Bildungsproteste in Chile

Ein Kochtopf voller Bildung

Die chilenische Regierung hat versucht, den Bildungsstreik gewaltsam zu beenden. Doch die Protestierenden fordern weiterhin eine grundlegende Reform von Schulen und Universitäten.

Zunächst ist es nur ein fernes Klopfen, das durch das Hoffenster ins Haus dringt. Dann kommt es auch von der Straße, wo Autohupen den Rhythmus aufnehmen. Doch vor allem sind es Kochtöpfe, die den Feierabendverkehr Santiagos übertönen. Auf den Fußwegen stehen Menschen, sie heben und senken die Arme. Andere trommeln bei ungemütlichen Temperaturen um die fünf Grad lieber vom Fenster aus mit. An einer Straßenecke hält ein Mann seine Tochter, die mit Holzlöffeln auf einen Plastikeimer schlägt, an der Kapuze fest. »Pass bloß auf, drei Straßen weiter haben sie mit einem Wasserwerfer ein Kind abgeräumt«, grummelt ihnen ein Obstverkäufer zu, als er seinen Laden absperrt. Der Mann scheint ihn nicht zu hören, nickt lachend im Takt zurück.
Das »Kochtopfkonzert« begleitete die Bildungsproteste am Donnerstag vergangener Woche. Der Versuch der Regierung, an diesem Tag zwei nicht genehmigte Demonstrationen mit Reiterstaffeln, Tränengas und Schlagstöcken aufzulösen, löste allgemeine Empörung aus. Selbst Kritiker des bereits mehr als zwei Monate andauernden Bildungsstreiks und der Besetzung vieler Oberschulen und Universitäten waren schockiert von der »Menschenjagd« im Stadtzentrum und der landesweiten Verhaftung von mehr als 800 Demons­trierenden.
Das Argument der Regierung, »eine kleine Bande arbeitsscheuer, nutzloser Subversiver« bedrohe die öffentliche Ordnung, zieht nicht länger. Vielmehr geraten die Urheber solcher Hetze, wie Senator Carlos Larrain von der konservativen Partei Nationale Erneuerung (RN), unter Rechtfertigungsdruck. »Dieser Wandel der öffentlichen Meinung ist wichtig«, bestätigt der studentische Sprecher Pablo Yañez von der Universidad de Chile. »Aber noch viel bedeutender scheint mir, dass in Chile der neoliberale Bann gebrochen ist, wonach Bildung als Ware begriffen wird.«
Die Forderung der Demonstrierenden, ein »Recht auf Bildung« gesetzlich festzuschreiben, ist jedoch mehr als ein symbolischer Akt. »Alle vereint die Idee, für eine gesetzlich verankerte Chancengleichheit zu sorgen«, sagt Marta, die an einer privaten Universität Jura studiert. »Heute haben viele Eltern schon Panik, dass aus ihrem Kind nichts wird, wenn sie es nicht in einen privaten, zweisprachigen Kindergarten mit Klavierunterricht schicken. Spätestens in der Oberschule findet eine Auslese statt, denn um sich an einer öffentlichen Schule für ein Studium zu qualifizieren, muss man schon ein kleines Genie sein.«
Die Finanzierung öffentlicher Schulen war bereits zur Zeit der Militärdiktatur den Kommunen auferlegt worden. Seitdem spiegelte die Qualität der Bildung direkt die Einkommensunterschiede zwischen den Gemeinden wieder. Sie ist dem Sozialwissenschaftler Alberto Mayol zufolge mancherorts mit der Schweiz, anderenorts eher mit Angola vergleichbar.

