Die türkischen Generäle gehen, die neue islamisch-konservative Elite kommt

Nie wieder putschen

Ende Juli trat die türkische Militärführung zurück, ihr werden Umsturzpläne vorgeworfen. Im Hintergrund findet ein Machtkampf statt. Die islamisch-konservative Regierung möchte die Herrschaft der alten Oligarchie brechen.

Die Genossen Generäle sind endlich im Ruhestand. Und das auf eigenes Betreiben, spotteten vor allem die linksliberalen Journalisten in der Türkei, nachdem die Militärführung am 29. Juli geschlossen zurückgetreten war. Mitleid hat niemand mit den offensichtlich Geschassten, denn sie waren niemals die Garanten für Demokratie und Frieden im Land. Deshalb betrachtet sogar Burçak Yılmaz, Industriedesignerin und Tochter eines pensionierten Militärarztes, den Rücktritt als positive Entwicklung. »Selbst meinem Vater, der schon lange nicht mehr bei der Truppe ist, hatten diese Generäle und ihr Umfeld schon einen Posten im Gesundheitswesen an­geboten, den er nach dem Putsch einnehmen sollte«, erzählt sie lebhaft am Rande einer Demons­tration gegen die islamisch-konservative Stadtverwaltung des Istanbuler Ausgehviertels Beyoglu. Das Ordnungsamt verbietet dort vielen Kneipenbesitzern, im Ramadan Tische und Stühle vor ihre Lokale zu stellen. »Ich bin gegen diesen Terror der Frömmler«, sagt Burçak Yılmaz. »Aber ich bin auch nicht für einen Machtmissbrauch der Armee.«
Derzeit sitzen rund 250 Generäle, Admiräle und weitere hohe Offiziere der türkischen Streitkräfte in Untersuchungshaft. Ihnen werden Verschwörungsaktivitäten vorgeworfen. Es geht um Pläne, die Regierung zu stürzen, aber auch um Amtsmissbrauch bei der Terrorbekämpfung, gezielte Desinformation der Zivilgesellschaft, illegale Waffenschiebereien, Auftragsattentate und vieles mehr. Betroffen von den Ermittlungen und Verhaftungswellen der vergangenen vier Jahre sind Politiker, Staatsbürokraten, Geschäftsleute, Journalisten und Offiziere, ermittelt wird mittlerweile gegen ein Viertel des höheren Offizierscorps der Türkei. Der Prozess bezieht sich auf tatsächliche Missstände, der türkischen Regierung wird aber auch vorgeworfen, sich gleichzeitig politischer Gegner entledigen zu wollen.

