Detlef Hartmann im Gespräch über Griechenland als Krisenlabor und soziale Kämpfe

»Griechenland dient als Soziallabor«

Seit den siebziger Jahren verfolgt Detlef Hartmann, zuerst als Mitarbeiter der Zeitschrift Autonomie und später als Autor zahlreicher Bücher und Artikel, intensiv die Veränderungen innerhalb des kapitalistischen Regimes und die sozialen Kämpfe dagegen. In der von ihm mitherausgegebenen Reihe »Materialien für einen neuen Antiimperialismus« hat er nun gemeinsam mit John Malamatinas eine Analyse über das »Krisenlabor Griechenland« (Verlag Assoziation A) vorgelegt. Die Autoren gehen davon aus, dass die Auseinandersetzungen dort als »Labor für die Reorgani­sation des Großraums Europa« unter deutscher Führung anzusehen seien. Mit der Jungle World sprach Detlef Hartmann über diese These, aber auch über die Aussichten der sozialen Auseinandersetzungen.

Sie sprechen in Ihrem gerade erschienenen Buch von Griechenland als einem »Krisenlabor«. Was meinen Sie damit?
Die endlosen Debatten darüber, wie man Europa finanztechnisch gegen die »Krankheit« der »Pleitegriechen« retten kann, sind weitgehend Oberflächenspektakel, wenn der situationistische Ausdruck erlaubt ist. Im Kern geht es weltweit um die Zerstörung und Transformation aller Lebensbereiche weit über das reine Sparen hinaus, für die die in Griechenland beschlossenen Maßnahmekataloge, die jede Seite des Lebens betreffen und bis hin zur praktischen Aufstandsbekämpfung reichen, exemplarisch sind.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer schon länger sichtbaren Tendenz, die Gesellschaft »in ihren alten Formen zu zertrümmern und zu reorganisieren«. Das klingt so, als gebe es da bewusste Akteure. Wer ist das Ihrer Meinung nach?
In dieser umfassenden Offensive, in die sich die US-amerikanische Notenbank Fed absichtlich als tragender Akteur eingebracht hat, wurde seit den Neunzigern mit der Entfesselung der IT-Industrien zugleich die schockartige Zerstörung der tradierten Kapitale und Arbeitsformen betrieben. Die alten Produktionssektoren wurden ins Ausland verlagert, die alten Arbeitsformen als Lebensgrundlage der damaligen Mittelschichten systematisch zerstört. Leitbegriff war die »job destruction«. Der Fed ging es ausdrücklich darum, der Arbeiterklasse bis in ihre Lebensformen und -garantien einen nachhaltigen Schock zu verpassen, der sie zunächst in die Service-Sektoren und auf Jahre in die Defensive treiben würde. In »Silicon Valley« mit seinen neuen IT-Eliten und den sie bedienenden Servicestrukturen zeigte sich erstmalig das soziale Gefälle, das hier zwischen neuen Herren und neuen Sklaven hergestellt werden sollte. Der Historiker Charles Maier hat hierin den zentralen Aspekt der sozialräumlichen Reorganisation der Klassenverhältnisse unter den Schockstrategien der neuen Offensive gesehen, die weltweit kopiert wurden.
Und jetzt dient Südeuropa als Versuchsanordnung zur Vertiefung der Schockstrategie?
Diese Offensive wird mit dem in der Schuldenkrise entwickelten Machtinstrumentarium ins Innere Europas verlängert. Griechenland dient dabei als Soziallabor. Es könnte sein, dass sich ein neuer »Korporatismus« als Arrangement zwischen Kapital, Arbeit und Staatlichkeit in eben den Kooperationsformen zwischen regionalen Eliten, neuen IT-Schlüsselindustrien und dies fördernder staatlicher Aufsicht ausformt. Es ist eindeutig, dass sowohl US-Präsident Barack Obama als auch die europäische Kommandoebene aus EZB, IWF, Brüsseler Eliten und Finanzmärkten dies im ­Visier haben.
Die Grundlage Ihrer Sichtweise scheint mir in Ihrer vom Operaismus herrührenden Analyse gesellschaftlicher Dynamiken zu liegen. Objek­tivistischen marxistischen Krisentheoretikern, die die Überakkumulation von Kapital ins Zen­trum der Zusammenbrüche seit 2001 stellen, werfen Sie vor, »den Klassenkampf vor allem auf dem Gebiet produktiver Unterwerfungsstrategien« und die Widerstände dagegen nicht in den Blick zu nehmen.