»Während der ›Revolution der Pinguine‹ vor fünf Jahren, als viele Oberschulen den Streik ausriefen, wurde bereits gefordert, die Finanzierung der Schulen wieder dem Bildungsministerium zu unterstellen, um diese Unterschiede zu beseitigen«, erinnert sich Javiera, die gemeinsam mit Marta Jura studiert. »Doch damals hatten wir keine so breite Unterstützung. Nun demonstrieren endlich auch die Studierenden, die Professoren und die Familien, weil sie sehen, dass sie die Zukunft wirklich beeinflussen können.«
Doch trotz der allgemeinen Euphorie büffeln die beiden Jurastudentinnen jeden Nachmittag auf dem Innenhof ihrer Universität für die jährliche Abschlussprüfung. Ihr Fachbereich hat klammheimlich wieder den Lehrbetrieb aufgenommen. Marta findet das gut, »denn wenn das zentrale Examen doch stattfindet, ich nicht vorbereitet bin und durchfalle, dann verliere ich meinen Bildungskredit und stehe mit fast 20 000 Euro Schulden da – ohne Abschluss«. Javiera kann ihre Kommilitonin verstehen, sie fühlt sich dennoch ein bisschen unwohl. »Ich habe dagegen gestimmt, denn wenn der breite Zusammenhalt für die Streikenden einmal bröckelt, ist die Regierung zurück im Spiel.«
Bisher jedoch sind die zahlreichen Versuche, die Proteste zu spalten, gescheitert. Weder die angekündigte Zahlung von vier Millionen Dollar noch die Versuche, streikenden Lehrern keinen Lohn mehr zu zahlen, zeigten Wirkung. Auch auf die Drohung, das Schuljahr als ungültig zu werten, reagieren vor allem die Schülersprecher weiterhin gelassen: »Wer hat mehr zu verlieren? Wir oder die Investoren privater Universitäten, die keine neuen Jahrgänge bekommen, wenn wir das Schuljahr tatsächlich wiederholen müssen?« Der letzte Kompromissvorschlag des Bildungsministeriums vom Freitag vergangener Woche wurde als unzureichend zurückgewiesen, da er die zentralen Forderungen der Protestierenden ignoriere. Die Studierendensprecherin Camila Vallejos stellte im Namen der Streikenden Bildungsminister Felipe Bulnes »ein sechstägiges Ultimatum, um ein neues Verhandlungsangebot vorzulegen«. Empört von diesem »undemokratischen Erpressungsversuch«, kündigte der Minister an, seinen Kompromissvorschlag dann eben ohne Dialog dem Parlament vorzulegen. Doch der Christdemokrat Gabriel Silver sagte, ohne den Zuspruch der Streikenden würde ein Bildungsprojekt nicht zur Abstimmung zugelassen werden.

Die angebliche »Unnachgiebigkeit«, die die Regierung der Protestbewegung derweil pausenlos vorhält, unterstreiche vielmehr »den politischen Unwillen, das aktuelle Bildungssystem um keinen Preis signifikant zu verändern«, meint der Student Yañez. »Dieses System besteht darin, öffentliche Universitäten chronisch unterzufinanzieren. Ungefähr 17 Prozent des jährliches Budgets der Universität von Chile kommen aus staatlichen Mitteln. Was fehlt, muss sich die Institution als Dienstleister auf dem freien Markt oder über hohe Studiengebühren holen.« Öffentliche und private Universitäten böten damit zu unterschiedlichen Zinssätzen ein Konsumgut auf Raten an, das in seiner Konstruktion selbst noch neoliberale Bildungsideen übertreffe, resümiert Mayol im Interview mit der linken Zeitschrift El Ciudadano. »Ich verkaufe etwas, die Leute müssen es kaufen, und dieses Produkt produziert dann Entwicklung, weil die Leute es kaufen. Das ist ganz schön freakig«, beschreibt er die dahinterstehende Logik.
»Bildung ist kein Gewinn« – der derzeitige Slogan auf vielen Transparenten stellt diese »freakige« Bildungsformel in Frage. »Private Non-profit-Universitäten, höhere Förderabgaben im Kupferbergbau oder eine Verstaatlichung der Produktion – für die Umsetzung unserer Forderungen gibt es viele Vorschläge«, meint Yañez. Viele Protestierende fordern ein Referendum, Verfassungsänderungen oder gar eine neue Verfassung. Auch die traditionelle Linke, die von den Protesten überrascht wurde, greift die Vorschläge des sozialen Bündnisses »Die Mehrheit entscheidet« inzwischen begierig auf. »Die Polarisierung und die Unfähigkeit der politischen Institutionen verlangen nach mehr als einer Notlösung. Wir sind für ein Plebiszit«, befand Osvaldo Andrade, Präsident der Sozialistischen Partei (PS).
Dem Präsidenten Sebastian Piñera haben die Proteste das einjährige Jubiläum der »größten Rettungsaktion der Geschichte«, der Bergung von 33 Bergleuten aus einer Kupfermine, verdorben. Umfragen zufolge halten fast 70 Prozent der Chilenen die Aussagen ihres Staatsoberhaupts für unglaubwürdig. »Alles hat eine Grenze«, kommentierte Piñera in der vergangenen Woche noch die Repression gegen die Studierendendemos. Vielleicht lag er diesmal unfreiwillig richtig.