Über Depression und Burn-out

Lebenskummer ist kein Luxus

Die mediale Beschäftigung mit den Themen Depression und Burn-out konzen­triert sich zumeist auf betriebswirtschaftliche Fragen und besserverdienende Erkrankte. Geschlechtsspezifische und soziale Unterschiede sowie andere spezifische Depressionsformen finden wenig Beachtung. Eine Behandlung psychischer Erkrankungen ist jedoch nicht nur im Sinne der ­Unternehmen.

In jüngerer Zeit wird in Wochenzeitschriften wie dem Spiegel, aber auch auf den Wissenschaftsseiten von Tageszeitungen wie der Süddeutschen Zeitung vermehrt über die »Volkskrankheit Depression« oder das »Burn-out-Syndrom« berichtet. Beide Erkrankungen seien auf dem Vormarsch. Einer Studie der Krankenkasse Barmer GEK zufolge hat sich die Zahl der Depressionskranken, die einen stationären Aufenthalt in Anspruch nahmen, in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, zudem sei das Rückfallrisiko sehr hoch. Auch ein Jahr nach der Entlassung fanden sich bei fast 60 Prozent der Befragten noch Symptome einer mittelschweren bis schweren Depression. Interessant sind auch die ebenfalls im Spiegel besprochenen Studienergebnisse, denen zufolge Menschen in reichen Ländern häufiger unter Depressionen litten als Menschen in Ländern mit mittlerem oder niedrigem Einkommen. In Frankreich, den USA und den Niederlanden geht es den Menschen, so das Ergebnis der internationalen Studie eines Teams um Evelyn Bromet von der Stony Brook State University of New York, am schlechtesten, während die Depressionsrate in China besonders niedrig ausfiel. Auch das urbane Leben kommt schlecht weg. In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung wird auf eine Studie des Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit aufmerksam gemacht, der zufolge sich der erhöhte Stress bei Städtern auch in deren Hirnstrukturen erkennen ließe. Städter hätten zudem ein um 21 Prozent höheres Risiko, an Angsterkrankungen, und ein um 39 Prozent höheres Risiko, an Depressionen zu erkranken, als die Landbevölkerung. Was auch immer man von diesen Ergebnissen halten mag, sie verdeutlichen in jedem Fall die Virulenz des Themas.

Bei Burn-out und Depression handelt es sich um schwere, hochgradig gesellschaftlich bedingte Erkrankungen, die eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen. Beide Erkrankungen können sich in Symptomen wie einer gedrückten Stimmungslage, sozialem Rückzug, Schlafstörungen, Libidoverlust, Reizbarkeit und Nervosität sowie diversen somatischen Symptomen äußern. Während Burn-out als Erschöpfungsdepression einen klaren äußeren Auslöser in Form von lange andauerndem Stress, stetiger Überforderung und der Verleugnung eigener Bedürfnisse hat, sind die Auslöser für eine Depression nicht immer einfach festzustellen. Beide Erkrankungen stellen betriebswirtschaftlich große Probleme dar, denn Fehlzeiten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder gar Führungskräften verursachen einem Unternehmen immer hohe Kosten. Zumal diese Erkrankungen nicht von heute auf morgen verschwinden, sondern in besonders schlimmen Fällen sogar stationär über mehrere Wochen behandelt werden müssen. Wenn ein Krankheitstag ein Unternehmen durchschnittlich 400 Euro kostet, wie der Spiegel vorrechnet, wird das schnell richtig teuer. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass den psychischen Erkrankungen, allen voran dem Burn-out und der Depression, hinsichtlich Behandlung und Früherkennung ein wachsendes Interesse, insbesondere von Personalchefs, entgegengebracht wird.
Wenn man den jüngsten Spiegel-Artikel liest, könnte man allerdings den Eindruck bekommen, dass das Phänomen des Burn-out hauptsächlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von großen Firmen wie Adidas oder Mercedes-Benz beträfe oder die Führungsebene, also ehemalige Politiker oder Chefärzte. Burn-out wurde jedoch zuerst in den siebziger Jahren bei den helfenden und pflegenden Berufen diagnostiziert – es kann natürlich auch Beschäftigte jeder anderen Berufsgruppe betreffen. Derzeit sind es die sozialen und helfenden Berufe, in denen diese Krankheit am häufigsten auftritt. Das erklärt auch den beachtlichen Unterschied hinsichtlich der Geschlechtszugehörigkeit der psychisch Erkrankten. Frauen sind viel häufiger als Männer in schlecht bezahlten und anstrengenden Berufen mit wenig sozialer Anerkennung, aber viel persönlichem Einsatz anzutreffen und dementsprechend häufiger vom Burn-out betroffen. Die Verschiebung der medialen Aufmerksamkeit von der überforderten Krankenschwester zum ausgebrannten Manager lässt sich zum einen durch betriebswirtschaftliches Interesse erklären, zum anderen lässt sich der Niedergang von Erfolgreichen – neben Führungskräften seien hier auch Spitzensportler oder Menschen im Showbusiness erwähnt – medial besser inszenieren, inklusive der anschließenden Genesung, wie Alexandra Borchart in einem erfreulich kritischen Artikel zum Phänomen Burn-out in der Süddeutschen Zeitung dargestellt hat. Sie weist zudem auf den interessanten scheinbaren Widerspruch hin, dass sich die Arbeitsbedingungen in Deutschland seit den fünfziger Jahren für die Beschäftigten in der Regel vielfach verbessert hätten und es trotzdem zu einem Anstieg der Burn-out-Erkrankungen gekommen sei. Bei kürzeren Arbeitszeiten sind Arbeitsbedingungen und Schutzbestimmungen deutlich menschenfreundlicher geworden. Allerdings hat sich die Abgrenzungsfähigkeit vieler Beschäftigter gegenüber ihrem Job verschlechtert. Die ständige Erreichbarkeit via Handy oder E-Mail auch an den Wochenenden oder im Urlaub gehört heute in vielen Unternehmen zum guten Ton, wenn sie nicht gar als Selbstverständlichkeit gilt. Außerdem sind die Arbeitsplätze unsicherer geworden, der individuelle Druck und mit ihm die Existenzängste der Einzelnen sind gestiegen. Dass unter solchen Bedingungen psychische Erkrankungen häufiger werden, verwundert nicht. Oder werden sie nur vermehrt diagnostiziert? Auch diese These wird immer wieder einmal in der Presse diskutiert. Für Depressionen gilt wohl allerdings das Gegenteil. Hier gehen Experten von einer hohen Dunkelziffer aus.