Marx hat als junger Revolutionär einen guten Begriff davon gehabt, wie die Kämpfe der Arbeiter gegen die »Destruktionskräfte (Maschinen und Geld)« stets neue Formen von Gesellschaftlichkeit und Auseinandersetzungen hervorbringen – von oben wie von unten. Was wir »Kategorien von Wirklichkeit« nennen, sind also »historische, vergängliche, vorübergehende Produkte« (Marx). Insofern stellen wir die Kämpfe selbst ins Zentrum der Darstellungen. Die produktiven Unterwerfungsstrategien und das soziale Kommando, mit denen das Kapital den sozialen Krieg führt, treffen immer wieder auch auf Widerstände und neue Formen von Selbstorganisation, denen das Kapital wieder mit neuen Inwertsetzungsstrategien, Unternehmertypen, Technologien und Managementmethoden zu begegnen sucht.
Gab es also gar keine Verwertungsprobleme des Kapitals?
Sicher standen Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals am Anfang der Innovationsoffensive, die jetzt in die Krise geraten ist. Aber sie beruhten auf den umfassenden und komplexen Kämpfen in den sechziger und siebziger Jahren nicht nur in der Fabrik, schon gar nicht nur in der metropolitanen Fabrik. Der Fordismus war der Inbegriff einer Inwertsetzungsoffensive, die von der Fabrik über die Stadtplanung bis in die Schulpolitik und Kleinfamilienknäste reichte. Der weltweite Widerstand trieb den Fordismus in die Krise. Er reichte von der »Revolution der Erwartungen« in den drei Kontinenten bis hin zu den proletarischen und über die Klassen im engeren Sinn hinausreichenden Formen der Verweigerung, dieses Scheiß­leben der Fabrikgesellschaft überhaupt noch hinzunehmen. Das Kapital hat dann den militanten Aspekt der »Selbstverwirklichung« aufgegriffen, um ihn zum Ausgangspunkt von Zwängen neuer IT-konkrollierter Selbstinwertsetzung, Selbst­optimierung und Selbstverwertung zu machen. Diese seit Mitte der neunziger Jahre systematisch betriebene Innovationsoffensive soll nach ihrer krisenhaften Blockierung nun mit den Strategien der »Schuldenkrise« wieder aufgegriffen und vorangetrieben werden. Das Kapital sucht sich also auf historisch neuem Niveau zu reorganisieren.
Könnte man also sagen, dass insbesondere die »Politik des billigen Geldes« seitens der Fed und die sehr lockere (Immobilien-)Kreditvergabe auch den Widerstand seitens der Bevölkerungen in den alten Industrieländern abfangen sollen, weil trotz der Verringerung der Lohnquote in all diesen Ländern kreditfinanziert der Lebensstandard gehalten oder teilweise noch gesteigert werden konnte?
Das kann man durchaus sagen. Sogar der ehemalige IWF-Chefökonom Raghuram Rajan hat den kompensatorischen Charakter der »Easy credit«-Politik gegenüber den Unterklassen angeprangert.
Sein bekanntes Zitat: »Lasst sie doch Kredite essen!«
Genau. Gleichzeitig ist die Verschuldung aber auch der Hebel, mit dem der Zugriff auf die zukünftigen Arbeitsressourcen durchgesetzt werden soll, und dies sowohl in gesamtgesellschaftlicher als auch individueller Hinsicht. Die Fed hat beispielsweise unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die Kreditpolitik nur als Teilaspekt einer umfassend angelegten Offensive zur Zerstörung und Reorganisation aller sozialen Zusammenhänge betreibt.
Und hier halten Sie die »griechische Krankheit« für exemplarisch?
In Griechenland wurden die reichen Selbständigen gemästet, während die Unterklassen mit Krediten gefüttert und mit kreditgestützten staatlichen Arbeitsmöglichkeiten und Sozialleistungen abgespeist wurden. Über diese kreditgespeiste Nachfrage haben sich vor allem deutsche Unternehmen bereichert und eine Entwicklung zum Abschluss gebracht, in der tragfähige produktive Strukturen in Griechenland endgültig erodiert sind. Hierfür war die Aufnahme in die EU und später in die Währungsunion von entscheidender Bedeutung.
Der tiefere Grund liegt jedoch darin, dass die schuldengespeiste Reorganisation des globalen Kapitals mit den neuen amerikanischen Schlüsselindustrien an der Weltspitze und ihrer schockartigen Steigerung der Produktivität weltweit tradierte Verwertungs- und Arbeitsformen entwertet hat. Dieser Entwertungsprozess ist typisch für fundamentale kapitalistische Innovationswellen und war auch in der Entwicklung des Fordismus schon vor dem Ersten Weltkrieg zu beobachten. Man kann den »Niedergang der PIIGS-Länder« darum nicht isoliert betrachten. Aufgrund dieser schockartigen Entwertung steigen natürlich vor allem diejenigen Länder ab, die von tradierten Arbeitsformen geprägt sind. Hier gibt es große regionale Unterschiede, wie das Verhältnis der nördlichen zu den südlichen Regionen Italiens zeigt.