Die Generäle dementieren Umsturzpläne vehement und bezeichnen entsprechende Behauptungen als ein Komplott der islamisch-konservativen Regierung. Aber selbst Celal Ülger, Verteidiger der Generäle in den Gerichtsverfahren, gibt unverhohlen zu, dass dem Generalstab angeblich nur zwei Möglichkeiten geblieben wären. »Entweder sie hätten putschen müssen, oder zurücktreten, um ein Zeichen des Protests zu setzen«, sagt er. Diese Logik leuchtet nicht wirklich ein, denn es gibt keinerlei Gründe, eine Militärregierung in der Türkei zu errichten. Dass Mitglieder der Streitkräfte sich für illegale Aktivitäten verantworten müssen, ist jedoch neu. Die nach dem Militärputsch von 1980 zwei Jahre lang amtierende Militärregierung unter General Kenan Evren installierte eine Verfassung voller undemokratischer Regelungen. Gleichzeitig etablierten sich in vielen wichtigen Ämtern der Staatsbürokratie, der Justiz und der Politik dem Militär nahestehende Personen. Seit der Republikgründung 1923 garantierte die Verfassung, die laizistische Demokratie gegen Umsturzpläne von Fundamentalisten und Seperatisten zu schützen.
Die Geschichte des modernen türkischen Militärs beginnt am Ende des Ersten Weltkriegs. Das Osmanische Reich brach zusammen, nachdem das bereits geschwächte Sultanat noch auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg gezogen war. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde das türkische Kernland von Briten, Franzosen, Italienern und Griechen besetzt, die osmanische Armee wurde aufgelöst. Mustafa Kemal Pascha, später Atatürk genannt, der siegreiche Oberkommandierende im Türkischen Befreiungskrieg im Jahre 1922, formierte ein Jahr nach der Gründung der Republik die Streitkräfte neu und wurde der erste Präsident der Türkei. Vor allem die Trennung von Staat und Religion sollte wegen dieser historischen Erfahrung vom Generalstab garantiert werden. Die Verfassung gestattete den Generäle einen Putsch, falls das politische System der Türkei bedroht war.
Im Rahmen der auch auf Druck der EU verabschiedeten Reformen verschwanden die Staats­sicherheitsgerichte im Jahr 2004. Die türkische Regierung sorgte durch weitere Reformen dafür, dass Mitglieder der Streitkräfte auch von Zivilgerichten angeklagt werden dürfen. Bis dahin saßen Offiziere auf den Richterstühlen der berüchtigten Staatssicherheitsgerichte. Dort wurden viele politische Prozesse geführt, etwa der gegen die Abgeordneten der prokurdischen DEP-Partei, Leyla Zana, Selim Sadak, Orhan Dogan und Hatip Dicle. Sie wurden 1994 wegen Landesverrats und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu je 15 Jahren Haft verurteilt. Die Politiker hatten sicherlich Verbindungen zur prokurdischen PKK. Doch der Prozess basierte auf vielen umstrittenen Beweisen und inszenierten Zeugenaussagen. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss veröffentlichte im April 1997 in diesem Zusammenhang einen Bericht, demzufolge Staatsorgane die Grauen Wölfe instrumentalisiert hatten, um schon in den siebziger Jahren gewaltsame Konflikte zwischen linken und rechten Gruppen zu provozieren. Das trug zur politischen Instabilität und zur Schaffung der Bedingungen für den Militärputsch von 1980 bei, der eine proamerikanische Regierung an die Macht brachte. Der ehemalige Staats- und Ministerpräsident Turgut Özal tat alles, was die US-Regierung und die Generäle ihm befahlen.
In den neunziger Jahren begann die Ministerpräsidentin Tansu Çiller einen ihr politisch nützlichen Staat im Staate aufzubauen, indem sie Personal aus dem Sicherheitsapparat, das illegale Aktivitäten gegen Oppositionelle unterstützte, in ihre Partei berief. Der ehemalige Generalstabschef Dogan Güres und der Polizeichef Mehmet Agar saßen im Parlament. Geschürt von vielen durch die Kontraguerilla verübten Menschenrechtsverletzungen eskalierten die Konflikte um die Kurdenfrage. Tausende Menschen verschwanden. Oftmals bediente sich der Sicherheitsapparat ehemaliger Anhänger der PKK oder der islamis­tischen Hizbollah als Attentäter und ließ bekannte und beliebte kurdische Persönlichkeiten wie den Schriftsteller Musa Anter töten. Der 72jährige wurde am 20. September 1992 in Diyarbakır entführt und später erschossen. Das ehemalige PKK-Mitglied Abdülkadir Aygan war einer der Entführer. Er floh später nach Schweden und berichtete prokurdischen Medien, dass die Kontraguerillaeinheit Jitem hinter der Ermordung Musa Anters stecke.

