigzinspolitik und die Verstaatlichung der Spekulationsverluste der Zusammenbruch der Finanzmärkte aufhalten und mit Konjunkturprogrammen die Realwirtschaft stabilisieren; die private finanzindustrielle Produktion blieb aber unter dem Niveau, das eine Begrenzung der Staatsverschuldung erlaubt hätte. 15 Billionen Dollar haben sich die Staaten der Welt die Bewältigung der Krise von 2008 kosten lassen, was die Gesamtverschuldung aller Staaten auf 39 Billionen Dollar dramatisch anwachsen ließ. Besserung ist nicht in Sicht. Die Staatsverschuldung ist selbst zur wichtigsten Blase der Finanzindustrie geworden, und genau die ist jetzt im Platzen begriffen.
Die Wirtschaftspolitik befindet sich in einem heillosen Dilemma. Einerseits muss die Ausdehnung der Staatsverschuldung weitergehen, um eine Deflation zu vermeiden. Gleichzeitig ist die Ankündigung einer baldigen Haushaltskonsolidierung unerlässlich, um die Kreditwürdigkeit des Staats zu simulieren. Diese Double-bind-Situation bildet den Hintergrund für die Panik, die seit voriger Woche die Finanzmärkte erfasst hat. Weder für Europa noch für die USA lässt sich entscheiden, was die Talfahrt der Aktienkurse mehr beschleunigt hat: die Furcht vor der deflationären Wirkung der angekündigten neuen Sparmaßnahmen oder die Sorge um die Bonität der staatlichen Schuldner.
Umso klarer ist, welcher Ausweg in dieser verfahrenen Situation noch bleibt. Auf sich gestellt hat die Wirtschaftspolitik zwar keine Spielräume mehr, aber noch eine geldpolitische Option. Die Zinsen können die Zentralbanken angesichts bereits extrem niedriger Leitzinsen zwar nicht mehr senken, dafür kaufen die Zentralbanken die Anleihen ihrer notleidenden Staaten auf. Damit eröffnen sie zum einen den Staaten neue Verschuldungsmöglichkeiten und verhindern zum andern zunächst die Entwertung der in der Finanzindustrie platzierten Staatspapiere. Der ideelle Gesamtkapitalist macht etwas, was kein anderer kann, er verschuldet sich bei sich selbst.

Vor einigen Jahren galt genau das noch als größter denkbarer Sündenfall wider die Geldwertstabilität. Nicht zu Unrecht: Eine Zentralbank, die statt rentierlicher Papiere Staatspapierschrott als Währungsreserve einlagert, verlagert die Krise auf ein neues Feld. Die Entwertung von Staatsschulden wird vertagt, an ihre Stelle tritt die schleichende Entwertung des Geldes. Der Schritt von der Krise der Staatshaushalte zur Krise des Geldmediums stellt die nächste logische Stufe des Krisenprozesses dar.
Der Kapitalismus überwindet seine Krisen, indem er die nächste größere vorbereitet. Das wusste schon Karl Marx. Noch nie ging die Verwandlung des Löschmittels der letzten Krise in den Brennstoff der nächsten Krisen derart rasant vonstatten wie heute.