Sind die enormen Transferkosten da eher ein Druckmittel oder Hypothek für die anderen EU-Staaten bei ihrem Versuch, zum »dynamischsten Wirtschaftsraum« der Welt zu werden, wie es im Vertrag von Lissabon formuliert ist und der ja zunächst voll gescheitert ist?
Die Transferkosten werden ja nur bedingt geleistet, das heißt unter der Bedingung, in den je eigenen Ländern den Druck der Schuldenkrise in soziale Zerstörungen und Transformation umzusetzen. Nicht nur Angela Merkel, Nicolas Sarkozy, die EZB und die Brüsseler Eliten beschreiben dies als »Chance«, sondern auch der griechische Ministerpräsident Giorgos Andrea Papandreou. Im August vorigen Jahres sagte er: »Das Land wird entweder jetzt reformiert und modernisiert oder nie.« Ob und wie sich aber die damit verbundenen Transferkosten amortisieren, ist eine offene Frage. In der Geschichte wurde sie regelmäßig durch Gewalt und Krieg beantwortet. Krieg auch zur Erweiterung und Vertiefung der Inwertsetzungs- bzw. Nachfragespielräume.
Sie begreifen in Ihrem Buch die Krise als Chance für die »politische Klasse Deutschlands«, die »Zwänge eines neuen kapitalistischen Kommandos in einem ›deutschen‹ Europa umzusetzen«. Welche Rolle spielt Deutschland?
In Europa ist es vor allem die politische Klasse Deutschlands, die sich an die Spitze von Zerstörung und Transformation stellt. Die historischen Analogien drängen sich auf. Zu den Kommandohöhen der Innovationsoffensive vor dem Ersten Weltkrieg, der Kriegsökonomie und später im Nationalsozialismus. Letztlich beruht dies auf den historischen Entsprechungen von Zyklus und Krise.
Denken wir etwa an die entlarvende Formulierung von Altbundespräsident Richard von Weiz­säcker: »Vergessen wir nie: Europa hat über Jahrhunderte hinweg nur zwei Versuche seiner Einigung erlebt. Beide waren gewaltsam. Einmal war es Napoleon, dann Hitler. Und jetzt, seit 50 Jahren, ist Europa endlich soweit, Stabilität mit friedlichen Mitteln gemeinsam anzustreben.« Fried­liche Mittel? Der Kosovo-Krieg wurde als europäischer Einigungskrieg angesehen, unter anderem von Kanzler Gerhard Schröder. Und vor gut einem Jahr hat die Bild-Zeitung dies durchaus richtig visualisiert, als sie in einer Fotomontage Merkels Kopf auf das Hamburger Bismarck-Denkmal setzte. Merkel hat in ihrer unaufgeregten Art diese hegemoniale Usurpation mehrfach zum Ausdruck gebracht. Und im Ausland ist – wir haben dies zitiert – die Angst vor der Rückkehr der »deutschen Frage« vielfach und sehr bestürzt thematisiert worden.
Wie sähe so ein »deutsches Europa« aus? Sie reden an anderer Stelle von einer »Übertragung der Agenda 2010 auf die EU«. Ist das angesichts des weitgehenden Fehlens rentabler produktiver Sektoren in Griechenland überhaupt ein denkbares Szenario, schließlich beinhaltet die Agenda-Politik ja gerade weniger eine Senkung der Staatsausgaben als vielmehr die Absenkung der Löhne und die Schaffung eines Billiglohn-Segments.
Die Formulierung »deutsches Europa« ist etwas schief. Es geht um kapitalistische Reorganisation unter deutscher Hegemonie; es geht um Kapitalismus, nicht um Deutschtum. Aber die Rede von der deutschen Führung, Disziplin und Effizienz gibt diesem Prozess natürlich ihre spezifische Einfärbung. Sie haben Recht, Absenkung der Löhne und Schaffung eines Billiglohnsegments gehören dazu. Wir wissen aber, dass dazu auch Strukturpolitik gehört. Es soll ein umfassender Zugriff auf die neuen Wertressourcen des »Humankapitals« im Rahmen der Herstellung neuer regionaler europäischer Cluster in Konkurrenz vor allem zu den USA vorangetrieben werden, zu dem, wie schon gesagt, die Entwertung nachgeordneter Arbeitskraft, wie etwa Leiharbeit und Billiglohn-Segmente gehört.
Für wie erfolgreich halten Sie die deutsche Politik dabei aktuell? Immerhin werden Euro-Bonds, die auch die Kreditflüsse nach Deutschland verteuern würden, nicht mehr völlig ausgeschlossen.