Völlig unterdiagnostiziert sind beispielsweise sogenannte Altersdepressionen. Menschen, die ein Leben lang im Beruf standen, sich gebraucht und nützlich fühlten und durch ihre Arbeit soziale Kontakte und Austausch mit anderen hatten, kommen mit dem plötzlichen Übergang in den Ruhestands nicht klar. Nicht selten folgen eine Sinnkrise und das Gefühl, »auf dem Abstellgleis zu stehen«. Hinzu kommen die im höheren Alter vermehrt auftretenden körperlichen Gebrechen und Beschwerden, die ebenfalls eine Depression auslösen können, sowie die zunehmende Einsamkeit und Isolierung. Ähnliche Probleme betreffen auch Arbeitslose, unter denen Depressionen sehr verbreitet sind.
Ebenfalls stark unterdiagnostiziert ist die postpartale Depression, von der neueren Studien zufolge bis zu einem Viertel aller Mütter betroffen sind. Eine unglückliche Mutter stellt eben gesellschaftlich noch immer ein großes Tabu dar. Und – um es zynisch zu formulieren – betriebs- und volkswirtschaftlich ist es auch nicht besonders wichtig, ob eine Mutter zu Hause mit ihrem Baby unglücklich ist. Anstatt Mütter und junge Eltern in Seminaren oder Broschüren darauf vorzubereiten, dass die erste Zeit mit einem Säugling – neben den schönen Momenten – vor allem durch einen mitunter Jahre andauernden Schlafentzug, viel Kindergeschrei und den Verlust der persönlichen Autonomie gekennzeichnet ist, wird in der medialen Darstellung von »Flitterwochen mit dem Baby« gesäuselt. Die häufig gar nicht erfüllbaren, enorm hohen Ansprüche moderner Frauen an sich selbst, das ständige Scheitern an diesen und die darauf folgenden Insuffizienzgefühle begünstigen nicht selten die Entstehung einer Anpassungsstörung an die neue Situation mit einem Kind, was eine Depression zur Folge haben kann. Glücklicherweise sind postpartale Depressionen, anders als Altersdepressionen, mittlerweile sehr gut behandelbar. Am wirksamsten hat sich dabei eine Kombination aus Psychotherapie und Psychopharmaka erwiesen.

Von linker Seite allerdings steht die Psychotherapie, und die Pharmakotherapie sowieso, oftmals im Verdacht, zusammen mit der Psychologie als »Herrschaftswissenschaft« die Menschen nur wieder »fit für den Markt« machen zu wollen. In der Kritik, dass es doch die kranke Gesellschaft sei, die Neurosen und andere psychische Störungen bei den Menschen hervorbrächte, finden die Skeptiker bei Theodor W. Adorno ihre stärksten Argumente. Adornos Ansicht, derzufolge es keine richtige Psychotherapie im Falschen geben könne und nach der noch die gelungenste Kur das Stigma des Beschädigten trage, kann getrost in diesem Punkt als eine Alles-oder-nichts-Position beschrieben werden. »Indem der Geheilte dem irren Ganzen sich anähnelt, wird er erst recht krank, ohne dass doch der, dem die Heilung misslingt, darum gesünder wäre«, schreibt er in »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie«. Sigmund Freud dagegen hatte einen geringeren Anspruch an die Psychoanalyse als Therapieform. Er wollte lediglich hysterisches Elend in gemeines Unglück verwandeln, denn mit einem wieder genesenen Seelenleben könnten sich die Menschen seiner Ansicht nach besser gegen das Unglück der Welt zur Wehr setzen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. In einem ganz essentiellen Sinne wieder handlungsfähig zu werden, ein Gespür für die eigenen Grenzen zu entdecken, um mit den Zumutungen dieser Gesellschaft individuell besser umgehen zu können – darum geht es wohl in jeder Psychotherapie. Dass dadurch auch eine bessere Anpassung an eine »kranke«, kapitalistische Gesellschaft erreicht wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Der Umkehrschluss aber, dass das neurotische Elend in Form einer Depression einen »Stachel« gegen die Gesellschaft oder gar ein revolutionäres Moment darstellen könnte, erscheint absurd, handelt es sich doch bei Depression und Burn-out um äußerst schwerwiegende Erkrankungen, die unbehandelt schnell chronisch werden und mit einer hohen Suizidgefahr einhergehen. In ihren sozialen Auswirkungen gefährden sie die Beziehungen der Betroffenen, ihre sozialen Kontakte und häufig auch den Arbeitsplatz. Deshalb muss jede schwere Depression unbedingt behandelt werden – nicht in erster Linie zum Wohle der Unternehmen.