Was zurzeit den Generälen passiert, ähnelt ironischerweise deren eigenem Vorgehen im Prozess gegen die kurdischen Abgeordneten. Tatsächliche Straftatbestände werden mit vielen dubiosen Indizien vermengt. Die Verteidigung versucht in den verschiedenen Prozessen, gefälschte Beweismaterialien zu enttarnen. Den Eindruck, dass die Angeklagten unschuldig sind, kann sie trotzdem nicht erwecken. Denn viele Anklagepunkte sind plausibel. Bedrohlich für die türkische Demokratie ist nur, dass auch kritische Stimmen mundtot gemacht werden. Der Journalist Ahmet Sık etwa arbeitete gerade an einem Buch über den Einfluss des Islamistenführers Fethullah Gülen auf den Polizeiapparat. Das Buch beschreibt, wie Anhänger von Gülen seit Mitte der achtziger Jahre systematisch die Polizei unterwandert haben. Kurz vor der Veröffentlichung wurde der Journalist verhaftet, das Manuskript seines Buches wurde von der Polizei auf der Festplatte gelöscht.
Vor den Rücktritten hatte es Gespräche zwischen der Militärspitze und der Regierung gegeben. Der erst 2010 ernannte ehemalige General­stabschef Isık Kosaner hatte versucht, für 42 in Untersuchungshaft sitzende Offiziere eine reguläre Beförderung auszuhandeln. Doch die Beförderung blieb aus, stattdessen ordnete die Staatsanwaltschaft am Freitag vergangener Woche neue Verhaftungen von Offizieren an, die im Rahmen ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit ­regierungskritische Websites eingerichtet haben sollen. Kosaner, sowie die Kommandanten der Landstreitkräfte, der Marine und der Luftwaffe – Erdal Ceylanoglu, Esref Ugur Yigit und Hasan Aksay – traten daraufhin zurück. Übrig blieb von der Militärspitze nur noch der Kommandant der paramilitärischen Gendarmerie, Necdet Özel, der eine Woche später zum Generalstabschef ernannt wurde. Die Reaktionen auf den Rücktritt der Generäle fielen gemäßigt aus. Nur der Vorsitzende der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, sprach am Samstag von einer Staatskrise.

Knapp eine Woche nach dem Rücktritt der Militärführung hat das Land einen neuen Generalstab. Neben Necdet Özel gehören dem neuen Führungsgremium die Kommandeure Mehmet Erten (Luftwaffe), Hayri Kıvrıkoglu (Heer), Emin Murat Bilgel (Marine) und Bekir Kalyoncu (Gendarmerie) an. Die neue Besetzung des Generalstabs war in einer Sitzung des Hohen Militärrats seit Montag vergangener Woche unter Führung von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan erörtert worden. Die Regierung hat im Machtkampf mit dem Militär einen großen Erfolg errungen. Es wird jetzt in den kommenden Monaten darum gehen, die Verfassung zu ändern. Unter anderem sollen der Generalstab dem Verteidigungsministerium untergeordnet und die noch existierenden Militärgerichte abgeschafft werden. Sie sind bislang für Straftaten von Angehörigen der Streitkräfte zuständig, führen aber auch Prozesse gegen Kriegsdienstverweigerer. Die türkische Regierung plant die Abschaffung des Wehrdienstes. Das Heer soll verkleinert werden, doch ist der Aufbau von Polizeistreitkräften geplant, die auch im »Antiterrorkampf« eingesetzt werden sollen. Dies ist sicher nicht der Aufbau einer »Armee islamistischer Soldaten«, über den die Welt fabulierte. Aber es ist der Anfang einer Demontage der Macht des Militärs. Diese Macht beruhte auf der Rolle der Streitkräfte bei der Staatsbildung und ihrer Möglichkeit, zu putschen, falls sie das polistische System bedroht sahen.
Dass dies sich nun ändern soll, ist im Sinne großer Bevölkerungsschichten und steht im Einklang mit den Forderungen der EU. Vor allem angesichts der Erfahrung, dass in der Vergangenheit politische Konflikte geschürt wurden, um die Macht der Generäle zu festigen. Regierungschef Erdogan, der den Staatspräsidenten Abdullah Gül 2014 im Amt beerben möchte, scheint derzeit jedoch eher ein autoritärer Führer als der Wegbereiter einer demokratischen Türkei zu sein.