Es wird immer wieder irrtümlich berichtet, dass die deutsche Politik und im besonderen Wolfgang Schäuble und Angela Merkel dogmatisch auf bestimmte Punkte fixiert seien. Beide haben immer wieder deutlich gemacht, dass der zentrale Punkt die Sparbereitschaft und die Unterwerfung unter strukturpolitische Diktate sind. Wie Merkel noch kürzlich verlauten ließ, müsse der Druck bleiben, damit sich die betroffenen Länder und ihre Menschen im Sinne der Transformationspolitik »anstrengen«. In dieser Agenda stellt die Frage der »Euro-Bonds«, oder die Frage des Ankaufs von »PIIGS«-Bonds durch EZB oder EFSF, eine bewegliche Variable dar. Das zeigt auch wieder das Brüsseler »Statement« vom 21. Juli, das auf die neue Krisensituation antwortet. Es wiederholt alle schon im Jahre 2010 entwickelten Strategierichtlinien. Zentraler Punkt bleibt die »Bindung an die Konditionalität« der Spar- und Transformationsbereitschaft. Wie wenig dogmatisch Merkel ist, hat sie schon im Mai letzten Jahres mit ihrer Zustimmung zum Kauf griechischer Bonds auf dem Sekundärmarkt durch die EZB gezeigt. Es geht ihr vor allem um die Aufrechterhaltung von größtmöglichem Druck und Zwang, die Mittel sind sekundär. An dieser Machtsituation hat sich auch durch die Beschlüsse vom 21. Juli wenig geändert.
Ihr Buch beginnt mit einer Skizze des Widerstands in Griechenland. Warum?
Letztlich gilt unser Interesse der Perspektive von unten, die Kritik der politischen Ökonomie nach marxorthodoxem Schema reicht dazu nicht aus. Es geht um die neuen Vorstellungen von »Welt«, die sich in den aktuellen Kämpfen vom Maghreb über Südeuropa bis China herstellen und übergreifende Konturen gewinnen. Und die beginnen auch, ein übergreifend zusammenwachsendes Bewusstsein zu entwickeln, wie sich in der weltweiten Bezugnahme etwa auf »Tahrir« zeigt. Wir erleben eine Neukonstitution eines möglicherweise revolutionären Kampfzusammenhangs, ja gar einer staatsübergreifenden interkontinentalen Bewegung. Und dem spüren wir nach. Vor allem in Griechenland. Denn dort findet der heißeste Konflikt in Europa statt. Und er strahlt aus.
In Deutschland merkt man davon derzeit allerdings wenig …
Das stimmt leider. Die Linke hierzulande scheint gelähmt. Sie schreckt davor zurück, sich von den Kämpfen in Griechenland, Spanien, Italien und der arabischen Welt inspirieren zu lassen und sie als eigene zu begreifen. Vorherrschend ist die weitgehend teilnahmslose Beobachtung, ohne den Austausch mit den Kämpfenden in der ganzen Welt zu wagen. Warum finden so wenig Diskussionen über konkrete Solidarität statt? Sind es die Vorteile der deutschen Situation – die momentan allgegenwärtige Selbstbeweihräucherung als »Krisengewinner« im europäischen und globalen Gefälle und der daraus resultierende Opportunismus? Der Verfall der Sozialdemokratie in den Reformismus vor dem Ersten Weltkrieg hatte solche Gründe. Der Verfall der radikalen Linken hierzulande in einen Neoreformismus erscheint uns als das ganz große Problem der Entfaltung der Kämpfe hier. Besonders die strategische Rolle Deutschlands wird außer Acht gelassen, seine Rolle als Antreiber im Prozess der kapitalistischen Intensivierung. Die zentrale Frage dabei bleibt aber: Was tun wir?
Was wäre denn zu tun? Meinen Sie nicht, dass vor allem die benannten Konflikte in Europa rein defensiven Charakter tragen?
Das ist keine »defensive« Stellung, es ist eine durchaus offensive Manifestation der Herstellung einer Gesellschaftlichkeit von unten. Es ist das Kapital, das defensiv ist. Es kann Gesellschaftlichkeit, es kann Subjektivität überhaupt nicht herstellen. Wir dürfen diese Kämpfe nicht aus der Stimmung einer durchaus opportunistischen neoreformistischen Linken bei uns in Deutschland beurteilen. Wir haben offenbar große Schwierigkeiten, die Lust des Politischen in der revolutionären Selbstorganisation der sozialen Verhältnisse, wie sie sich in Tunesien, Ägypten, Griechenland und Spanien manifestiert haben, in uns selbst zu entfachen und uns an sie anzuschließen. Aber die Herstellung einer solchen Lust auch im Herzen der Bestie ist die Voraussetzung für eine globale revolutionäre Perspektive. An ihr müssen wir arbeiten.